Anne Richards

Mission und Brexit

Die Motive der „Leave“-Wähler - Anfragen an die Kirche

Zur Brexit-Entscheidung kam es, weil sich aus inneren und äußeren Faktoren ein perfekter Sturm zusammengebraut hatte, gespeist aus einer verstörenden Mischung besonderer und unvorhersehbarer Ereignisse (einschließlich der Ermordung einer Parlamentsabgeordneten des Pro-EU-Flügels).2

Beim Referendum am 23. Juni 2016 stimmten 52 % für den EU-Austritt. Es gab deutliche regionale (Schottland und London waren insgesamt für den Verbleib) sowie altersmäßige Unterschiede (die meisten der Jüngeren, die abgestimmt haben, stimmten für den Verbleib). Neben weiteren Faktoren spielten Bildungsniveau und Nationalbewusstsein wohl eine Rolle beim Wahlverhalten. In verarmten und vernachlässigten Gegenden sowie in solchen, in denen ein starker und schneller sozialer Wandel stattgefunden hatte, war – insgesamt gesehen – eine Mehrheit für den Ausstieg („Leave“).

Inzwischen wurde gemutmaßt, dass viele Wähler nicht wirklich verstanden hatten, wofür sie da stimmten (bzw. dass es ihnen egal war): Sie haben ihre Stimme genutzt, um gegen die Regierung und die Austeritätspolitik zu protestieren. Viele haben wohl nicht erwartet, dass die Brexit-Fraktion gewinnen würde, und jetzt bereuen sie ihre „Leave“-Stimme. David Cameron wurde dafür kritisiert, dass er das Referendum – vielleicht von einer Entscheidung pro EU ausgehend – initiiert hatte, und den EU-Gegnern wurde vorgeworfen, sie hätten nicht richtig dargelegt, was ein EU-Ausstieg wirklich bedeute. Beiden Seiten wurde vorgeworfen, im Falle eines Neins zur EU gar keinen Plan gehabt zu haben.

Trotz allem: Ein Referendum ist direkte Demokratie, eine Chance für jeden Wahlberechtigten, sich Gehör zu verschaffen und über etwas mitzubestimmen, das ihn direkt betrifft. Was immer man von der Mehrheitsentscheidung halten mag: Sie deckt Dinge auf, die im täglichen Leben vielleicht nicht so offensichtlich sind. Es kann ans Licht kommen, wie Menschen ihr eigenes Leben empfinden, was sie über ihre Zukunft denken und über ihre Nachbarn. Eine Volksabstimmung kann eine Art Erlaubnis sein, Sorgen, Hoffnungen, Befürchtungen und Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Wir mögen das Ergebnis womöglich nicht, es schockiert uns vielleicht sogar, aber wir können nicht selbstzufrieden sein oder so tun, als hätten diese Dinge keine Bedeutung – schon deshalb nicht, weil einiges davon die Kirche betrifft und die Art und Weise, wie sie in der Gesellschaft vorkommt, ebenso ihren missionarischen Auftrag und das, was sie zu tun versucht.

„Zuallererst müssen wir hören – und zwar besonders auf das, was in den englischen und walisischen Nazareths gesagt wird, den unscheinbaren, abgehängten Orten, denen der moderne Kapitalismus keinen Wert beimisst.“3 Die östlich von London gelegene Verwaltungseinheit Thurrock4 ist vielleicht eins dieser Nazareths. Dort stimmten 72,3 % für den Brexit (57 765 Stimmen, das vierthöchste Ergebnis überhaupt). In den Monaten nach dem Referendum wurden zahlreiche Gespräche mit „Leave“-Wählern geführt.5 Daraus ergab sich eine Reihe von Punkten, aus denen Kirchen, die in Mission und Diakonie engagiert sind, ihre Lehren ziehen können.

„Leave”

Gleich nach dem Referendum tauchte in Thurrock ein Mann auf dem Parkplatz eines Supermarkts auf und begann, Menschen afrikanischer und asiatischer Herkunft anzuschreien, die frühmorgens beim Einkaufen waren. Sie hätten jetzt das Vereinigte Königreich zu verlassen. Gefragt, warum er das tue, gab er zur Antwort, „Leave” hätte gewonnen, und sie sollten schon mal ihren Koffer packen. Als man ihn darauf hinwies, es sei über das Verlassen der EU abgestimmt worden, blieb er trotzdem dabei, dass es darum gegangen sei, „Fremde“ hinauszubekommen. „Ich bin da reingegangen [in das Wahllokal] und habe ein verdammt großes Kreuz bei ‚Leave‘ gemacht, kapiert? Ein verdammt großes Kreuz. So habe ich abgestimmt. Wir kriegen unser Land zurück.“

