Marc Grimm / Jakob Baier

Misogynie und Antisemitismus im deutschen Gangsta-Rap

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Die Hip-Hop-Kultur ist derzeit die größte und wichtigste Jugendkultur in Deutschland. Ende August 2020, als dieser Beitrag entsteht, sind acht der Top 10 Singles von Hip-Hop-Künstlern, davon drei vom Ludwigshafener Gangsta-Rapper und Sänger Volkan Yaman alias „Apache 207“.
Hip-Hop entstand Ende der 1970er Jahre in den von sozialer und ökonomischer Ausgrenzung und Diskriminierung gezeichneten, deprivierten Großstadtghettos der USA. Von Beginn an bildete der Rap (Sprechgesang) eine zentrale Kulturpraktik innerhalb der Hip-Hop-Bewegung und ist bis heute dominant. Insbesondere im sogenannten „Conscious Rap“ bzw. „Message Rap“ thematisierten die vorwiegend jungen, männlichen und schwarzen sowie hispanischen Künstler die sozialen Ausschlüsse und die rassistische Diskriminierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den amerikanischen Armenvierteln. In diversen Ausprägungen war Rap in den USA immer sowohl politisch als auch Unterhaltungsmusik.
Anfang der 1980er Jahre fand die Hip-Hop-Kultur in Deutschland erste Anhänger. Anders als in den USA wurde Hip-Hop in Deutschland zunächst von Mittelschichtskindern als Gegenkultur reklamiert. Im Verlauf der 1980er Jahre wuchs die Hip-Hop-Bewegung zu einer pulsierenden, heterogenen und deutschlandweit vernetzten Subkultur heran. Anfang der 1990er Jahre feierte deutschsprachiger Rap, durch bekannte Formationen wie die „Fantastischen Vier“ populär, erste kommerzielle Erfolge. Zugleich etablierte er sich als dominante Jugendkultur, die eine breite Ausdifferenzierung in sowohl musikalischer als auch thematischer Hinsicht erfuhr. Ab Anfang der 2000er Jahre entwickelte sich der deutschsprachige Gangsta-Rap zur bis heute kommerziell erfolgreichsten Sparte des Rap. Dabei handelt es sich um ein Genre des Hip-Hop, das sich weniger musikalisch, sondern mehr über die in den Texten verhandelten Erzählungen von anderen Spielarten des Hip-Hop abgrenzen lässt.
Im Gangsta-Rap lässt sich seit längerer Zeit beobachten, dass ein hypermaskuliner Körperkult, autoritäre Machtfantasien sowie Heroisierungs- und Martialitätsvorstellungen zentrale Motive der Selbstinszenierung der hauptsächlich männlichen Künstler bilden.  Diese vermitteln in ihren Liedern, Musikvideos und Postings in sozialen Netzwerken sexistische, homophobe und antifeministische Rollenbilder, autoritäre Moral- und Gesellschaftsvorstellungen sowie verschwörungsideologische und antisemitische Interpretationen globaler Herrschaftsverhältnisse. Die propagierten Weltbilder sind durchzogen von manichäischen, autoritären, pseudo-rebellischen und verschwörungsideologischen Aspekten, die Jugendlichen attraktiv erscheinen können, weil sie ihnen eine individuelle Aufwertung versprechen. Der Gestus des Entlarvens böser gesellschaftlicher Kräfte gehört zum Standardrepertoire der Gangsta-Rapper, und damit erfolgt zugleich die Selbstpositionierung auf der Seite der Guten. Gleichsam inszenieren sich diverse Künstler, darunter Kollegah, PA Sports, Massiv oder Haftbefehl, als legitime Sprecher von prekarisierten und verunsicherten Jugendlichen, denen der Gangsta-Rap Rollenbilder anbietet, die primär in der Selbstaufwertung durch die „Abwertung sozial Schwächerer“  bestehen.
Im Folgenden werden wir kurz die Auseinandersetzung über die problematischen Inhalte des Gangsta-Rap vorstellen und drei der gängigen Argumente diskutieren, die auf eine Relativierung und ein Entschuldigen der menschenverachtenden Texte abzielen. Im Anschluss werden wir skizzieren, welche offenen Fragen sich daraus sowohl für die sozialwissenschaftliche Forschung als auch für den Umgang mit der Thematik in Bildungsinstitutionen ergeben.

Tabubruch als Stilmittel?

