„Made in Britain“
Die Geburt eines „adjektivischen“ Muslims?
Die erste große Einwanderungswelle von Muslimen nach Britannien erfolgte in den 1960er Jahren, und man kann sagen, dass inzwischen drei Generationen von Muslimen hier leben. Wie bewegen sich die verschiedenen Generationen innerhalb von drei unterschiedlichen religiösen und gesellschaftlichen Welten? 1. Der Welt des traditionellen Islam, der aus dem Heimatland ihrer Familie importiert wurde; 2. Ausdrucksformen des Islam, die aus der weltweiten Gemeinschaft der Muslime – der umma – bezogen werden und heutzutage per Mausklick überall zugänglich sind; 3. Britannien selbst, wo innerhalb einer neuen Generation von Akademikern und Hochqualifizierten viele nach neuen und weiten Lesarten des Islam suchen, die mit den Erfahrungen vereinbar sind, die sie im Leben tatsächlich machen. Eine Minderheit entscheidet sich für die Perspektive gewaltbereiter dschihadistischer Salafiten bzw. die des Islamischen Staats.2
Die meisten Migranten der ersten Generation, die mehrheitlich aus ländlichen Gegenden Südasiens stammten, gehörten verschiedenen muslimischen Bevölkerungsgruppen an, in denen häufig Kultur, Religion und Volkszugehörigkeit miteinander verschmolzen. Für viele ihrer Kinder und Enkel funktioniert das so nicht mehr. Sie werden in der Schule oder am Arbeitsplatz mit Fragen zu ihrer Religion konfrontiert. Besonders seit dem 11. September 2001, den Terroranschlägen in London am 7. Juli 2005 und jetzt wegen des Islamischen Staats müssen sie reflektierter und sprachfähiger werden. Auch können wir eine Verschiebung in der Einstellung zur Gesamtgesellschaft von einer Generation zur nächsten beobachten: von Kontaktvermeidung zu gesellschaftlicher Teilnahme.
Es ist klar, dass die muslimische Welt derzeit vielfältige Krisen durchmacht, und die britischen muslimischen Gemeinschaften sind aufgrund ihres transnationalen Charakters nicht immun gegen diese Krisen.3 Krisen können Offenheit und Selbstkritik bewirken, aber auch Verteidigungshaltung und Verleugnung. Und es besteht die Notwendigkeit einer Kontextualisierung des Islam in Britannien.4
Es ist offensichtlich, dass Muslime nicht alle auf eine einzige Art religiös sind und ihr Leben nicht auf die gleiche Weise vom Islam bestimmt wird. Eine neuere Studie, die sich mit der Teilnahme junger britischer Muslime am politischen Leben befasste, hat vier verschiedene Typen von Muslimen ermittelt: 1. diejenigen, die ihre muslimische Identität herunterspielen und nur eine symbolische ethnisch-religiöse Identität beibehalten; 2. Muslime mit einer kosmopolitischen, internationalistischen und multikulturellen Identität; 3. solche mit einer doppelten Identität: Sie sehen sich selbst als britische Muslime (die größte einzelne Gruppe); 4. eine kleine Gruppe von Muslimen, die sich in erster Linie als Muslime und bestenfalls in zweiter Linie und aus rein pragmatischen Gründen als Briten verstehen; ihre emotionale Bindung an Britannien ist gering.5
Die muslimische religiöse Landschaft verändert sich
Der „Muslim Council of Britain“ (MCB) hat 2015 eine wichtige Studie veröffentlicht, „British Muslims in Numbers“6, die von einer Soziologin (Universität Oxford) erstellt wurde. Sie bietet Datenmaterial, das ein differenziertes Bild zeichnet – sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht.
Demografie, Altersprofil und Volkszugehörigkeit: Die Anzahl der Muslime ist zwischen 2001 und 2011 von 1,55 Millionen auf 2,71 Millionen gestiegen (davon leben 77 000 in Schottland und 3800 in Nordirland). Der Anteil an der Gesamtbevölkerung beträgt 4,8 %, aber 8,1 % aller Kinder im schulpflichtigen Alter (5 bis 15 Jahre) sind Muslime. 33 % der Muslime sind 15 Jahre oder jünger (Gesamtbevölkerung: 19 %). Der Altersdurchschnitt liegt bei 25 Jahren (Gesamtbevölkerung: 40). 47 % der Muslime wurden im Vereinigten Königreich geboren, 68 % haben Wurzeln in Südasien. Mehr als 75 % leben in den Ballungszentren im Großraum London sowie in den West Midlands, in Nordwestengland und in der Region „Yorkshire and the Humber“.
