Weltanschauungsarbeit

Minderheitsreligionen und Schule - ein Seminar in London

Angeregt durch den Bericht von der INFORM-Jubiläumstagung Anfang 2014 (MD 5/2014, 181-184) ließ sich der Berichterstatter – als ehemaliger Schul- und Auslandspfarrer entsprechend sensibilisiert – zur Teilnahme an einem Seminar des in London ansässigen „Information Network Focus on Religious Movements“ (INFORM) verleiten. „Minority Religions and Schooling“ lautete das Thema des Tages­seminars (6.12.2014).

Die religiöse Landschaft in Britannien ist alles in allem etwas bunter, und auch die Schulsituation ist traditionell vielfältiger als in Deutschland. Amanda van Eck Duymaer van Twist und Suzanne Newcombe (beide Mitarbeiterinnen von INFORM) gaben zu Beginn einen kurzen Überblick: Von den staatlich finanzierten Primar- und Sekundarschulen haben etwa zwei Drittel keine religiöse Bindung, ein knappes Drittel hat eine solche (ganz überwiegend an die Church of England, ansonsten hauptsächlich an die katholische Kirche). Demgegenüber sind die freien Schulen zu etwa 75 % säkular; das verbleibende Viertel ist religiös affiliiert, u. a. zu 8 % christlich, zu 2,7 % muslimisch und zu 2,3 % jüdisch. Demgegenüber besuchen in Deutschland insgesamt höchstens 8 % eine (kirchliche oder sonstige) Privatschule. In Britannien kommen noch etwa 50 000 bis 80 000 Kinder dazu, die zu Hause unterrichtet werden, was in der Bundesrepublik nicht vorgesehen ist, sodass die Wahlmöglichkeiten erheblich größer sind als in Deutschland.

Dass es im Bereich der freien Schulen und Akademien seit 2010 eine markante Zunahme gibt, stellte Damon Boxer, stellvertretender Abteilungsleiter im Erziehungsministerium, dar. Er schilderte die Prinzipien, die bei einer Neugründung solcher staatsunabhängiger Schulen zu beachten sind, und wies auf die strikten Vorgaben hin, nicht nur in fachlicher Hinsicht, sondern vor allem auch im Blick auf eine ausgefeilte nichtdiskriminierende Zulassungspraxis, die allerdings, wie der Referent zugab, ohne großen Aufwand auch wieder ausgehebelt werden kann. Im Ergebnis kann das durchaus bedeuten, dass sich an einer Schule zu beinahe 100 % Anhänger einer bestimmten religiösen, weltanschaulichen oder auch ethnischen Richtung finden. Dass alle Schulen auf „grundlegende britische Werte“ verpflichtet werden, wurde betont, wobei dem Zuhörer aus Deutschland nie so recht klar wurde, worin diese fundamentalen Werte denn bestehen und wie ihre Einhaltung kontrolliert wird.

Die schulische wie religiöse Vielfalt im Königreich spiegelte sich in den weiteren Beiträgen des Seminars, und gemäß dem Konzept von INFORM, sich der Deutungshoheit zu enthalten, hatten neben kritischen Anfragen und behördlich-statistischen Beiträgen auch kleine Werbeblöcke durch Vertreter verschiedener religiös-weltanschaulicher Schulträger Raum.

Farid Panjwani (Centre for Research and Evaluation in Muslim Education) erläuterte in seinem Beitrag „Muslims and Faith Schools“, dass die innermuslimische Vielfalt sich überraschend wenig in den etwas mehr als 150 Schulen in islamischer Trägerschaft spiegele und die Resultate bei behördlichen Kontrollen der akademischen und sozialen Standards mitunter durchwachsen seien. Verbindend sei aufseiten der Schüler und Eltern vornehmlich eine Kombination zweier Motive: des Wunsches nach Bekräftigung der eigenen Identität und des Bestrebens, gesellschaftlichen und ökonomischen Aufstieg zu ermöglichen. Dabei wies der Referent auf ein eigentümliches Paradox hin, dass nämlich die freien (speziell die religiösen) Schulen versuchten, einen konstruktiven Beitrag für eine Gesellschaft zu leisten, die sie an vielen Punkten kritisierten (er nannte es „dissatisfaction with mainstream schools“), was eben ihre Legitimationsgrundlage abgebe. Sein Vorschlag: sich an allen Ausbildungseinrichtungen auf eine Art kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen, der auf vier Säulen beruhe: Herausbildung des kritischen Denkens, Inklusivität, soziale Gerechtigkeit und Freiheit.