Die meisten Passanten haben den Mann einfach ignoriert, aber Margaret Swinson, ein prominentes Mitglied sowohl der anglikanischen Kirche als auch der ökumenischen Organisation „Churches Together in Britain and Ireland” schrieb am 26.6.2016 auf Facebook: „Wir fühlen uns verwundbarer denn je, und viele Berichte in den sozialen Medien bestätigen, dass dieses Gefühl berechtigt ist. Ich persönlich habe in den letzten 35 Jahren keine so große Gefährdung gesehen wie jetzt. Die Bestie des Fremdenhasses ist wahrhaftig aus dem Käfig.“ Wenn diese erst einmal losgelassen ist, zerstört sie schnell alles, was Freundlichkeit, Gastfreundschaft, Versöhnung, das Sich-Kümmern um andere erreicht haben. Mit unserer Gesellschaft Unvereinbares, das unterschwellig vor sich hinbrodelt, kann die hauchdünne Schutzschicht der Toleranz durchbrechen und unserer Gesellschaft enormen Schaden zufügen. Es ist, wie wenn Eiterbeulen schlechten Benehmens aufplatzen.

Ungeachtet dessen, was als nächstes passieren wird, ist zu fragen: Was können die christlichen Kirchen, ja, alle gläubigen Menschen tun, um zu verstehen, was sich im Leben der Menschen abspielt und zur Brexit-Entscheidung geführt hat? Und was können sie tun, um diese Probleme anzugehen?

Der auf dem Parkplatz herumschreiende „Leave“-Verfechter brachte etwas zum Ausdruck, über das Christen nicht gern nachdenken. Bei der Entscheidung für „Leave“ spielt ein Gefühl mit, persönlich bedrängt zu sein, am Ersticken, aber auch ein Gefühl, dass die Gesellschaft überrollt wird vom demografischen Wandel, vom Druck auf öffentliche Dienstleistungen, von verschärftem Wettbewerb um Jobs und von dem Gefühl, dass eine unkontrollierbare Veränderung zum Schlechten hin stattfindet, die alles untergräbt, was man wertschätzt und liebt.

Die Menschen in Thurrock haben davon gesprochen, dass sie dies rein physisch erfahren: überfüllte Züge und Busse, verstopfte Straßen, Schmutz und Müll, überfüllte Schulen und Arztpraxen und – ironischerweise – zum Bersten volle Kirchen. Sie sprachen auch davon, sich im psychologischen Sinne beeinträchtigt und besetzt zu fühlen. Die Gesellschaft, auf die sie stolz waren und die sie liebten, habe sich verändert und so entwickelt, dass man sich ihrer schäme.

Mitunter wurde die Bestie der Fremdenfeindlichkeit schon von der Leine gelassen. Gleich nach der Brexit-Abstimmung stieg die Zahl der angezeigten Hassdelikte in Thurrock um 50 %. Gewalt war glücklicherweise nur selten im Spiel, aber es gab allgemein in Essex ein verstärktes Polizeiaufgebot nach dem Mord an einem Polen in Harlow. Und wir sollten nicht vergessen, dass es im Zusammenhang mit dem Referendum zu einer extremen Gewalttat kam: Eine junge, für den Verbleib in der EU engagierte Parlamentsabgeordnete wurde von einem Mann getötet, der „put Britain first” geschrien hat. Der Mord an Jo Cox war eine Tragödie: für ihre Familie, für ihre Wähler, für das Land. Aber was auch immer im Kopf ihres Mörders Thomas Mair vorgegangen ist – es ist ebenfalls eine Tragödie, bei der all das, was in einem Menschen vernünftig und gut ist, zur hässlichen Fratze einer gestörten, von pervertiertem Nationalismus geprägten Gewalttat entstellt wurde. Wir dürfen die Augen vor der Gewalt nicht verschließen, denn die Gewalt, die im Kielwasser des Brexit-Referendums mitschwimmt, tritt in Erscheinung in Form von Hassbotschaften und Drohungen gegen andere, sogar gegen kleine Schulkinder.6

Von welchen Menschen aus unseren Kirchen und Gemeinden hätten wir – wenn wir ehrlich sind – am liebsten, dass sie gehen? Es zeigte sich, dass das eine interessante Frage war. In der Regel sollten diejenigen gehen, die den Befragten von der Hautfarbe, der Volkszugehörigkeit oder der Muttersprache her am unähnlichsten waren. Eine Kirchenbesucherin sagte, sie würde eine Reihe schwarzer Familien gern von hinten sehen, die in die Kirche kommen und hinten respektlos schwätzen, aber nicht die schwarze Familie, die in ihrer Straße wohne, denn die kenne sie, und nettere Leute könne man sich gar nicht wünschen. Andere Gruppen wurden als störend eingestuft, als gefährlich oder als zu bedürftig: illegale Einwanderer, prügelnde Ehemänner, Trunkenbolde aus Europa, Zigeuner, Kriminelle und „potenzielle Terroristen“. Allerdings sagten Kinder und Jugendliche, sie wären gerne Rabauken, Spinner und sexuell Übergriffige los.