Bildung und sozioökonomisches Profil: Der Anteil der Muslime in hochqualifizierten Berufen liegt bei 5,5 % (Gesamtbevölkerung: 7,6 %). Der Anteil der Muslime (über 16 Jahre) mit einem Studienabschluss oder noch höherer Qualifizierung ist ähnlich wie in der Gesamtbevölkerung (24 % bzw. 27 %). 43 % von 330 000 Vollzeitstudenten sind weiblich. Der Anteil derjenigen ohne Berufsausbildung hat sich zwischen 2001 und 2011 von 39 % auf 26 % reduziert. Nur wenige Muslime absolvieren eine Lehre: 0,7 % (Gesamtbevölkerung: 3,6 %) der 16- bis 24-Jährigen. 18 % der muslimischen Frauen zwischen 16 und 74 Jahren sind Hausfrauen (Gesamtbevölkerung: 6 %).
Überraschende Ergebnisse: Mehr als ein Fünftel (21,3 %) der Muslime zwischen 16 und 74 Jahren hat nie gearbeitet (ohne Einbeziehung von Studenten). Bei der Gesamtbevölkerung sind das nur 4 %. Zwischen 2001 und 2011 wuchs der Anteil der Muslime, die in den 10 % am stärksten sozial benachteiligten Kommunen leben, von 33 % auf 46 % (1,22 Millionen). Es gibt etwa 260 000 muslimische Haushalte mit verheirateten Partnern und minderjährigen Kindern (35 %; Gesamtbevölkerung: 15 %). Aber es gibt unter den Muslimen auch ungefähr 77 000 Alleinerziehende und 135 000 Single-Haushalte. 2011 waren 13 % der Gefängnisinsassen Muslime.
Eine von Frauen geleitete Moschee?
Der „Bradford Muslim Women’s Council“ (MWC) sorgte im Frühjahr 2015 für erhebliches Medieninteresse mit dem Vorschlag, die erste vollständig von Frauen geleitete Moscheegemeinde im Vereinigten Königreich und ein Kompetenzzentrum für muslimische Frauen ins Leben zu rufen. Die öffentliche Vorstellung des Projekts im August 2015 war klug vorbereitet: Es waren drei Redner eingeladen, um den Vorschlag zu empfehlen und zu verteidigen: Scheich Akram Nadwi aus Cambridge7, ein angesehener Traditionalist; Shuruq Naguib, eine junge Wissenschaftlerin, Ägypterin, die an der Universität von Lancaster lehrt; und Dilwar Hussain, ein Politikberater aus Leicester, Vorsitzender der Reforminitiative „New Horizons in British Islam“.
Dieser Vorstoß ist ein weiterer willkommener Ausdruck einer neuen Generation intelligenter und hoch qualifizierter Muslime, die auf kommunaler und regionaler Ebene Organisationen voranbringen, die sich kritisch mit ihren eigenen Gemeinschaften und der breiteren Gesellschaft auseinandersetzen. In der Tat gab es 2010 – ebenfalls von Bradford ausgehend – schon ein Vorgängernetzwerk des MWC, das „Professional Muslim Institute“ (PMI), mit dem Ziel, beruflich hoch qualifizierte Muslime in der gesamten Region zu unterstützen und sich dem Problem zuzuwenden, dass es der regionalen muslimischen Community an einer nennenswerten Führung mangelt.8 YouTube-Videos lassen die Themen erkennen, die der MWC anpackt: vom Thema „sexuelle Übergriffe im öffentlichen Raum“ bis zu einer Präsentation der fesselnden Autobiografie des Liverpooler Muslims Zia Chaudhry („Just Your Average Muslim“, 2013).
