Medienmacht und „Übertribunalisierung“
Presse- und Meinungsfreiheit gehören zu den Grundlagen der demokratischen und pluralistisch geprägten Gesellschaft. Es ist Aufgabe der Medien, informierend und berichtend, investigativ und aufklärend tätig zu sein, darüber hinaus Kommentare und Meinungen zu publizieren, um zur Urteilsbildung beizutragen und Impulse für die Suche nach mehr Gerechtigkeit, mehr Freiheit und mehr Frieden zu geben. Für eine pauschale Medienschelte gibt es keinen Grund. Medien werden in der offenen Gesellschaft gebraucht. Auch neue Medien werden benötigt, die interaktive Beteiligungsformen ermöglichen. Sie sind dann allerdings als problematisch anzusehen, wenn sie die Privatsphäre des Einzelnen missachten und auf eine umfassende Protokollarisierung des Lebens abzielen.
Die Medien gelten als „vierte Gewalt“ im demokratischen Staat, neben Legislative, Exekutive und Judikative. In der Informations- und Wissensgesellschaft ist ihr Einfluss groß. Ihre Studios und Zentralen befinden sich in räumlicher Nähe zu den Institutionen der politischen und wirtschaftlichen Macht. Für Politikerinnen und Politiker sind Medienkontakte selbstverständlich. Personen des öffentlichen Lebens werden mithilfe der Medien bekannt und verlieren unter medialer Beteiligung ihre Ämter. Für den Einzelnen ist die Allgegenwart medialer Berichterstattung zur Alltagswirklichkeit geworden. Für die organisierten Gemeinschaften, auch für die Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften gehört Öffentlichkeitsarbeit zu den zentralen Aufgaben. Dies gilt durchweg sogar bei denjenigen Gruppierungen, die Weltentsagung und Weltdistanz von ihren Mitgliedern verlangen.
Manchmal werden die Medien in ihrer Bedeutung überschätzt oder überschätzen sich selbst. Die medial wahrgenommene Welt ist nicht identisch mit der real erlebten. Es ist keineswegs nur das relevant, was in Printmedien zu lesen ist und im Radio, im Fernsehen und in den neuen Medien verbreitet wird. Medien können sehr ausschnitthafte und einseitige Wirklichkeitsbilder erzeugen. Sie können sich darauf konzentrieren, andere zu Angeklagten zu machen und das in den Vordergrund rücken, was Odo Marquard „Übertribunalisierung“ genannt hat.
Im Kampf um die Aufmerksamkeit der Menschen können Informationen übertrieben oder übergangen werden oder ethische Orientierungen zugunsten ökonomischer Interessen vernachlässigt werden:
• Die französischen Präsidentschaftswahlen hatten noch nicht stattgefunden, als die Nachricht verbreitet wurde, die Wahl sei – aufgrund der beobachteten Stimmung und der vorliegenden Umfragen – eigentlich bereits entschieden.
• Über die Benachteilung und Verfolgung von Christen wird in deutschen Medien zu wenig und nur am Rande berichtet.
• Wenn dem Salafismus zuzuordnende Islamisten in Talkshows eingeladen werden, mag das für Zuschauerquoten vorteilhaft sein. Eine verantwortungsethisch orientierte Berichterstattung sollte darauf verzichten, Extremisten ein Forum zu bieten. Unser Verständnis von Wirklichkeit ist mitbestimmt durch den Umgang mit Medien. Mediale Kommunikation ist jedoch kein Ersatz für die menschliche Begegnung. Medienkompetenz ist heute ein wichtiges Lernziel, das gleichermaßen für Mediennutzer und Medienmacher Bedeutung hat. Es beinhaltet die Fähigkeit zur Nutzung von Medien, aber auch den gestaltenden und kritischen Umgang mit ihnen.
Reinhard Hempelmann