Megakirchen

Als Megakirchen werden Organisationsgestalten von Kirche in urbanen Kontexten mit einem wöchentlichen Gottesdienstbesuch von mindestens 2000 bezeichnet. Einige Megakirchen erreichen Besucherzahlen, wie sie von großen Sportveranstaltungen bekannt sind. Seit den 1950er Jahren lässt sich ein kontinuierliches Wachstum der Megakirchen beobachten. Im US-amerikanischen Kontext haben sie zu einem Wandel der Organisationsgestalt von Kirche beigetragen. Teils geschah dies auf Kosten etablierter Gemeinden, teils wurden durch neue Veranstaltungsformen von Kirche neue Zielgruppen angesprochen.

Der Frömmigkeitsstil der Megakirchen ist evangelikal und pentekostal-charismatisch geprägt. Erwecklich geprägte gottesdienstliche Versammlungen mit großen Zuhörerschaften und eine Kultur der Musik, die auf klassische liturgische Formen verzichtet, sind kennzeichnend. Leicht nachvollziehbare Anbetungslieder werden in zahlreichen Megakirchen in einer Zeit des Lobpreises (worship) von professionellen Bands im Popstil intoniert und begleitet. Die Spiritualität ist erlebnisorientiert und verbunden mit der Expressivität der Lebensführung. Programm und Kommunikationsstrukturen sind darauf ausgerichtet, starke Emotionen zu ermöglichen. Megakirchen sind aber auch darum bemüht, durch Kleingruppen und umfassende Angebote (Sportgruppen, Jobberatung, Singlegruppen, Restaurant, Fitnessstudio, Buchhandlung, Kinderbetreuung, Beratung für Suchtgefährdete …) dauerhafte Bindungen aufzubauen. Die Eventisierung der gottesdienstlichen Versammlung und die Orientierung der Kommunikation an religiös Distanzierten schaffen in der Organisationsform einen Kompromiss zwischen Striktheit und Verbindlichkeit in überschaubaren Gruppen und einer nicht bedrängenden Offenheit in den gottesdienstlichen Versammlungen.

Konfessionelle Prägungen können eine Rolle spielen. Im nordamerikanischen Kontext gibt es eine Reihe von Gemeinden mit baptistischem Profil. Zahlreiche Megakirchen verstehen sich als transkonfessionell bzw. nondenominational. Sie finden sich heute auf allen Kontinenten, vor allem in der südlichen Hemisphäre, wo der Siegeszug evangelikaler und pentekostaler Bewegungen am deutlichsten sichtbar wird.

Aus religionssoziologischer Perspektive gehört die Ausbreitung von Megakirchen zu den Tendenzen religiöser Revitalisierung und Fundamentalisierung. Sie sind ein Beleg dafür, dass gegenläufige Prozesse die heutige Religionskultur bestimmen: Säkularisierung und religiöse Pluralisierung, Entzauberung und Wiederverzauberung, Individualisierung und Gemeinschaftsbildung, die Suche nach überschaubaren Gemeinschaften und das Interesse an Gottesdiensten, die als detailliert geplante Großevents gefeiert werden. Globalisierungs- und Internationalisierungsprozesse, die in Politik, Ökonomie und Kultur bestimmend sind, haben auch religiöse Aspekte. In megaurbanen Räumen entwickeln sich Megakirchen, die einflussreich im Blick auf die Sozialformen des Religiösen werden.

Geschichtliches

In den vielfältigen Ausformungen heutiger Megakirchen zeigt sich ihre Herkunft aus der Heiligungs- und Erweckungsfrömmigkeit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, für die u. a. ein starker missionarischer Antrieb (Großstadt- und Massenevangelisation bzw. Camp Meetings), die Bildung eines erwecklichen Laienchristentums und die Betonung der Hoheit und Unabhängigkeit der Einzelgemeinde (Kongregationalismus und Independentismus) verbunden mit dem Ideal der Glaubenstaufe charakteristisch waren. Für die Entwicklung des spezifisch pfingstlichen Profils kam noch die Offenheit hinzu, dass göttliche Kraft sich in besonderen enthusiastischen und ekstatischen Erfahrungen manifestiert, die als „übernatürlich“ und wunderbar angesehen wurden. In historischer Perspektive knüpfen heutige Megakirchen an Erweckungsversammlungen mit emotional bewegenden Gesängen und elementaren und alltagsbezogenen Predigten an. Erweckungsversammlungen werden in Megakirchen gewissermaßen institutionalisiert und auf Dauer gestellt.