Immer wieder das Thema „Eliten“

Es wird angenommen, dass eine große Zahl von Brexit-Wählern so abgestimmt hat, weil die regierenden Eliten das Land in der EU halten wollten. Für den Brexit zu stimmen, war eine Möglichkeit, David Cameron und der Regierung zu sagen, dass sie – wenn man ihnen eine Stimme gäbe – gegen die Spannungen und Sorgen in ihrem eigenen gesellschaftlichen Umfeld protestieren würden, wo sie das Gefühl haben, die Oberen hörten ihnen überhaupt nicht zu.7 Dabei geht es mehr um Protest als darum, ein gutes Ergebnis zu bekommen.8

In Thurrock wurde auffällig oft erwähnt, dass das Referendum die Gelegenheit geboten habe, den Eliten die Nase blutig zu schlagen. Eine Fraktion von Leuten war besonders wütend wegen eines lokalen Themas: des Baus einer weiteren Brücke über die Themse, durch die ein Teil des Verkehrs von der M25 abgeleitet und mit einer neuen Verkehrsführung durch Thurrock gelenkt würde. Der Stau auf der A25 verursacht oft einen völligen Verkehrsstillstand auf Thurrocks Straßen. Viele meinten, dass die Parlamentsabgeordnete Jackie Doyle-Price (Konservative), die Thurrock vertritt, und die Regierung nicht auf die Sorgen der Bürger wegen der Verkehrsbelastung hören würden. Außerdem wehrten sich viele dagegen, dass Thurrock durch die neue Brücke noch mehr zum Durchgangstor von und nach Europa werden würde – nicht nur für Europäer, sondern auch für Migranten, Asylsuchende und Flüchtlinge.

In Thurrock gibt es eine erhebliche Anzahl an UKIP-Unterstützern und auch von Anhängern der rechtsextremen Parteien BNP (Britisch National Party) und „Britain First“.9 Faschistische Bewegungen rekrutieren ihre Klientel nicht aus den politisch Aktiven, sondern den Inaktiven, den Verlierern, die – oft mit Recht – meinen, dass sie keine Stimme haben und für das politische Establishment keine Rolle spielen (Chris Hedges).

Schuttabladeplatz für die Reichen

Als eine Gruppe von Leuten aus Thurrock (unter ihnen Kirchgänger) gefragt wurde, warum sie für „Leave“ gestimmt haben, waren sie sich einig, sie hätten mit Vergnügen die Chance ergriffen, ihrer Verzweiflung und Bestürzung Ausdruck zu verleihen: über den Zustand von Thurrock, wie es zum „Abort“ geworden sei, zu Londons „Schutthalde“. Man sprach über das Wegwerfen von Müll im wörtlichen Sinne (Fallenlassen von Abfällen, illegale Entsorgung etc.) und über Vernachlässigung, schlechte Luft und Verschmutzung „aus London“. Aber man sprach auch über das „Abladen“ von Menschen, z. B. den Zufluss illegaler Einwanderer, die über den Hafen von Tilbury kommen oder am Rastplatz an der M25 aus Lastwagen ausgekippt werden und dann in die Städte kommen. Die Befragten sprachen voller Mitgefühl von den Menschen, die zum Opfer der Schleuser werden und in Containern sterben. Doch gleichzeitig empfinden sie Wut und Bestürzung darüber, dass die Bewohner Thurrocks „ständig die Scheiße anderer Leute wegschaufeln“ müssten. Einige sagten, dass nur UKIP-Kandidaten persönlich aufgetaucht seien und Missstände beim Namen genannt hätten, die sich mit ihrer eigenen Liste deckten. Sie seien bei der Wahl solidarisch gewesen mit denen, „die wissen, wie es ist“.

Sich als Müllhalde zu fühlen, hat den Stolz der Menschen auf ihre Region, ihre Würde untergraben. Dass ihre Region für den Kontinentalverkehr zerrissen und mit fremdem Müll übersät wird, dass sie gebeten werden, mit Menschen als Nachbarn zusammenzuleben, die sonst niemand will, die Wut über das alles brach sich in der Brexit-Entscheidung Bahn. Die Menschen sahen den Brexit als Chance, sich von dem abzukoppeln, was auf sie einströmt.

„Taking back control“

Der Slogan „Taking back control“ war ein genialer Schachzug der Leave-Kampagne. Damit traf sie genau ins Schwarze der Ängste vieler Menschen.10 Viele der an den Rand Gedrängten hatten generell das Gefühl, dass ihr Leben von Mächten bestimmt wird, die sie weder wirklich sehen noch verstehen können. Man identifizierte in diesem diffusen Nebel der Kontrollierer „Europa“ als einen der schlimmsten – mit seinem Regulierungswahn, stupiden Vorschriften wie zur „richtigen Sorte“ Bananen und weil mit Europas Erlaubnis Wirtschaftsflüchtlinge aus der EU die Gemeinden infiltrierten und wie Feudalherren Steuergelder beanspruchten. Dieses Empfinden hatte man sogar in Regionen, für die nachgewiesen werden konnte, dass sie von EU-Zuschüssen profitierten.