Allerdings hat der MWC mehr getan, als einen Beitrag zum aufkeimenden muslimischen Sektor gemeinnütziger Organisationen zu leisten. Er ist bestrebt, die Aufmerksamkeit auf einige der beunruhigendsten Themen zu lenken, die die muslimische Welt heute bewegen, und einen zukunftsfähigen Weg zu bahnen.
Der Umgang mit erdbebenähnlichen Veränderungen in der muslimischen Welt
Mehr Sichtbarkeit und Einfluss von Frauen: Für den MWC in Bradford arbeiten einige der fähigsten und erfolgreichsten muslimischen Frauen der Stadt: Eine leitete zehn Jahre lang ein mehrere Millionen Pfund schweres Forschungs- und Entwicklungsprojekt der Joseph-Rowntree-Stiftung; eine andere war die ranghöchste Muslimin in der Stadtverwaltung; eine dritte ist eine ortsansässige Schriftstellerin, die gerade einen Preis für ihre Theaterstücke gewonnen hat; eine vierte ist Mitglied des nationalen christlich-muslimischen Forums und hat einen Master-Abschluss des angesehenen Fachbereichs „Peace Studies“ der Universität Bradford. Das Hauptreferat auf ihrer Konferenz „Daughters of Eve“ (2011) hielt die pakistanisch-amerikanische muslimische Theologin Riffat Hassan, die als Pionierin eines progressiven Islam gilt.
Zum MWC gehören britische Musliminnen, die in einer Gesellschaft leben, in der Religionsfreiheit garantiert ist. Das bedeutet – mit den Worten Mona Siddiquis, der ersten Professorin für islamische Theologie und interreligiöse Beziehungen an der Universität von Edinburgh –, dass Religionszugehörigkeit nicht länger ein Schicksal ist, das sich bei der Geburt entscheidet, sondern für viele Gegenstand einer bewussten Wahl.9 Diese Frauen ernten die Früchte eines sich über mehrere Generationen erstreckenden Kampfes von Frauen. Sie profitieren von dem in der Gesellschaft erreichten Niveau der Gleichberechtigung der Geschlechter, und einige sind bestürzt, wenn ihre eigenen Gemeinschaften – aus religiösen und kulturellen Gründen – solchen Normen mit Widerwillen zu begegnen scheinen. So suchen sie nach weiten, emanzipatorische Impulse aufnehmenden Interpretationen ihrer Tradition.
Das ist keineswegs einfach, was auch in Mona Siddiquis Autobiografie deutlich wird. Sie äußert sich besorgt darüber, dass die Trennung der Geschlechter bei vielen Veranstaltungen immer üblicher werde, wobei hijab oder niqab als Ausdruck einer nicht hinterfragbaren Frömmigkeit gelten. Indem eine solche Kleidung ein islamisches Anderssein betone, habe sie eine Kultur der Verteidigung und des Für-Sich-Seins geschaffen. Siddiqui sagt außerdem: Angesichts dessen, dass muslimische Frauen so oft Opfer von Ungerechtigkeit seien und ihre Rechte in verschiedenen Teilen der Welt missachtet werden, sei es aus ihrer Sicht sehr bedauerlich, wenn das Thema „Beziehungen zwischen den Geschlechtern“ auf Kleidungsfragen reduziert werde.
Infragestellung und Pluralisierung religiöser Autorität: Siddiqui ist sich der vielen Gründe des weltweiten Wiedererstarkens eines konservativen Islam bewusst, aber der Grund, der sie am meisten beunruhigt, ist die anhaltende intellektuelle Krise. Sie beruft sich auf den 2010 verstorbenen algerischen Gelehrten Mohammed Arkoun, Professor an der Sorbonne in Paris, Autor des provokanten Werks „The Unthought in Contemporary Islamic Thought“. Darin hat er dargelegt, dass die muslimische Welt mit den geistigen, politischen und wissenschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrhunderte einfach nicht Schritt gehalten habe. Die traditionellen religiösen Führer hätten sich in ihren religiösen Einrichtungen verschanzt, unfähig, die Realität zutreffend zu beschreiben, geschweige denn, sie aus islamischer Sicht zu interpretieren.
