Meditation ohne Religion? Ein Kongress zur Bewusstseinsforschung
Eine säkulare Kathedrale, der glasüberdachte Innenhof der Deutschen Bank an Berlins Prachtstraße „Unter den Linden“, bot den Rahmen für einen interdisziplinären Kongress zur Bewusstseinsforschung, der am 26./27. November 2010 von der „Oberberg Stiftung“ und der „Identity Foundation“ veranstaltet wurde. Etwa 400 Teilnehmer lauschten Einsichten von Hirnforschern zum Tagungsthema „Meditation und Wissenschaft“. Intensiv wurde der Befund diskutiert, wonach regelmäßige Meditation die Gehirnstrukturen messbar verändere (Zusammenfassung der Vorträge unter www.meditation-wissenschaft.org). Der Kongress war von einer Aufbruchstimmung geprägt, die in der Meditation ein gesellschaftsveränderndes Potenzial für Medizin, Psychotherapie und Wissenschaft sieht. Das Konzept „Achtsamkeit“, derzeit in vielen psychotherapeutischen Weiterbildungen ein Renner, kam ausführlich zur Sprache. Es wurden Studien vorgestellt, wonach durch achtsamkeitsbasierte Meditation sogar chronische Schmerzen gelindert werden können. Der Vorschlag, religionsfreie Meditationsangebote in allen Schulen einzuführen, stieß auf breite Zustimmung.
Aus weltanschaulicher Perspektive müssen jedoch drei Anfragen an die höchst professionell durchgeführte Tagung vorgebracht werden.
1. Religionsfreie Meditation übergeht das Sinndeutungsbedürfnis des Menschen. Bleiben existenzielle Fragen unbeantwortet, wird die Lücke oft durch esoterisches Gedankengut gefüllt. Offiziell distanzierten sich die Veranstalter von jeglicher Form von Esoterik in Bezug auf den Kongress. Die wissenschaftliche Hirnforschung sei Grundlage aller Überlegungen. Dennoch war den Teilnehmerunterlagen umfangreiches esoterisches Schrifttum in Form von Zeitschriften und Prospekten beigefügt. Die Informationstische in der Eingangshalle waren mit einschlägigen Prospekten übersät, und auch manche Referenten gehörten eher zu den Esoterik-Sympathisanten als zur Fraktion der Hirnforscher.
2. Vorurteile und Unkenntnis gegenüber dem Christentum und unkritische Sympathien für den Buddhismus prägten die Tagung. Trotz der offiziellen religiösen Neutralität waren buddhistische Konzepte und Inhalte sehr präsent. Michael von Brück erläuterte bei der abschließenden Podiumsdiskussion den Vorzug des Buddhismus, da dort eine fortwährende Selbstverbesserung möglich sei. Weil das Christentum an seiner traditionellen Sündenlehre festhalte und den Menschen auf seine Fehlerhaftigkeit fixiere, sei diese Religion nicht zukunftsfähig. Noch schärfer polemisierte Thomas Metzinger in einem Vortrag über intellektuelle Redlichkeit gegen den christlichen Glauben. Es wurde ein Foto gezeigt, auf dem Papst Pius XII. und Hitler abgebildet waren. Beide seien Vertreter „adaptiver Wahnsysteme“, die dem Zusammenhalt von Großgruppen dienten und interne Hierarchien stabilisieren wollten.
3. Angebote zur besseren Körper- und Selbstwahrnehmung, Entspannungs- und Konzentrationsübungen sind gefragt und hilfreich. Will man jedoch grundlegendere Sinnfragen beantworten, können die kulturellen Prägungen nicht übergangen werden. Eine kulturfreie Meditation kommt über das Niveau von Gymnastikübungen nicht hinaus (die natürlich wohltuend und nützlich sein können). Ohne eine reflektierte Einbeziehung von Menschen- und Gottesbildern, ethischen Werten und Zielvorstellungen für ein gelingendes Leben kann das Potenzial der Meditation nicht ausgelotet werden. Hoffentlich wird das bei der Folgetagung berücksichtigt, die für 2012 geplant ist.
Michael Utsch