Europäischer Kontext

Der Einfluss des globalen und internationalen Erweckungschristentums auf die europäische Situation ist nicht zu übersehen. Hier lassen sich u. a. folgende Megakirchen nennen: Faith Church in Budapest, Hillsong Church in London, dort ebenso Kensington Temple und Kingsway International Christian Center, Word of Life Church in Kiew, International Christian Fellowship in Zürich, Gospel Forum in Stuttgart. Im Frömmigkeitsprofil und in der Organisationsstruktur gibt es große Unterschiede. Im Folgenden soll auf zwei Megakirchen exemplarisch eingegangen werden: Hillsong und International Christian Fellowship.

Hillsong Church: Das Dominion Theatre in der City von London ist nicht nur ein Ort, an dem Musicals aufgeführt werden und Wohltätigkeitsveranstaltungen stattfinden, sondern auch christliche Gottesdienste. Im Theater finden gut 2000 Menschen Platz. Sonntags veranstaltet Hillsong London hier mehrere Gottesdienste. Der Begrüßungskultur der multikulturell geprägten Gottesdienstgemeinschaft wird große Aufmerksamkeit gewidmet. Die Video-, Sound- und Lichttechnik in verdunkelten Räumen schafft vielfältige Möglichkeiten, Stimmungen und Effekte hervorzurufen.

Die pfingstlich geprägte Hillsong-Kirche wurde 1983 in Sydney gegründet. Im internationalen Kontext bekannt wurde sie durch zahlreiche Musikgruppen (Hillsong United) und Konzerte, professionell gestaltete Anbetungsmusik und mediale Präsenz. Durch die Aufnahme von Elementen der Jugend- und Popkultur wurde die globale Resonanz dieser Bewegung verstärkt. Musik und Lieder schaffen in eventmäßig organisierten Gottesdiensten und Konferenzen eine Atmosphäre, in der sich starke Gefühle ausdrücken können und dem Ausleben von Glaubensemotionen in Anwesenheit anderer Raum gegeben wird. Zugleich werden die klassischen Anliegen der Pfingstbewegung betont und gepflegt: die Praxis der Charismen Heilung, Glossolalie (Zungenrede bzw. Sprachengebet) und Prophetie. Ebenso wird die Erwartung unterstützt, dass sich göttliche Kraft in enthusiastischen und ekstatischen Erfahrungen manifestiert, die auch den Bereich der Leiblichkeit betreffen. Rationalitätsskepsis verbindet sich mit einem Hunger nach erlebbarer Transzendenz. Die gottesdienstlichen Inszenierungen sind, wo immer sie stattfinden, ähnlich.

Es gehört zum Konzept der internationalen Ausbreitung von Hillsong, sich vor allem in großstädtischen Milieus zu etablieren, u. a. in Paris, Kiew, Moskau, Amsterdam, Kapstadt, New York. Die „Muttergemeinde“ in Sydney ist Teil der klassischen Pfingstbewegung. Hillsong Sydney gehört zum internationalen Zweig der Assemblies of God, einer der größten Pfingstkirchen, die vor drei Jahren ihr 100-jähriges Bestehen in Springfield, Missouri (USA), feiern konnte.

International Christian Fellowship: 1996 entstand in Zürich eine neue freikirchliche Bewegung mit dem Namen International Christian Fellowship (ICF), die sich wirkungsvoll ausbreitete und in Zürich als Megakirche gilt. Optimismus, Internationalität, Erfolgs- und Wachstumsorientierung verbinden sich mit klassischen evangelikalen und pfingstlich-charismatischen Anliegen. Die ICF-Bewegung versteht sich als neue freikirchliche Bewegung. Sie sucht die großen Bühnen und das junge Publikum. Sie folgt den gesellschaftlichen Trends der Eventisierung und Verszenung. An ihrem Beispiel kann wahrgenommen werden, welche Chancen und Grenzen die Vermittlung des christlichen Glaubens durch Anpassung und Anknüpfung an die populäre Kultur hat.