Eine Infragestellung vieler Aspekte der üblichen Lehre und Praxis des Islam gab es schon in der Zeit vor der Kolonialisierung. Im 18. Jahrhundert kamen in Indien, in Zentralarabien, in Westafrika und im Jemen machtvolle Kräfte auf, die eine Erneuerung des Islam anstrebten, und zwar im Sinne einer Rückkehr zu dem unverfälschten Glauben der salaf, der Generation der frühen, gerechten Muslime.10 In Indien war die Bewegung – unter Führung von Schah Wali Allah (gest. 1762) – nicht militant und widmete sich hauptsächlich der Bildung. Bei zwei anderen führenden Vertretern der islamischen Erneuerungsbewegung war das nicht so: bei ibn ‘Abd al-Wahhab (gest. 1792), der in Zentralarabien wirkte, und bei Usman Dan Fodio (gest. 1817), der im Gebiet des heutigen nördlichen Nigeria tätig war. Beide sahen die Reinigung des Islam als einen Auftrag, der unter Anwendung von Gewalt ausgeführt werden muss, und sich selbst in genau der gleichen Rolle wie die Gefährten des Propheten vor mehr als tausend Jahren: als einsame Boten des einen Gottes, die Gottes Wort mit Waffengewalt in ihre heidnische Umgebung brachten (wobei sie Mohammed falsch wiedergaben). Dan Fodio wurde sogar zum Kalifen des neuen islamischen Staates Sokoto ausgerufen.
Die Herausforderungen, mit denen die muslimische Welt konfrontiert war, vervielfältigten und verschärften sich durch den Kolonialismus. In dieser Zeit mussten die muslimischen Denker – aus einer Position der Schwäche heraus – eine Situation bewältigen, in der sie mit „einer stärkeren Kultur, aber auch mit einer neuen Phase in der Geschichte der Menschheit konfrontiert waren“ (Brown). Eine der unheilvollen Folgen dieses Zusammentreffens war die Aufspaltung der muslimischen Bildung in zwei Systeme: 1. die traditionellen islamischen „Seminare“ – dar al ‘uloom – in denen die ‘ulama, ausgebildet wurden, die religiösen Gelehrten, die Moscheegemeinden und andere muslimische Einrichtungen leiteten.2. die westlich geprägten Hochschulen und Universitäten, an denen die muslimischen Eliten moderne Fachrichtungen studierten. In einer bahnbrechenden Veröffentlichung hat Fazlur Rahman („Islam and Modernity“)11 schon 1982 die Dringlichkeit aufgezeigt, diesen Graben zu überbrücken, sowie Möglichkeiten, wie das geschehen könnte. Weil das aber bis heute noch nicht gelungen ist, wurde 2012 innerhalb des Institute of Education (London University) das „Centre for Research and Evaluation in Muslim Education“ gegründet.
Noch immer scheint das Verhältnis zwischen den beiden Bildungssystemen von gegenseitiger Feindschaft geprägt zu sein. Das hat dazu geführt, dass eine oberflächliche, selbstgefällige Apologetik die Oberhand gewonnen hat, die von islamistischen und salafitischen Muslimen weltweit hervorgebracht wurde. Sie hat eine ernsthafte wissenschaftliche Arbeit verdrängt und die einst reichen Traditionen der islamischen Theologie ausgedünnt.12
Ein Beispiel: Der Südafrikaner Ebrahim Moosa, einer der führenden islamischen Gelehrten Amerikas, wurde ursprünglich in einem traditionellen Deobandi-Seminar in Indien ausgebildet. (Die Deobandi betreiben die Mehrheit der islamischen Ausbildungseinrichtungen im Vereinigten Königreich.) Kürzlich kehrte er nach Indien zurück, um zu untersuchen, ob sich der Lehrplan solcher Seminare während der 40 Jahre seit seinem Weggang verändert hat. Er kommt zu dem Ergebnis, dass kein einziges der Seminare die modernen Wissenschaften – Sozialwissenschaften, Geisteswissenschaften – einbezieht und mit den grundlegenden traditionellen Lehrstoffen ins Gespräch bringt. Als Grund für die Bedenken, die solchen neuen Fachrichtungen entgegengebracht werden, sieht Moosa die Angst und den Abscheu vor einem materialistisch geprägten Westen, dessen wissenschaftliche Traditionen als vergiftet gelten.13