Die Leave-Kampagne verband den Slogan „Taking back control“ mit Beispielen, wie diese Kontrolle aussähe: Reduzierung des Zuzugs (und Immigranten werden nach Hause geschickt); Einstellung der Zahlungen an die EU, das Geld werde ins Gesundheitssystem gesteckt (sodass die britische Bevölkerung direkt davon profitiere); Errichtung von Grenzen, die dem eigenen Schutz dienen und unwillkommene Menschen heraushalten. Es spielt keine Rolle, dass solche Forderungen falsch waren und jetzt auch abgestritten oder überarbeitet wurden. Sie waren genau auf die Befindlichkeit jener zugeschnitten, die das Gefühl haben, völlig außen vor zu sein, wenn es darum geht zu bestimmen, wie das Land funktioniert. Die Kampagne versprach den Menschen, was sie am liebsten hören wollten: Autonomie im Privaten und im Politischen.

Victor, ein Klempner, sagte, das Thema Gesundheitssystem habe bei seiner Entscheidung für „Leave“ eine besondere Rolle gespielt. Er hatte sich kurz vorher bei der Arbeit schlimm geschnitten und ging in die Notaufnahme, um sich behandeln zu lassen. Er wartete dort den ganzen Abend und die ganze Nacht, bevor man sich um ihn kümmerte. Es beunruhigte ihn, dass sehr viele andere auch noch warteten, darunter viele „Fremde“. Er fragte sich, wo sie wohl herkamen, was ihnen fehlte, aber er dachte auch, dass sie nicht „englisch“ sein konnten und dass sie das Personal beanspruchten und damit verantwortlich dafür waren, dass er selbst erst am Ende der Schlange drankam, seine Schmerzen sich verschlimmerten und seine Arbeitsfähigkeit gefährdet wurde. Er sagte, er habe sich nicht beschwert und es sei selbstverständlich für ihn gewesen, den anderen im Wartezimmer beizustehen, aber dennoch sei er nicht dagegen angekommen, verbittert und frustriert zu sein.

Es wird behauptet, dass die weniger Gebildeten eher für den Austritt gestimmt haben. Victor könnte man zwar als weniger gebildet bezeichnen, aber seine Äußerungen waren sehr reflektiert. Seine Geschichte zeigt: Worauf es ankommt, sind die persönlichen Erfahrungen. Nur wenige interessiert das Gesundheitssystem als Ganzes – abgesehen davon, dass sie ihren Beitrag bezahlen und dass es „ihres“ ist. Es interessiert sie aber, was geschieht, wenn sie krank sind, und dass sie dann, obwohl sie besorgt sind, u. U. lange auf einen Arzttermin warten müssen. Wenn jemand, dem es nicht gutgeht, gesagt bekommt, er müsse drei Wochen auf einen zehnminütigen Termin beim Hausarzt warten, dann schließt er daraus, dass eine drei Wochen füllende Menschenmenge vor ihm dran ist. Und diese Menschen bekommen die Aufmerksamkeit, die er selbst gerade jetzt nötig hat. Das an sich schon befeuert den Unmut gegenüber all jenen schattenhaften anderen, die bekommen, was sie brauchen.

Der „Babel-Faktor“

Gefragt, warum sie für „Leave“ gestimmt habe, hat Wendy, eine alleinerziehende Mutter mit zwei kleinen Kindern, zum Ausdruck gebracht, was viele beklagen: Wenn man in einem Supermarkt sei, in einem Café sitze, durch eine Einkaufsstraße gehe oder Zug fahre, dann höre man keinen einzigen Menschen Englisch sprechen. Zum Beweis ließ sie den Blick durch das Stehcafé schweifen, in dem sie befragt wurde. Es stimmte: Man hörte vor allem Französisch, Polnisch, Rumänisch, Türkisch und Gujarati.

Die meisten Leute unterhielten sich beim Kaffeetrinken mit Familienangehörigen übers Einkaufen, über die Arbeit, Kindererziehung etc. – für einen, der mehrere Sprachen versteht, sind das alles normale Themen. Doch diese Kakofonie der Stimmen machte Wendy, die keine Fremdsprache spricht, nervös und löste bei ihr das Gefühl aus, englischsprachige Menschen seien Geiseln in ihrem „eigenen“ Land. Wendy: „Ich bin von Menschen umgeben, aber ich kann mich mit niemandem unterhalten.“

Die Zukunft, für die wir gekämpft haben

In Thurrock sind das Nationalbewusstsein und der Stolz der Bürger auf diejenigen, die in den beiden Weltkriegen gekämpft haben, sehr ausgeprägt. In einer zu Thurrock gehörenden Stadt spielt diesbezüglich das Kriegerdenkmal im Stadtzentrum eine große Rolle. Aktivisten haben sich dafür eingesetzt, dass am Denkmal keine Autos parken dürfen, und gefeiert, als eine Frau wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses verurteilt wurde; sie hatte das Denkmal „entweiht“, indem sie in betrunkenem Zustand darauf uriniert hatte.11

Im Gespräch über seine Entscheidung für „Leave“ merkte der oben schon erwähnte Victor an, sein Großvater habe für die Freiheit und Zukunft des Landes gekämpft und würde sich im Grabe umdrehen, wenn er es in seinem jetzigen Zustand sehen könnte. Britannien sei in die beiden Weltkriege gezogen, um zu verhindern, dass das Land besetzt werde. Aber nun sei es doch besetzt worden, nicht mit Waffengewalt, sondern heimlich und durch das Recht auf Freizügigkeit in Europa.