Deutschland

In Deutschland ist zwar eine Reihe von Megakirchen aus den USA präsent – ebenso aus anderen Teilen der Welt –, ohne dass sie sich in der Größe einer Megakirche etablierten. Dies gilt etwa für die Calvary-Chapel-Gemeinden, die Saddleback Community Church und die Vineyard-Bewegung, die für charismatisches und pentekostales Christentum zeitweilig von prägender Wirkung war. Die Hillsong Church ist in Deutschland eine Bewegung im Aufbau, mit begrenzter Resonanz.

Die Bücher „Kirche mit Vision“ und „Leben mit Vision“, geschrieben von Rick Warren, dem Gründer und Seniorpastor der Megakirche Saddleback Community Church, wurden auch in Deutschland intensiv rezipiert und als Therapie für kleiner werdende und missionsmüde Gemeinden empfohlen, vor allem im freikirchlichen, aber auch im landeskirchlichen Kontext.

Die größten Impulse einer nordamerikanischen Megakirche auf freikirchliche Bewegungen und landeskirchliche Dienste, Arbeitsfelder und Initiativen gehen in Deutschland von der Willow Creek Community Church (Chicago) aus. Seit mehr als 20 Jahren werden Willow-Creek-Kongresse durchgeführt. Ehrenamtliche und hauptamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die in der Praxis missionarischer Arbeit in Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften Verantwortung tragen, darunter hunderte von Pastorinnen und Pastoren, nehmen Impulse dieser Megakirche auf. Der Willow-Creek-Gemeinde geht es um die Evangelisierung von entkirchlichten Menschen, die gegenüber religiösen Sprachformen, traditionellen Kirchenliedern und Liturgien ein Empfinden kultureller Fremdheit entwickelt haben. Kirche soll diesem Verständnis gemäß vor allem „Kirche für Distanzierte“ (church for the unchurched) sein. Willow Creek gründete bisher in Deutschland trotz der langjährigen Kongressarbeit keine eigenen Kirchen, sondern kooperierte mit Gemeinden und Kirchen. Eine Imitation ihrer Konzeption dürfte im europäischen Kontext aufgrund anderer Rahmenbedingungen nicht möglich sein. Sie wird von zahlreichen Verantwortlichen auch nicht propagiert. Praxis wie Erfahrung dieser Gemeinde enthalten Anregungen für missionarische Aktivitäten in urbanen Kontexten, wo Entchristlichungs- und Entkirchlichungsprozesse am weitesten fortgeschritten sind.

Die begrenzte Resonanz von Megakirchen in Deutschland hat u. a. kulturelle Gründe und steht im Zusammenhang mit den gewachsenen kirchlichen und freikirchlichen Strukturen, deren Prägekraft bestimmend bleibt. Die Berliner „Gemeinde auf dem Weg“, die ebenso wie zahlreiche andere Gemeinschaften zum unabhängigen Bereich pfingstlich-charismatischer Bewegungen gehört (nondenominational), baute im Berliner Norden ein großes Gemeindezentrum, das von Hoffnungen auf die Entstehung einer Megakirche mitbestimmt war, die sich jedoch nicht erfüllten. Das von der weltweit größten pfingstlichen Megakirche (Yoido Full Gospel Church des David Yonggi Cho) inspirierte Missionswerk Karlsruhe schloss 1989 den Bau der Christus-Kathedrale mit 1800 Sitzplätzen ab. Von einer Megakirche kann angesichts der gottesdienstlichen Besucherzahlen aber nicht gesprochen werden. Einzig das Gospel Forum in Stuttgart kann als erste und zurzeit einzige Megakirche in Deutschland bezeichnet werden.

Einschätzungen

Die Vermittlung emotionaler Ergriffenheitserfahrungen ist ein wesentliches Moment evangelikaler und pentekostaler Glaubensorientierung. Der Stil der Anbetungsmusik ist ein wichtiger Faktor für die Attraktivität von Megakirchen, noch vor der Reputation des Seniorpastors, von dem rhetorische Kompetenz ebenso erwartet wird wie Medientauglichkeit und Managementqualitäten.