Sich verschärfende innermuslimische Spannungen: In der Vergangenheit waren Konflikte zwischen muslimischen Richtungen ein Tabuthema. Inzwischen wird von muslimischer Seite jedoch eingeräumt, dass es sie gibt. In der Januarausgabe 2016 des politischen Monatsmagazins „Prospect“ macht der für Kunst und Literatur zuständige Redakteur Sameer Rahim in einem Beitrag mit dem Titel „Who Speaks for Islam in Britain?“ darauf aufmerksam, dass der sunnitische Islam eine dezentralisierte Religion ohne offiziell legitimierte Leitungsstruktur sei. Die meisten Moscheegemeinden hätten sich um einzelne ethnische Gruppen herum gebildet, die kaum miteinander sprechen würden. Ein ganzes Heft der Zeitschrift „Critical Muslim“ (April-Juni 2014, Titel: „Sects“) spürt dem Thema „Feindseligkeit zwischen muslimischen Gruppierungen in Vergangenheit und Gegenwart“ nach. In einem ausgezeichneten Blog weist ein Bradforder Stadtverordneter im Zusammenhang mit dem oben erwähnten Vorschlag des MWC, eine von Frauen geleitete Moscheegemeinde zu gründen, darauf hin, dass die Leiter der Bradforder Moschee hauptsächlich Männer der ersten Generation seien, die den Geist bzw. die pakistanische Kultur der Gründungszeit verkörpern. Sie seien in einer Zeit und an einem Ort gefangen, die woandershin gehörten. Die Gemeindeleitung werde durch weltliche Interessen ihres Familienclans bestimmt, durch religiöse Abgrenzung und/oder durch Dogmatismus.14
Diese Beobachtungen werden durch Bemerkungen verstärkt, die kürzlich von muslimischen Gelehrten selbst kamen. Zum einen von Scheich Abdal-Hakim Murad (Timothy Winter), Dekan des Cambridge Muslim College, in einer Podiumsdiskussion zum Thema „Trust in Religious Leadership“ (Veranstalter: Woolf Institute), bei der er gemeinsam mit dem Erzbischof von Canterbury und dem britischen Oberrabbiner auftrat. Als er gefragt wurde, ob für die Muslime ein dem Oberrabbiner vergleichbarer Repräsentant denkbar sei, erläuterte er, dass muslimische Gemeinden noch nicht reif genug dafür seien, jemanden als Repräsentationsfigur zu akzeptieren, der in Bezug auf Lehre oder Herkunft nicht den gleichen Hintergrund habe wie sie selbst.15 Scheich Shams Ad-Duha Muhammad, ein Gelehrter der Deobandi-Bewegung, Direktor des Ebrahim College in Tower Hamlets, stellt im College-Magazin mit Bedauern fest: Obwohl es in einer Weltstadt wie London entscheidend für eine gesunde Entwicklung und das zukünftige Wohl der muslimischen Gemeinden sei, dass sie lernen, mit ihren Unterschieden gut zu leben, spiele dies in dem, was von den meisten Gruppen gelehrt werde, keine wesentliche Rolle. „Gute“ Muslime seien so beschäftigt damit, einander anzugreifen und zu versuchen zu beweisen, dass sie den wahren Islam entdeckt haben, dass nur noch wenig Energie übrig sei, um wichtigere Dinge anzugehen – wie ihre eigene geistige, geistliche und moralische Entwicklung, die Verbreitung der Botschaft des Islam oder die Bekämpfung von Problemen, vor denen die Gemeinde stehe, z. B. Kriminalität, Drogenmissbrauch, Gangs oder der Niedergang der Moral.