Einen stark persönlich gefärbten Erfahrungsbericht aus einer Fetullah-Gülen- bzw. Hizmet-Schule lieferte der Jurist Ozcan Keles. Ihm habe der dreijährige Besuch der ersten Gülen-Schule in der Türkei geholfen, die eigene Identität zu finden und die wesentlichen Werte der Gülen-Bewegung zu verinnerlichen, nämlich gute Erziehung, Dialogfähigkeit und Hilfsbereitschaft. Der Glaube an diese sogenannten „internationalen Werte“ habe mittlerweile zur Gründung von mehr als 1600 Hizmet-Schulen in gut 140 Ländern weltweit geführt, denen das Konzept der „Erziehung durch gutes Beispiel“ zugrunde liege. Als kritische Anmerkungen äußerte Keles u. a., dass es den Schulen an zentraler Koordination mangele und dass kritisches Denken nicht immer den gebührenden Stellenwert erhalte – ein bezeichnendes Schlaglicht auf die von anderen Rednern geforderten „core values“ und den möglicherweise langen Weg dorthin. Dass Gülen ihn „davor bewahrt habe, ein radikaler Muslim zu werden“, glaubte man dem Referenten gerne; ob das in jedem Fall das Ergebnis des Besuchs einer Glaubensschule ist, musste offen bleiben.

Von hinduistischer Seite stellte Usha Sani als Direktorin des „Avanti Schools Trust“ die Arbeit ihrer Schulen vor. Mit ihrem Schwerpunkt auf der Verbesserung der sozialen Umstände durch gute Erziehung, Charakterschulung und Spiritualität (im Gefolge der Lehren des indischen Mönchs und Sozialreformers Krishna Chaitanya aus dem 16. Jahrhundert) hätten diese Schulen in der relativ kurzen Zeit ihres Bestehens (seit 2012) bereits bemerkenswerte Erfolge erzielt. Mit der Frage, ob und inwieweit solche (und andere) religiös stark „spezia­lisierte“ Schulen den gesellschaftlichen Zusammenhalt förderten oder gerade die Zersplitterung der Gesellschaft vorantrieben, wurde einer der Kernpunkte der kritischen Diskussion zwar angesprochen, aber noch nicht weiter vertieft.

Das unternahm dann Richy Thompson, Campaign Officer in Sachen Glaubensschulen der britischen humanistischen Vereinigung. Er stellte mit Nachdruck die Frage nach dem Nutzen und dem gesellschaftlichen Ertrag solcher Schulen, in denen religiöse Partikularinteressen eine zentrale Rolle spielten. Die statistischen Daten ließen seiner Meinung nach nur die Deutung zu, dass – zumal durch die jüngste Veränderung der britischen Schulgesetze (erweiterte Möglichkeiten, staatsunabhängige Schulen und sog. „academies“ zu gründen; vgl. MD 7/2014, 261ff) – die Zergliederung der Gesellschaft durch Glaubensschulen ein gravierendes Problem darstelle. Etliche Schulen wiesen bereits eine bedenkliche religiöse und auch ethnische Uniformität auf, an manchen sei eine ausgeprägte Wissenschaftsfeindlichkeit zu beobachten (dieser Vorwurf gehört allerdings zum pauschalen Arsenal humanistischer Verbände gegenüber religiösen Gruppen, auch in Deutschland), gelegentlich auch eine Kombination beider Phänomene. Dass einige dieser Schulen bzw. ihre Träger sogar die schulaufsichtliche Kontrolle ihrer Arbeit in eigener Regie durchführen können (vermutlich eine extreme Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips), rief einige Verwunderung hervor. Seine Forderungen: Holt die kulturelle Vielfalt (wieder) in die einzelnen Schulen hinein, anstatt die Kinder schon im Schulalter voneinander zu trennen; macht alle Schulen zu Staatsschulen, damit die junge Generation eine einheitliche Ausbildung erhält, die sie zu gut informierten und engagierten Mitgliedern der Gesellschaft erzieht. Frei von jeglicher Weltanschauung dürfte allerdings auch eine solche pointierte Position nicht sein.