Victor ging es auch um die Zukunft seiner Kinder, ständig erwähnte er „seinen Jungen“ (ebenfalls ein Installateur) und äußerte die Sorge, dass dieser sich vielleicht keine vernünftige Zukunft werde aufbauen können, weil sein Berufszweig ständig von billigen Arbeitskräften aus Polen unterwandert werde.

Weitere Beobachtungen und Erfahrungen an der Basis

Eine Gruppe junger Polizisten hat geschlossen für „Leave“ gestimmt mit dem Argument, Wirtschaftsflüchtlinge aus der EU verursachten Probleme, die die „Liberalen“ nicht sehen würden. Sie sagten, manche Migranten aus der EU arbeiteten legal und gingen nebenbei kriminellen Aktivitäten nach. Manchmal seien ihre Taten ziemlich speziell. Männer mit handwerklichen Kenntnissen (vom Bau, Zimmerleute, Schreiner) würden genau diese Fertigkeiten nutzen, um nebenbei Einbrüche zu begehen; manchmal kehrten sie sogar in die Häuser zurück, in denen sie vorher legal gearbeitet hätten. So etwas erschwere ihren Job, sagten die Polizisten, und ihr Mitgefühl stoße angesichts der lässigen Haltung der Verhafteten an seine Grenzen. Sie wollten Gerechtigkeit für die Opfer und mehr Möglichkeiten, um Migranten loszuwerden, die schon in ihrem Herkunftsland ein Strafregister hätten.

Interessanterweise klagte in Thurrock eine Gruppe Obdachloser über Osteuropäer. Sie selbst träfen sich morgens immer auf einer Wiese bei der Kirche, um gemeinsam zu saufen. Sie beklagten sich nun über eine Gruppe von Migranten, die sich, ebenfalls in der Nähe der Kirche, auf einen Zaun setzten und dort Bier tranken, bevor sie zur Arbeit gingen. Obwohl die Arbeiter freundlich waren und ihnen Bier anboten, empfanden die Obdachlosen sie als Eindringlinge in „ihr“ Territorium. Einer der Obdachlosen warf einem der Arbeiter vor, er habe ausgespuckt und an den Zaun gepinkelt – vor einer Mutter mit ihrem kleinen Kind. „Weiß der nicht, was sich gehört?“

Um ungeschriebene Verhaltensregeln drehte sich manches, was die Thurrocker Bürger sagten. Sie merkten an, die Freundlichkeit der Einheimischen werde entweder durch die „Fremden“ missverstanden oder auch auf unangemessene Weise eingefordert. Ähnlich äußerten sich Mitarbeiterinnen einer Arztpraxis: Alteingesessene ältere Leute säßen ruhig im Empfangsbereich, seien dankbar, wenn man sich um sie kümmere und sagten „bitte“ und „danke“, während (typischerweise afrikanische) junge Frauen oft ohne Termin kämen, sich vordrängelten, unangemessene Forderungen stellten und manchmal einfach so lange herumschrien, bis sie erreicht hätten, was sie wollten. Man fand, es wäre gut, wenn Leute weggingen, die nicht wissen, wie man sich benehme und keine Rücksicht auf andere nehmen.

„Wer Geld hat, stimmt fürs Drinbleiben, wer kein Geld hat, stimmt für ‚Leave‘.“12 „Die Jungen stimmten mehrheitlich fürs Drinbleiben. Wir können nicht zulassen, dass verblendete Alte ihre Zukunft zerstören.“13 In Thurrock wurde eine Gruppe junger Leute (16 – 20 Jahre) gefragt, wie sie abgestimmt haben oder hätten. Das Ergebnis war 50/50. Je ärmer sie sich allerdings fühlten, desto eher stimmten sie für „Leave“, einfach um eine Veränderung herbeizuführen. Nach den Auswirkungen auf die Wirtschaft befragt, sagten einige, sie hätten nichts zu verlieren. Die Entscheidung für den Brexit sei gut, weil sich dadurch jeder Sorgen machen müsse, ärmer zu werden. So müssten Leute, die ein bequemes Leben führten und sich nicht für diejenigen interessierten, die kämpfen müssten, sich jetzt darüber Gedanken machen, ihr behagliches Leben könnte zerstört werden. Und da diese Leute an der Macht seien, würden sie vielleicht plötzlich aktiv.