Ein einflussreicher sufisch orientierter Muslim betreibt eine sehr hilfreiche Internetseite, auf der die meisten britischen Moscheen aufgelistet sind, die sich aus ethnischen oder anderen Gründen stark von anderen abgrenzen. Er bietet auch engagierte Beiträge über die Ausgrenzungspolitik muslimischer Gruppen, die er für den Ausschluss fähiger Konvertiten von Leitungsfunktionen innerhalb der Moscheegemeinden verantwortlich macht, sowie zum Thema Radikalisierung.16
Frauen in Führungspositionen?In vielen muslimischen Gemeinden gibt es immer noch eine tief verwurzelte Abneigung dagegen zu akzeptieren, dass es legitim ist, dass Frauen Leitungspositionen innehaben oder sich die Leitung mit Männern teilen – sowohl in religiösen als auch in politischen Institutionen. Einer der in dem Blog des Bradforder Stadtverordneten erwähnten Gründe dafür ist, dass patriarchalische Einstellungen weiterhin lebendig sind – eingebettet in die aus dem Herkunftsland mitgebrachte, auf Clan-Zugehörigkeit basierende Politik. 2012 machte es in Bradford ein „Bürgerkrieg“ zwischen den aus Kaschmir stammenden Clans möglich, dass der Politclown George Galloway ins Parlament gewählt wurde.17 Überall da, wo unter den Muslimen eine bestimmte Volkszugehörigkeit dominiert, herrscht dieses Muster – in London trifft das auf die sylhetisprachigen Bengalen im Stadtteil Tower Hamlets zu, aber es ist nicht der Fall in Hackney und Newham, Stadtteile, in denen es unter der muslimischen Bevölkerung eine erhebliche Vielfalt gibt.18
Allerdings waren – mit nur einer Ausnahme – alle muslimischen Parlamentsabgeordneten, die 2015 neu ins Amt kamen, Frauen. Damit sind acht der dreizehn muslimischen Abgeordneten im britischen Parlament weiblich. Wie im Fall von Naz Shahs Wahlsieg in Bradford liegt das allerdings mehr daran, dass die Labour-Partei Frauen aus Quotengründen bevorzugt auf sichere Listenplätze setzt, als daran, dass die aus Kaschmir stammenden Clans sich plötzlich ein anderes Fell übergestreift hätten.
Typisch für die Ansichten örtlicher Imame der Deobandi-Richtung ist die des muslimischen Rechtsexperten Mufti Saiful Islam, der in Bradford zwei Privatschulen betreibt sowie ein nicht als Internat geführtes „Seminar“ für Studenten mit familiären Verpflichtungen. Seine Sichtweise geht aus seinem 2010 veröffentlichten Buch hervor („Your Questions Answered“), von dem 5000 Exemplare gedruckt wurden. Er wird darin gefragt: „Viele muslimische Glaubensschwestern reisen ohne mahram [Person, die sie nicht heiraten dürfen] in ferne Städte und sogar in andere Länder, um zu studieren oder zu arbeiten … Dürfen sie das?“ Die Antwort des Muftis ist eindeutig: Eine Frau dürfe nicht allein reisen, noch nicht einmal auf der Haddsch. Im Vergleich zur Haddsch seien Reisen aus Studien- oder beruflichen Gründen weniger wichtig, denn im Islam liege die Verantwortung für die Versorgung einer Frau vor ihrer Heirat beim Vater und nach der Heirat beim Ehemann. Und es sei Frauen nicht erlaubt, ohne dringenden Grund ihr Haus zu verlassen. Somit dürften sie wegen eines Studiums oder einer Arbeit nicht ohne mahram reisen (S. 244). Der Mufti erinnert seine Leser auch daran, dass es eines der Vorzeichen des Tags des Gerichts Gottes sei, dass sich das geschäftliche Treiben so ausweite, dass Frauen ihren Männern bei der Abwicklung ihrer Geschäfte zur Hand gehen (S. 284).
Solche Ansichten stehen in krassem Gegensatz zu denen Qari Asims, eines jungen Gelehrten der sufischen Barelwi-Bewegung, der außerdem als Rechtsanwalt arbeitet (vgl. imamsonline.com). Er gehört dem Netzwerk des MWC als einer der ortsansässigen Imame an, genießt das Vertrauen der MWC-Musliminnen und wird von ihnen als Redner eingeladen.
