Martin Luther: „Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen“

Ohne Elementarisierungen kommt die christliche Kirche in ihren Handlungsfeldern Predigt, Katechese und Seelsorge nicht aus. Zur Zeit der Reformation waren es vor allem die Katechismen, die im Dienste kontinuierlicher Glaubensaneignung standen, die evangelische Identität in ihren konfessionellen Ausdrucksformen prägten, aufbauten und stärkten. Die Katechismen fassten die „Hauptstücke“ des christlichen Glaubens zusammen: Dekalog, Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Taufe, Abendmahl, Buße und Beichte. Sie gehörten und gehören zu den wirkmächtigsten Texten der Reformation. In Sonderheit gilt dies etwa für den Kleinen Katechismus (1529) von Martin Luther und den Heidelberger Katechismus (1563).

Fraglos stellt der durch weltanschaulichen und religiösen Pluralismus bestimmte heutige Kontext andere und neue Herausforderungen an kirchliches Handeln. Die Aufgabe, den christlichen Glauben zusammenfassend und elementar darzulegen, ist jedoch geblieben. Auch heute werden Katechismen für Jugendliche und Erwachsene herausgegeben. Auch heute geht es darum, Basiswissen zusammenfassend und verständlich zu vermitteln, bis hin zu zielgruppenbezogenen Glaubenskursen, in denen der christliche Glaube erfahrungs- und alltagsbezogen weitergegeben wird. In einer Zeit, in der die christliche Glaubenstradition ihre Selbstverständlichkeit eingebüßt hat, wird die Aufgabe einer dia­logischen und elementaren Vermittlung umso wichtiger.

Wie kaum ein anderer Ausleger hat Luther das erste Gebot vor alle anderen gestellt und unterstrichen, dass die christliche Ethik mit der Wahrnehmung des unverdient Gegebenen beginnt. Das den Menschen beanspruchende und den Dekalog eröffnende göttliche Gebot (2. Mose 20,2f) beginnt mit keinem „Du sollst“. Am Anfang steht kein Aufruf, kein Appell, kein kategorischer Imperativ, vielmehr die Zusage: „Ich bin der Herr, dein Gott.“ Gott redet den Menschen an und schenkt ihm die aus keinen menschlichen Wünschen und Ängsten ableitbare Zusage verlässlicher Gemeinschaft. Der Form nach ist es eine Selbstvorstellung, dem Inhalt nach eine Liebeserklärung. Gott sagt seine Nähe zu und eröffnet den Raum der Freiheit. Die Zusage Gottes und das Vertrauen des Herzens sind die Tür zum Leben im Einklang mit Gottes Willen. Deshalb steht das erste Gebot vor den anderen Geboten. Deshalb ist es die Präambel, das Hauptstück, auf das alles ankommt, wenn Gottes Gebot nicht ein­engendes Gesetz, sondern Einweisung in den Raum der Freiheit sein soll. „Und wie dieses Gebot das allererste, höchste und beste ist, aus welchem die anderen alle fließen …, so ist auch sein Werk (das ist der Glaube oder Zuversicht zu Gottes Huld zu aller Zeit) das allererste, höchste, beste, aus welchem alle anderen fließen …“ Auf die Zuversicht des Herzens kommt es an. Wo Gottes Zusage Gehör und Glauben findet, wird die innere und äußere Verschlossenheit des Menschen aufgebrochen. Wo Gottes Zusage überhört wird, bleibt der Mensch bei sich selbst und kennt das Gebot nur als einschränkendes Gesetz.