Kirche und Mission

„Durch schlaue Reden von außerhalb erreicht man nichts. Geduldiges Engagement ist nötig: dass man zuhört und Beziehungen aufbaut. Von einer solchen Geduld war das Wirken Jesu geprägt. Er hat die Menschen nicht von außen darüber belehrt, dass man Samaritaner willkommen heißen müsse, sondern er lebte und arbeitete 30 Jahre in Nazareth, bevor er diese den Menschen viel abverlangende Gastfreundschaft auslebte. Die anglikanische Kirche hat mit der ‚Remain‘-Kampagne einige demografische Schwächen gemeinsam: einen unverhältnismäßig hohen Akademiker- und Mittelschichtanteil. Aber die Kirche bleibt, vorerst wenigstens, in den ärmsten Stadtbezirken präsent und engagiert sich dort, unter Menschen aus gesellschaftlichen Gruppen, die mit dem derzeitigen Wirtschaftsgefüge am schlechtesten zurechtkommen. Sie kann bei der Versöhnung unseres Landes eine entscheidende Rolle spielen. Diese erreicht man nicht durch vage Appelle an die Nettigkeit, sondern indem man sehr genau auf die Sorgen der Menschen hört und denen, die jetzt darin bestärkt werden, einander als Rivalen zu sehen, dabei hilft, gemeinsame Interessen zu entdecken: sich zusammen für bezahlbaren Wohnraum einzusetzen, gegen ausbeuterische Kredite, für Löhne über dem Existenzminimum usw. Die folgenden beiden Themen sind natürlich eng miteinander verbunden: soziale Gerechtigkeit für die gesellschaftlichen Gruppen, die durch den Kapitalismus abgehängt wurden, und eine geistliche Fundierung unseres gemeinschaftlichen Lebens. Die Kirche ist dazu aufgerufen, nach einem Evangelium zu leben, das die einzigartige Würde jedes Menschen betont, dessen wahre Erfüllung in einer Gemeinschaft liegt, die Gott verehrt und in der seine Gnade und Gerechtigkeit entfaltet wird. Es ist nicht angebracht, sich aus einer privilegierten Position heraus oder in selbstgerechter Manier zu äußern, sondern es geht darum, in der Nachfolge Christi in Englands Nazareths zu gehen – mit demütigem und reumütigem Herzen.“14

In gewisser Weise könnte man sagen, dass die Kirche ihr eigenes – sich lange hinziehendes – Referendum abhält, ob man bleiben soll. Und man könnte fragen, ob rückläufige Zahlen bei den Gottesdienstbesuchern, ungeachtet der gesellschaftlichen Veränderungen, die es den Menschen erschweren, in diesem Land zur Kirche zu gehen, nicht wie eine in die Länge gezogene Welle der „Leave“-Wähler ist.15 Gibt es tatsächlich eine Fraktion von Menschen, die sich als Christen sehen und weitgehend an ihrem Glauben festhalten, aber nicht bereit sind, weiterhin einer Institution anzugehören, die von abgehobenen Eliten geführt wird, die ständig um Geld bittet und es anderswo ausgibt und die die Nöte, Ängste und Bedürfnisse der einzelnen Mitglieder nicht richtig zur Kenntnis nimmt? Wenn da etwas dran ist, dann stellt sich die Frage, welche Lehren in Bezug auf Mission und Verkündigung aus dieser Abstimmung gezogen werden können.

Die „Nazareths“ und die Eliten

Zuerst sollten wir vielleicht feststellen, wie man uns Kirchenleute sieht: Als wie weit weg, als wie privilegiert werden wir angesehen, in welchem Umfang wirft man uns vor, auf unserer Sicht der Dinge zu beharren und nicht zuzuhören? Entscheiden sich nur diejenigen, denen es wirtschaftlich gutgeht, fürs Bleiben, während diejenigen, die kämpfen müssen, sich herausgedrängt fühlen? Einige, die in Thurrock gefragt wurden, was sie von der Kirche halten, äußerten sich positiv über den Erzbischof von Canterbury wegen seiner Äußerungen über Wonga16 (einige hatten sich dort Geld geliehen). Einem von ihnen fiel dann jedoch ein, dass er in einer Boulevardzeitung gelesen hatte, es sei aufgedeckt worden, dass Bevollmächtigte im Auftrag der Kirche bei Wonga Geld investiert haben. Das betrachtete man als typisch für die Privilegierten und Wohlhabenden, die in ihrer Ignoranz nicht erkennen, was die Menschen verletzt, die „unten“ sind.

Wenn man in einem modernen Nazareth lebt, kann man sich durch die Ausdrucksweise und das Benehmen der religiösen „Elite“ vor den Kopf gestoßen fühlen. Eine Frau erzählte, sie sei in der Kirche vom Pfarrer gefragt worden, wo sie denn die letzten drei Sonntage gewesen sei. Sie hatte weder die Zeit noch das Geld für den Weg aufbringen können und fühlte sich verletzt, dass man sie gefragt hatte, warum sie nicht da war, statt lobend anzuerkennen, dass sie die Anstrengung auf sich genommen hatte, jetzt zu kommen. „Er muss nirgends hingehen. Ich dagegen musste mit dem Bus fahren und sogar umsteigen. Nächste Woche erspare ich mir das.“ Hier schwingt so etwas wie „Protestabstimmung“ mit und der Wunsch, der Elite eins auszuwischen.