„Suchet der Stadt Bestes“
Was die Stärkung der Rolle von Frauen angeht, ist der MWC unnachgiebig, aber er versucht auch, über die tiefen Gräben innerhalb der muslimischen Gemeinden hinweg Brücken zu bauen. Das Kompetenzzentrum des MWC ist teilweise von dem „offenen Haus“ des Londoner „St Ethelburga‘s Centre for Reconciliation and Peace“ inspiriert. Mitglieder des MWC sind seit Langem in vielen Friedensinitiativen in der Stadt engagiert, die vom Bischof, der Polizei oder Professoren des Instituts für „Peace Studies“ der Universität Bradford vorangetrieben wurden. Diese Initiativen reichen von einem London-weiten Netzwerk, das dem Terrorismus entgegenwirken will, über Kurse für junge Gemeindeleiter bis hin zur Beteiligung an einem Friedensnetzwerk von Frauen.
Es wird sich zeigen, ob der MWC – zumindest in seiner Stadt – verhindern kann, dass sich die Gräben vertiefen und Verwerfungen entstehen, wie sie z. B. im 19. Jahrhundert die Auffächerung des Judentums in verschiedene konfessionelle Richtungen überschatteten.
Philip Lewis, Bradford
Anmerkungen
- Vortrag im Rahmen der EZW-Langzeitfortbildung „Curriculum Weltanschauungsfragen“ am 22.9.2016 in London (aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Liebau). Der Untertitel lautet im Original: „The Birth of the Adjectival Muslim?“ „Adjectival Muslim“ meint hier die zunehmende Verfasstheit muslimischer „Konfessionen“ in Britannien (Sufi, Salafisten, Traditionalisten wie Deobandi/Barelwi/Ahl-i Hadtih) neben der bisher bestehenden ethnischen Organisation des Islam nach Herkunftsländern (Anm. d. Ü.). Der englische Text ist abrufbar unter www.mcsci.org.uk/2015/12/11/made-in-britain-the-birth-of-the-adjectival-muslim .
- Vgl. Sam Harris / Maajid Nawaz: Islam and the Future of Tolerance. A Dialogue, Cambridge, Massachusetts, 2015.
- Vgl. Innes Bowen: Medina in Birmingham. Najaf in Brent. Inside British Islam, London 2014.
- Vgl. Contextualising Islam in Britain 2009 (www.exeter.ac.uk/media/universityofexeter/webteam/shared/pdfs/misc/Contextualising_Islam_in_Britain.pdf) und 2012 (www.cis.cam.ac.uk/wp-content/uploads/2016/01/Contextualising-Islam-in-Britian-II.pdf ).
- Vgl. Asma Mustafa: Identity and Political Participation among Young British Muslims, Basingstoke 2015.
- British Muslims in Numbers. A Demographic, Socio-economic and Health Profile of Muslims in Britain Drawing on the 2011 Census (Juni 2015).
- Carla Power hat eine fesselnde Biografie über ihn geschrieben: If the Oceans Were Ink. An Unlikely Friendship and a Journey to the Heart of the Quran, 2015.
- Vgl. Keighley News, 27.3.2010.
- My Way. A Muslim Woman’s Journey, 2015.
- Vgl. Jonathan A. C. Brown: Misquoting Muhammad. The Challenge and Choices of Interpreting the Prophet’s Legacy, London 2014.
- Fazlur Rahman: Islam and Modernity. Transformation of an Intellectual Tradition, Chicago 1982.
- Vgl. Khaled Abou El Fadl: Reasoning with God. Reclaiming Shari’ah in the Modern Age, Lanham 2014.
- Vgl. Ebrahim Moosa: What is a Madrasa?, Edinburgh 2015.
- Vgl. „Muslim women’s mosque“, 1.6.2015, cllrshabbir.blogspot.co.uk.
- Vgl. Church Times, „Christian, Jewish and Muslim panel debate collective mistrust“, 20.11.2015.
Siehe www.Muslimsinbritain.org.
- Vgl. Lewis Baston: The Bradford Earthquake, Democratic Audit, Liverpool 2013; zu Galloway vgl. auch Kai Funkschmidt: Antisemitismus in der britischen Labour-Partei, in: MD 5/2016, 193-195.
- Vgl. Eren Tatari: Muslims in British Local Government, Leiden 2014.