Der Aufstieg des Hip-Hop zur dominanten (Jugend-)Kultur ist von der Berichterstattung über kleinere Skandale begleitet, immer wieder kochen Diskussionen über die Inhalte hoch. So etwa, als der Rapper Anis Ferchichi alias Bushido 2003 im Lied „Berlin“ verkündet: „… Berlin wird wieder hart, denn wir verkloppen jede Schwuchtel / Berlin / Es ist meine Stadt, mein Bezirk / Du Nutte kannst nach Hause gehn, ab jetzt ist es Hardcore du Opfer ...“  
Neben homophoben Texten dominieren misogyne und antisemitische Inhalte. Zu trauriger Berühmtheit gelangte die Textzeile „Mein Körper definierter als von Auschwitzinsassen“ aus dem Lied „0815“, in dem der Rapper Farid Bang sich „rühmt …, so wenig Fett auf den Rippen zu haben wie sonst nur ein ausgemergelter Häftling in Auschwitz“ . Die Zeile stammt vom Album „Jung, brutal, gutaussehend 3“ der Rapper Felix Blume alias Kollegah und Farid el Abdellaoui alias Farid Bang, das 2018 mit dem Musikpreis Echo ausgezeichnet wurde. Der Musikjournalist Jens Balzer fragte zu Recht: „Warum wird ein Album mit einer derart widerwärtigen, die Opfer der Shoah verhöhnenden Zeile für den – nach eigener Darstellung – ,wichtigsten deutschen Musikpreis‘ nominiert?“  Die formal korrekte Antwort darauf ist, dass es kommerziell erfolgreich war und eine Echo-Fachjury für die Auszeichnung votierte.  Auch der eingesetzte Ethikbeirat des Echo kommt zu dem Urteil, dass der Text im Rahmen der künstlerischen Freiheit liege und ein Ausschluss damit nicht gerechtfertigt sei.
Es war nicht das erste Mal, dass die künstlerische Freiheit bemüht wurde, um die menschenfeindlichen Texte aus der Schusslinie der Kritik zu nehmen. Als Bushido 2011 für den Bambi-Preis (Hubert Burda Media) nominiert und die Entscheidung kritisiert wurde, verteidigte der Burda-Verlag die Nominierung: „Musik ist eine Kunstform, der bewusste Tabubruch ein Stilmittel des Raps.“  
Betrachtet man die Diskussion um die Inhalte des Rap in den vergangenen Jahren näher, zeigt sich, dass dieser Verweis auf die spezifische Sprache und das Mittel der Übertreibung eines von drei zentralen Argumenten in der Auseinandersetzung über die Inhalte des Gangsta-Rap ist. Das zweite Argument zielt auf die Unterscheidung zwischen der realen Person und der Kunstfigur ab: Aussagen des lyrischen Ich des Künstlers dürften nicht der realen Person zugeschrieben werden, die Kritik an den Texten laufe deswegen ins Leere. Das Argument wird gelegentlich von Aussagen über die Rapper als nette, zurückhaltende, hilfsbereite, gläubige Privatpersonen ergänzt. In dieser Logik hat Anis Ferchichi kein Problem mit Homosexuellen und Frauen, sondern seine Kunstfigur Bushido propagiert jene Abwertungsvorstellungen als Teil einer hypermaskulinen Selbstinszenierung, weil das nun einmal eines der Stilmittel des Rap sei. Im Anschluss an diese Unterscheidung bezieht sich das dritte Argument schließlich auf die Rezipienten und Rezipientinnen: Sie würden die Texte als Stilmittel und Kunstform verstehen und hätten demnach ein distanziertes Hörverhalten. Dass die Texte auf die Einstellungen und das Verhalten der oft Jugendlichen Hörer und Hörerinnen abfärben, sei nicht zu erwarten. Wir werden diese Argumente im Folgenden diskutieren und ihnen unsere Deutung entgegenstellen.