Ein anderer Kirchenbesucher, der für den Brexit gestimmt hatte, zog explizit eine Parallele zwischen dem Brexit-Referendum und seiner Erfahrung mit Kirche. Er hatte an einer Bibelstunde teilgenommen und dort etwas zu einem Bibelvers gesagt. Daraufhin meinte einer der Gemeindeleiter, er habe unrecht. Als er fragte, warum denn seine Meinung weniger gelte als die anderer, bekam er zur Antwort, er hätte nicht Theologie studiert. Als er vorbrachte, er lese die Bibel und bitte Gott, ihn dabei anzuleiten, da bekam er zu hören, das sei ja schön und gut, aber er brauche auch die Anleitung durch Leute, die wüssten, wovon sie sprächen. Er meinte dann, diese demütigende Erfahrung sei genauso gewesen wie das, was vor dem Referendum zu hören gewesen sei: „Ihr versteht das alles nicht, deshalb müsst ihr auf uns hören.“ Er habe beim Referendum aufgrund seiner Erfahrung und mit dem Herzen abgestimmt, genauso, wie er auch seine Bibel lese.

Zu viel Nettigkeit?

„Christen ist sicherlich aufgetragen, Ängste kleinzuhalten und das Ideal einer Welt hochzuhalten, in der das Wohl jedes Einzelnen untrennbar mit dem Wohl aller verbunden ist, national und global gesehen; das Modell des Leibes Christi“ (Rowan Williams).17

Zu dem Gefühl, keinen Einfluss und keine Stimme zu haben, kommt auch noch die Befürchtung hinzu, nicht als richtiger Christ angesehen zu werden. Einige der „Leave“-Wähler unter den Kirchgängern sagten, sie wagten es nicht, über ihre Ängste und Sorgen in Bezug auf die „anderen“ zu sprechen und darüber, dass der „Babel-Effekt“ sie verstöre. Das hat die interessante und beunruhigende Frage aufkommen lassen, ob das vorherrschende Reden über Freundlichkeit, Mitgefühl, Gastfreundschaft und Willkommenskultur nicht womöglich „unaussprechliche“ Sorgen unterdrückt hat, die sich dann zu Verbitterung verhärtet haben und sogar zu Wut, Rassismus und Hass.

Ein betagter Kirchgänger, der mehr als siebzig Jahre lang treu gekommen war, sprach darüber, wie seine gut besuchte und wachsende Gemeinde sich während der letzten zwanzig Jahre verändert habe: von 95 % „weiß“ zu 95 % „schwarz“. Auf der einen Seite äußerte er sich beglückt über das Wachstum und die Lebendigkeit der Gemeinde, auf der anderen Seite aber besorgt. Er konnte vieles von dem, was vorne gesprochen wurde, wegen des starken Akzents der Redenden nicht verstehen, sodass er den Lesungen und Gebeten nicht folgen konnte. Außerdem brachte es ihn in Verlegenheit, dass er die Namen von einigen der neuen Gemeindeglieder nicht aussprechen konnte. Er mochte die neuen Musikstile, die die Leute mitgebracht hatten, aber er kannte die Lieder nicht und konnte nicht mitsingen. Am schmerzlichsten aber war die Erfahrung, die er machte, als er eines Tages in die Kirche kam und dort von jemandem willkommen geheißen wurde, den er nicht kannte und der ihn auch nicht kannte und annahm, er sei zum ersten Mal da. Er gab zu, dass er deshalb später zu Hause geweint hat und dass er von Traurigkeit und Wut übermannt wurde, weil man ihn in seiner eigenen Kirche nicht kannte. Er schämte sich für seine Wut und wollte sie eigentlich nicht zugeben. „Ich liebe alle in meiner Kirche“, sagte er, „aber es kommt jetzt etwas aus mir heraus, das einfach nur … rassistisch ist.“ Er sagte auch, er traue sich nicht zuzugeben, dass er für „Leave“ gestimmt habe, aus Angst, das könne als unfreundlich gegenüber anderen Gemeindegliedern aufgefasst werden.