Die Einladung zum ungeteilten Vertrauen auf den Schöpfer hat im ersten Gebot eine negative Erläuterung: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ – „Gott oder die Götter?“ Das ist keine religionsgeschichtlich überholte Alternative. Trotz Aufklärung, trotz Religionskritik, trotz Entzauberung und Entmythologisierung sind sie lebendig – die Götter. Ihre Namen mögen sich ändern. Heute heißen sie: Lebenssteigerung, Selbstoptimierung, Sicherheit, Volk, Nation, Wissenschaft, Macht, Konsum, Gesundheit, Karriere, Geld ..., eben „alle Dinge“, die so bestimmend und wichtig werden, dass von ihnen der Sinn des Lebens erwartet wird. „Wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“ (Mt 6,21). In seiner Erklärung zum ersten Gebot im Großen Katechismus sagte es Martin Luther in einer gewagten Formulierung so: „Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und (worauf du dich) verlässest, das ist eigentlich dein Gott.“ Wo das Geschaffene die Bedeutung des Göttlichen erlangt, wird das erste Gebot übertreten. Demnach hat jeder bzw. jede seinen Gott. In diesem Sinn „glaubt“ jeder. Niemand kann darauf verzichten, sein Herz an etwas zu hängen, sein Vertrauen auf etwas zu setzen. Leer bleibt der Platz Nummer eins nie. „Geld und Gut ... das ist der allgemeinste Abgott auf Erden“, heißt es bei Luther in seiner Erklärung zum ersten Gebot im Großen Katechismus. Ist das heute anders? Wir nehmen hin, dass die Börsennachrichten einen zentralen Platz in jeder Nachrichtensendung einnehmen. Wir nehmen hin, dass die Geldwirtschaft den Umfang der Realwirtschaft übersteigt und sich davon abgelöst hat.

Andere Götter waren schon immer verlockend, anziehend, einleuchtend und plausibel. Der eine Gott bleibt angewiesen auf Offenbarung, auf Glauben, auf Zeugen. Das erste Gebot kommt aus der Erfahrung der Verborgenheit Gottes. Soziale Anerkennung, Leistung, Konsum, Gesundheit sind wesentliche und verständliche Ziele und Inhalte unseres Lebens. Die Lebensmittel sind jedoch nicht das Leben. Alles wird falsch, wenn der Lebenssinn aus dem Sichtbaren und Greifbaren erwartet wird. Luthers Erklärung des ersten Gebots weist darauf hin, dass Gott sich in kein festes Bild einfangen lässt, dass er aus falschen Abhängigkeiten herausruft. Das Vertrauen auf Gott hilft, die Prioritäten des Lebens richtig zu setzen. Es hilft, den Aberglauben zu entlarven, der heute viele Namen, Rituale und Anhängerinnen und Anhänger hat. Es stärkt das Urteils- und Unterscheidungsvermögen gegenüber religiösen und weltanschaulichen Ansprüchen. Es befähigt, zwischen wahrer und falscher Religion, zwischen Gott und Abgott zu unterscheiden.

Die Götter, von denen das erste Gebot spricht, waren nie etwas anderes als Mittel menschlicher Existenzsicherung, geboren mal aus Angst, mal aus Hochmut. Immer aber verfehlten sie Gott und zugleich auch den Menschen. Für den Gott, von dem das Alte und Neue Testament sprechen, gab es nie zwingende Beweise. Immer war er der unverfügbare, der verborgene Gott, bis in Jesu Leben, Leiden und Sterben hinein. Biblisch inspirierter Gottesglaube deckt die Zweideutigkeit von Religion auf, auch die der eigenen religiösen Praxis. Die Bibel und die reformatorische Tradition wissen etwas davon, dass auch der religiöse Mensch Gott verfehlen und im Vollzug seiner Religiosität bei sich selbst bleiben oder seine Berufung zur Freiheit verleugnen und verlieren kann. Das reformatorische Lärmen begann mit theologischer Religionskritik, die eine bleibende elementare Aufgabe für Theologie und Kirche darstellt.

Nirgends in der Welt können wir uns bergen, weder in den Dingen noch in uns selbst noch in anderen Menschen. Zum christlichen Leben gehört die ständige Bewegung weg von falschen Zufluchts- und Trostorten, hin zum Schöpfer des Lebens.

Worauf es ankommt, fasst Luther in seiner Erklärung zum ersten Gebot im Kleinen Katechismus in einem Dreiklang so zusammen: „Wir sollen Gott über alle Dinge fürchten, lieben und vertrauen.“


Reinhard Hempelmann