Den spannendsten Beitrag lieferte ein Absolvent einer extremen Ausprägung von religiöser Erziehung, Jonny Scaramanga, der über seine Erfahrungen in einer ACE-Schule berichtete. Diese Schulen arbeiten nach dem Konzept der „Accelerated Christian Education“, das aus den USA stammt, stark fundamentalistisch geprägt ist und davon ausgeht, dass Kinder von jeglichem schädlichen, auch vermeintlich weltlichen, Einfluss ferngehalten werden müssen. 1970 in Texas entstanden, hat die Bewegung u. a. in England (seit 1979) Schulen gegründet, und Scaramanga besuchte eine solche von 1996 bis 1999. Sein Resümee ließ an Deutlichkeit wenig zu wünschen übrig: Eigenständiges und kritisches Denken werde den Schülern, die in völliger Vereinzelung den Stoff eigenständig nach hoch formalisierten Methoden zu bearbeiten haben, ausgetrieben; Austausch und soziale Anregung seien unerwünscht, und Wissenschaft habe sich in allen Fragen der biblisch offenbarten Wahrheit unterzuordnen. Die Biografie des Referenten zeigt aber auch: Offenbar ist es auch nach Durchlaufen einer solch rigiden pä­dagogischen Einrichtung nicht unmöglich, unabhängiges Denken zu entwickeln. Es liegt augenscheinlich – leider oder zum Glück – nicht nur an der Schule, wie sich ein Mensch entwickelt.

Abschließend präsentierte Jo Fageant, Schulinspektorin im Dienst der Church of England die Haltung der anglikanischen Kirche zur schulischen Ausbildung in kircheneigenen Einrichtungen. Diese werden nicht als geschützter Raum für Angehörige der eigenen Konfession verstanden, sondern als ein Dienst an der Allgemeinheit auf der Grundlage christlicher Werte und Normen. Da die anglikanische Kirche eng mit der Entstehung des modernen England verbunden ist, war ihr Bekenntnis zu den gemeinsamen Normen und Werten wenig überraschend und dürfte im Wesentlichen dem entsprechen, was wohl oben mit den „britischen Werten“ gemeint war. Ihre vermittelnde und für alle offene Einstellung hätte man so ähnlich auch aus dem Munde eines EKD-Offiziellen hören können, bis dahin, dass sie jeglicher „Bekehrungsabsicht“ eine klare Absage erteilte. Persönlich fände ich solcherlei Bekenntnisse zur Vielfalt und Toleranz ein wenig überzeugender, wenn sie mit einem kleinen erinnernden Hinweis darauf verbunden wären, dass die Kirchen sich in ihrer Geschichte erst sehr mühsam dazu durchringen mussten. Und dass religiöse Überzeugung mehr ist als Wertebehauptung oder -vermittlung, drohte völlig in den Hintergrund zu treten.

Die anschließende Diskussion konzentrierte sich im Wesentlichen auf die Frage, ob religiös/weltanschaulich geprägte Schulen dem gesellschaftlichen Zusammenhalt eher nützen oder eher schaden. Eine eindeutige Antwort war nicht zu erwarten, doch in einer, verglichen mit Deutschland, schon recht heterogenen Gesellschaft scheint eine erkennbare Gefahr in einer zunehmend zersplitterten Schullandschaft zu bestehen, zumal eben durchgehend unklar blieb, wie die immer wieder eingeforderte Verpflichtung auf die „gemeinsamen Werte“ konkret aussehen soll. Weiter gedacht: Bei wem sind das Wohl unserer Kinder und das Interesse für die Gestaltung unserer Gesellschaft am besten aufgehoben? In möglichst verschiedenen Händen, damit die Gefahr doktrinärer Beeinflussung so gering wie möglich gehalten wird und sich potenziell widersprechende Einstellungen ausgleichen können? Oder in möglichst wenigen Händen, damit der Zusammenhalt der Gesellschaft unter einheitlichen Vorgaben gewährleistet bleibt? Und was ist, wenn sich das vermutete Kindeswohl wie auch das Interesse der Eltern nicht mit dem gesellschaftlich als wünschenswert Postulierten deckt? Was am Beispiel der Schulen diskutiert wurde, spielt sich in Deutschland zurzeit noch stärker auf der Ebene der frühkindlichen Erziehung ab, dürfte aber bei uns vom selben prinzipiellen Interesse sein.


Volker Lubinetzki, Wermelskirchen