Die zahlreichen kritischen Diskurse zu Megakirchen beziehen sich auf ihre Wachstumsdoktrin, die Vermarktung des Heiligen, die Nähe einer Reihe von Kirchen zum Wohlstands- und Gesundheitsevangelium (Prosperity Gospel), die Fixierung auf die Person des Seniorpastors, die Verbindung einzelner Kirchen zur religiösen Rechten in den USA, Tendenzen des Aufbaus von christlich-fundamentalistischen Parallelwelten. Sie treffen auf einzelne Ausprägungen fraglos zu. Die Vielgestaltigkeit von Megakirchen nötigt allerdings zu differenzierten Urteilsbildungen. Jede Kirche bedarf einer je eigenen Wahrnehmung.

Soziologen erkennen in Megakirchen einen möglichen Gestaltwandel des Religiösen. Im Anschluss an Max Weber und Ernst Troeltsch wird gefragt, ob deren Typologie des Religiösen erweitert werden müsse, ob jenseits klassischer Typologisierungen von „Kirche, Sekte und Mystik“ sich in Megakirchen eine neue Gestalt von Kirche ankündigt, die auch im europäischen Kontext langfristig größere Resonanz gewinnen könnte.

Aus theologischer Perspektive ist grundsätzlich darauf hinzuweisen, dass Kirche unterschiedliche Gestalten haben kann. In Ordnungs- und Gestaltungsfragen gibt es nach evangelischem Verständnis Freiheit, aber auch das Kriterium, dass die Sozialgestalt der Kirche dem Evangelium dienen und dem Inhalt des christlichen Zeugnisses entsprechen muss. Immer behält die Kirche eine Werdegestalt. Die Konkretion von Kirche wird dabei von kulturellen Kontexten mitbestimmt. Das Evangelium geht ein in die verschiedenen Kulturen, es geht aber nicht in ihnen auf. Vor allem gilt, dass Gottes-, Christus- und Geisterfahrung unverfügbar bleiben. Zahlenmäßiges Wachstum ist kein Beweis für die Präsenz des Geistes.

Vor allem dies bewirken Megakirchen: Sie forcieren innerkirchliche Pluralisierungsprozesse und die Ausdifferenzierung der christlich-religiösen Landschaft. Sie verstärken Internationalisierungsprozesse und sind Ausdruck für das Bedürfnis nach gemeinschaftlicher Vergewisserung in großen Versammlungen im Kontext einer individualisierten Kultur.


Reinhard Hempelmann


Literatur

Friedrich Wilhelm Graf: Götter global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München 2014
Friedrich Wilhelm Graf: Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur, München 2004
Michael Hochgeschwender: Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Leipzig 2007
Beate Hofmann/Doris Denzler: (K)ein Programm für die Volkskirche. 30 Jahre Willow Creek, in: Nachrichten der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern 10/2005, 319-322
Thomas Kern/Uwe Schimank: Megakirchen als religiöse Organisationen: Ein dritter Gemeindetyp jenseits von Kirche und Sekte?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie Bd. 65, Supplement 1 (Sonderheft 53: Religion und Gesellschaft), 285-309
Marcia Pally: Die Neuen Evangelikalen in den USA. Freiheitsgewinne durch fromme Politik, Berlin 2010
Insa Pruisken/Janina Coronel: Megakirchen: Managerialisierung im religiösen Feld, in: Patrick Heiser/Christian Ludwig (Hg.): Sozialformen der Religionen im Wandel, Wiesbaden 2014
Jens Schlamelcher: Sozialgestalten im evangelikalen Spektrum, in: Frederik Elwert/Martin Rademacher/Jens Schlamelcher (Hg.): Handbuch Evangelikalismus, Bielefeld 2017, 242-259
Jörg Stolz/Olivier Favre u. a.: Phänomen Freikirchen. Analyse eines wettbewerbsstarken Milieus, CULTuREL, Religionswissenschaftliche Forschungen, hg. von Philippe Bornet u. a.; Bd. 5, Zürich 2014
Matthew Wade: Seeker-friendly: The Hillsong megachurches an enchanting total institution, in: Journal of Sociology 52/4 (2016), 661-676
Melanie Zurlinden: Religionsgemeinschaften in der direkten Demokratie. Handlungsräume religiöser Minderheiten in der Schweiz, in: Ines-Jacqueline Werkner/Antonius Liedhegener (Hg.): Politik und Religion, Wiesbaden 2015