Inszenierungsnarrative und ihr Wirkungspotenzial

Die hypermaskuline Selbstdarstellung – und mit ihr die Popularisierung von Sprachfiguren und Metaphern, die eine gewaltgeladene Sexualität sowie eine aggressive Abwertung von Schwäche beinhalten – steht in enger Verbindung zur Semantik des Battle-Rap.  Im Wettbewerb um männliche Hegemonie sowie subkulturelle Autorität und Deutungsmacht greifen Gangsta-Rapper häufig auf zentrale Elemente des Battle-Rap zurück, wie etwa die Abwertung realer oder imaginierter Gegner und damit die Aufwertung der eigenen Position. Dabei ist die Grenze zwischen Rap-Persona und realer Person meist eine künstliche. Insbesondere durch die Selbstvermarktung auf Social-Media-Kanälen wird diese vermeintliche Trennung aufgehoben. Gangsta-Rapper sind darauf bedacht, die Lebenswelt eines Gangsters als die eigene auszuweisen, um ein möglichst hohes Maß an Authentizität zu vermitteln. Die Unterscheidung zwischen lyrischem Ich, Alter Ego und Privatperson soll im besten Falle kaum mehr zu erkennen sein.  Das Image der eigenen ökonomischen, körperlichen und sexuellen Leistungsfähigkeit soll stets auf möglichst allen Kanälen bestätigt werden.
Dass die Gangsta-Rapper in dieser Inszenierungspraxis Tabus brechen und die Inszenierungen zum Teil so überzeichnen, dass diese als solche erkennbar werden, gehört demnach in der Tat zu den Stilmitteln und Erkennungsmerkmalen des Gangsta-Rap. Die menschenfeindlichen Texte aber können mit diesem Hinweis nicht entschuldigt werden. Die Abwertung von Frauen und die Popularisierung von antisemitischen Verschwörungsnarrativen, z. B. die Bezugnahme auf den antisemitischen Rothschild-Topos (im Lied „Hang the Bankers“ der Rapper Haftbefehl und Olexesh),  haben kein subversives oder machtkritisches Element. Bei den von Gangsta-Rappern ins Visier genommenen (vermeintlichen) Tabus handelt es sich um weit verbreitete gesellschaftliche Abwertungsverhältnisse, und gerade deswegen sollte es ein normatives Ziel sein, diese zu tabuisieren und zu skandalisieren – primär zum Schutz der Opfer vor Verbalaggression und den aus dieser potenziell erwachsenden Gewalttaten.
Der Tabubruch ist eines der starken Verkaufsargumente des Gangsta-Rap: Er verspricht wenigstens zeitweise eine Flucht vor den lästigen Beschränkungen durch Moral und Zivilisation und Zuflucht in eine Welt, in der Männer noch Männer sind, Frauen ihren Platz kennen und übersichtliche Verhältnisse mit einfachen Mitteln hergestellt werden. Dass die Deutungs- und Identifikationsangebote des Gangsta-Rap, die stark auf das Selbstbild, auf Vorstellungen von Gerechtigkeit, gutem und richtigem Handeln in einer unübersichtlichen Welt abzielen, auf Normen und Werte der jugendlichen Hörer und Hörerinnen abfärben, scheint naheliegend. Anzunehmen sind Wirkungszusammenhänge in einem komplexen Spannungsfeld von kognitiven und sozialen Voraussetzungen. Eine Diskussion über die Wirkung der homophoben, misogynen und antisemitischen Inhalte auf jugendliche Rezipientinnen und Rezipienten findet jedoch weder innerhalb der Fachdisziplinen noch öffentlich statt. Dabei wäre stark davon auszugehen, dass der Gangsta-Rap nicht unmittelbare Wirkungen auslöst, aber die Texte als Wissen zur u. a. antisemitischen, misogynen und verschwörungsideologischen Deutung von Gesellschaft abrufbar bleiben und die Rapper Vorbildfunktion für Jugendliche haben. Daraus ergibt sich die Frage, wie die im Gangsta Rap transportierten Inhalte in der Bildungsarbeit mit jungen Menschen sinnvoll adressiert werden können.
Unser aktuelles Projekt „Die Suszeptibilität von Jugendlichen für Antisemitismus im Gangsta Rap und Möglichkeiten der Prävention“ (Universität Bielefeld)  soll weitere Antworten auf das Rezeptionsverhalten von Gangsta-Rap-Fans liefern. Im Fokus des Projekts steht die Frage, wie repressive Moralvorstellungen und verschwörungsideologische Welterklärungsmuster in eine spezifische und für Jugendliche ansprechende Verhandlung von Prekarisierungs- und Identitätsdiskursen eingebunden sind. Damit sollen fundierte Erkenntnisse über die Wirkmächtigkeit einer solchen Musik- und Medienrezeption in komplexen lebensweltlichen Kontexten gewonnen werden. Perspektivisch kann dann auch dem negativen Einfluss auf Sozialisationsprozesse von Jugendlichen entgegengewirkt werden.


Literatur

Baier, Jakob (2019a): Die Echo-Debatte: Antisemitismus im Rap, in: Salzborn, Samuel (Hg.): Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen, Baden-Baden, 108-131.
Baier, Jakob (2019b): „Mache Cash, wie die Rothschilds“ – Antisemitismus im deutschsprachigen Rap, in: Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung Baden-Württemberg et al. (Hg.): Wahrnehmen – Benennen – Handeln. Handreichung zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen, 52-54.
Baier, Jakob (2020): Judenfeindschaft in Kollegahs Apokalypse, in: Höllein, Dagobert / Lehnert, Nils / Woitkowski, Felix (Hg.): Rap – Text – Analyse. Deutschsprachiger Rap seit 2000. 20 Einzeltextanalysen, 187-201.
Balzer, Jens (2019): Pop und Populismus. Über Verantwortung in der Musik, Hamburg.
Huber, Michael (2018): Gangsta-Rap – Wie soll man das verstehen?, in: BPJM-Aktuell 3.
Miklis, Katharina (2011): Bambi für den Bösewicht, www.stern.de/kultur/tv/integrationspreis-fuer-bushido-bambi-fuer-den-boesewicht-3876680.html#:~:text=Die-Kritik-war-hart.,die-Band-Rosenstolz-bezog-Stellung.
Süß, Heidi (2018): Sex(ismus) ohne Grund? Zum Zusammenhang von Rap und Geschlecht, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Rap, 68/9, 27-33.
Süß, Heidi (2019): „Ich wär’ auch gern ein Hipster, doch mein Kreuz ist zu breit“ – Die Ausdifferenzierung der HipHop-Szene und die Neuverhandlung von Männlichkeit, in: Böder, Tim et al. (Hg.): Stilbildungen und Zugehörigkeit. Materialität und Medialität in Jugendszenen, Wiesbaden, 23-44.