Ehler Voss

Mediales Heilen in Deutschland. Eine Ethnographie

Ehler Voss, Mediales Heilen in Deutschland. Eine Ethnographie, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2011, 416 Seiten, 34,95 Euro.

Ethnologinnen und Ethnologen, die in der vielfach geteilten Formulierung des Ethnologen Karl-Heinz Kohl das sogenannte kulturell Fremde untersuchen, wenden sich in jüngerer Zeit verstärkt dem kulturell Fremden innerhalb der eigenen Lebenswelten zu. Sie suchen oftmals das Fremde und Andere nicht mehr irgendwo weit draußen in der Ferne, sondern in der gewohnten Umwelt, einer Welt, die sich bei genauerem Hinsehen für den Ethnologen als fremder erweist, als man gemeinhin annimmt. Der Ethnologe Ehler Voss stieß auf das für ihn kulturell Fremde sozusagen nebenbei während eines gewöhnlichen Zahnarztbesuchs in Deutschland. Als sich sein behandelnder Arzt nach der Auswertung eines undeutlichen Röntgenbildes auf den Röntgenblick seiner Ehefrau verließ und das dem verblüfften Patienten auch noch beiläufig mitteilte, löste dies bei ihm eine tiefgehende Verwunderung aus (17). Das Erlebnis bildete für Voss den Ausgangspunkt, sich mit Phänomenen medialen Heilens in Deutschland zu befassen. Er entschied sich, im Sinne von George E. Marcus’ multi-sited ethnography, aufzubrechen und ihren Spuren in Deutschland zu folgen (95f).

Zwischen 2003 und 2007 führte er aus teilnehmenden Beobachtungen und Interviews bestehende Feldforschungen durch, um jenseits reduktionistischer Erklärungen Selbstverständnisse der Anbieter medialer Heilungsverfahren zu erheben und darzustellen (18). Das Ergebnis seiner als Dissertation angelegten Studie legt er in dem hier vorgestellten Band vor. Er stellt und beantwortet, dies sei hier schon angekündigt, keine quantitativ ausgerichteten Fragen. Es geht dem Autor nicht darum, wie verbreitet mediales Heilen in Deutschland ist. Angaben zur Zahl der Anbieter und Klienten finden sich in dieser Studie somit nicht. Auch die Frage, ob Heilerfolge statistisch nachweisbar sind, steht eindeutig außerhalb der Fragestellung dieser Studie (103).

Das Bemühen, Selbstverständnisse der Anbieterinnen und Anbieter darzustellen und herauszuarbeiten, basiert gänzlich auf qualitativen Erhebungsmethoden, und so ist der Untertitel „Eine Ethnographie“ mit Bedacht gewählt. Der Autor begründet die von ihm diagnostizierte kulturelle Fremdheit wohlweislich nicht über das Ausmaß der Verbreitung dieser Phänomene in Deutschland, sondern dadurch, dass mediales Heilen, im Sinne Pierre Bourdieus, der doxa des staatlichen Gesundheitswesens und der naturwissenschaftlich legitimierten universitären Medizin zuwiderläuft und sich in den Worten des Autors „abseits offizieller Anerkennung durch staatliche, kirchliche oder medizinische Institutionen mehr oder weniger im Verborgenen bewegt“ (99, 18).

Im Rahmen seiner Spurensuche im Feld, die sich auf Deutschland beschränkt, trifft er auf Anbieter unterschiedlicher nationaler und sozialer Herkunft, die sich verschiedener Heilungsmethoden bedienen und teilweise in persona mehrere Methoden gleichzeitig bzw. nebeneinander anbieten. Im Mittelpunkt der Studie stehen diverse Anbieter neoschamanischer Angebote, darunter auch von Core-Schamanismus-Seminaren nach Michael Harner, Reiki-Praktizierende, brasilianische Geistmedien, Familiensteller mit unterschiedlicher Nähe zu Bert Hellinger und nicht zuletzt Mitglieder des Bruno-Gröning-Freundeskreises. Der Autor entfaltet somit einen bunten Strauß von Perspektiven. Bei dieser Aufzählung fällt auf, dass nicht alle der genannten Heilungsmethoden üblicherweise mit medialem Heilen assoziiert werden, wie etwa Familienstellen nach und, man möchte ergänzen, jenseits von Hellinger. Es ist in diesem Sinne auch konsequent, wenn der Autor in seiner Studie relativierend von Heilungsansätzen mit medialen Aspekten spricht und nicht starr auf den Begriff des Mediums fixiert ist (42). Den Begriff des Mediums will der Autor somit nicht auf Personen beschränkt sehen, die Geistwesen, insbesondere Totengeister, inkorporieren oder in anderer Weise, wie durch das Gläserrücken des Kardec’schen Spiritismus, präsent machen.

Der Umstand, dass viele der Anbieter mehrere Methoden praktizieren und oftmals selbst Klienten anderer Anbieter sind, ermöglicht es ihm, Netzwerken zu folgen und gleichzeitig von einer Methode zur nächsten zu wechseln. Bot ihm ein Anbieter mehrere Methoden an, ergriff er, bildlich gesprochen, die Möglichkeit, einen neuen Faden aufzunehmen. Voss dringt mit dieser Vorgehensweise in die ihm fremde Welt ein und trifft auf Personen, die unterschiedliche Positionen innerhalb des Feldes einnehmen. So begegnet er zentralen Gestalten wie Paul Uccusic, aber auch weniger etablierten Anbietern mit geringer Klientenzahl und wenig Außenwirkung (140ff).

Es gelingt dem Autor, in dem heterogenen Feld anzutreffende Selbstverständnisse von Anbietern im weitesten Sinne medialer Heilungsmethoden darzulegen. Dabei besteht sein Verdienst darin aufzuzeigen, dass diese sich vielfach im Fluss befinden und nicht abgeschlossen sind. Er stellt auch eindrücklich dar, wie sich die Selbstpräsentation der Anbieter ihm gegenüber durch den Aufbau von wechselseitigem Vertrauen oder die Ausbildung von Misstrauen verändert. Letztlich zeigt die Studie, dass viele der untersuchten Personen sich in einem Prozess der Suche befinden, in dem sie selbst als Anbieter agieren, aber auch bei anderen Anbietern Heilungsleistungen nutzen oder sich von diesen weiter schulen lassen – wobei sich hier auch zu erwartende Ausnahmen finden, wie etwa innerhalb des Bruno-Gröning-Freundeskreises, wo sich unter leitenden Mitgliedern ein abgeschlossenes Weltbild zeigt (263ff). Interessante Einblicke in die Selbstverständnisse werden insbesondere dann gegeben, wenn über andere Anbieter gesprochen wird und sie beurteilt werden.

Am Ende ist noch einmal zu betonen, dass die Studie konsequent ethnographisch erarbeitet ist. Der Autor geht von Interviews und Erfahrungen aus, die er selbst gemacht hat, und schließt nicht von Literatur, etwa Handbüchern, die z. B. von der Foundation for Shamanic Studies, dem Bruno-Gröning-Freundeskreis oder anderen vertrieben werden, auf das jeweilige Selbstverständnis. Der Autor zeichnet ein buntes Kaleidoskop einer Szene, die im Blick auf die Verbreitung in Deutschland deutlich weniger randständig und fremd ist, als in ihrem Verhältnis zum staatlichen Gesundheitssystem.


Harald Grauer, Sankt Augustin