„Es ist nicht rassistisch zu sagen, dass die hohe und schnell gestiegene Einwanderungsquote das Land stark verändert hat und einige diese Veränderungen als zu groß empfinden … oder dass eine Schule, in der ein großer Anteil der Schüler einer religiösen Minderheit angehört, sich ziemlich schnell verändern kann. Wenn man über die damit zusammenhängenden Probleme nicht spricht, entstehen nur noch mehr Spannungen.“18

Canon Janice Price hat die wichtige Erkenntnis formuliert, dass die Begegnung mit dem anderen, insbesondere im interkulturellen Kontext, die Welt kleiner und das Wissen um Erfahrungen mit Gott größer werden lasse. Aber man muss auch fragen, wie solche Begegnungen gehandhabt werden und was schiefgehen kann. In der Kirchengemeinde, um die es eben ging, hat sich der Wandel extrem schnell vollzogen, und die Gemeinde ist so außerordentlich schnell gewachsen, dass Gottesdienstbesucher aus Sicherheitsgründen abgewiesen werden müssen. Die Abgewiesenen sind oftmals Ältere – die Langsamsten und Schwachen –, die dann erstaunt feststellen, dass sie tatsächlich nicht in ihre „eigene“ Kirche gelassen werden. In solchen Fällen war zwar die Mission erfolgreich, hat aber auch Probleme mit sich gebracht: ein Gefühl des „Besetztwerdens“ und des Verlusts seitens der treuen Gemeindeglieder. Gerät womöglich das „Wohl aller“ (s. o. Rowan Williams) aus dem Blick, während man sich zu wachsenden und erfolgreichen Gemeinden gratuliert? Und was passiert mit denen, die durch den „Erfolg“ der Mission ausgebootet werden?

Erwartungen an die Kirche

Der schon zitierte Installateur Victor erzählte begeistert und bewegend von der bevorstehenden Taufe seiner Enkelin. Er freute sich darauf, dabei zu sein, und träumte von ihrer Zukunft. Aber er sprach auch davon, dass er das Gefühl haben wolle, über sein religiöses Leben selbst bestimmen zu können, und davon, dass seine Familie im Blick auf ihre religiöse und kulturelle Zukunft die richtigen Entscheidungen treffen müsse. Diese ist in seiner Vorstellung geprägt von „Englishness“ und davon, dass die Gemeindeglieder gegenüber der Kirche Ansprüche haben. Die Kirche hat sich um das zu kümmern, was er für sein geistliches Wohl braucht.

Die Church of England ist für ihn etwas, auf das man stolz ist, Teil seines kulturellen Erbes, aber er sieht sie durch Interessengruppen in diese oder jene Richtung gedrängt. Victor sagte, er wolle eine Kirche, die die Institution Familie wertschätze, in der seine Enkelin in den Kindergottesdienst gehen könne, die für sie da sei, wenn sie Hilfe brauche, die später für ihre kirchliche Trauung sorge und ihn selbst beerdige. Er wolle aber nicht, dass man ihm vorschreibe, wie er zu leben, wie er seine Angelegenheiten zu regeln und wie er seinen Pflichten als Christ nachzukommen habe. Er habe das Gefühl, andere Religionen hätten besondere Privilegien, die er nicht habe. Für die Kirche müsse gelten: „Britain first“. Leute aus der weißen Arbeiterschicht wie er und „sein Junge“ seien die treuesten Kirchenmitglieder. Für Victor ergibt sich aus seinem Stolz auf sich und auf das, was er erreicht hat, notwendigerweise Großzügigkeit gegenüber anderen: für sie etwas zu tun. In einer Position zu sein, in der man von anderen, die anders sind als man selbst und seine Familie, etwas bekomme, das sei komisch und irgendwie falsch. Dieser Punkt war ihm besonders wichtig.

Die Bedürftigen

Christen, die für „Leave“ gestimmt hatten, sagten auch, sie seien besorgt in Bezug auf soziales Engagement und die christliche Pflicht, Bedürftigen zu helfen. Viele meinten: Wenn es in Thurrock weniger Einwanderer und Flüchtlinge gäbe, wenn Thurrock weniger stark „überrannt“ würde, dann könnte man sich wirkungsvoller um diejenigen kümmern, die wirklich Hilfe brauchen. Man brachte zum Ausdruck, dass sich eine gewisse Erschöpfung ausbreite, dass man sich von denen erdrückt fühle, die sich in diversen Hilfsaktionen engagierten (Tafelläden, Angebote für Obdachlose oder Drogenabhängige, Frauenhäuser etc.). Mit besonderer Sorge sah man den Mangel an Dolmetschern vor Ort, und man erwartete, dass die Kirchen doch letztlich irgendwie einspringen würden, wenn die sozialen Dienste überfordert seien.

Schlussgedanken

Das Referendum war in mancherlei Hinsicht eine wichtige Chance: Es hat ermöglicht, verborgene Gedanken, Ängste und Gefühle zum Ausdruck zu bringen – als Nebenprodukt der eigentlichen Abstimmung. Es ist interessant, dass die Fragen rund um die britische EU-Mitgliedschaft, um die es bei der Abstimmung tatsächlich ging, als weniger wichtig (und vielleicht als undurchschaubar) angesehen wurden als die örtlichen und persönlichen Themen, die aus der Diskussion um das eigentliche Thema erwuchsen. Das bedeutete auch, dass populistisches Gerede (inklusive Lügen und Irreführung) sehr stark auf diese an die Oberfläche gespülten Sorgen und Gefühle einwirken konnte. Die Wirkungskraft des Wortes „Leave“ und von Slogans wie „Taking back control“ sowie die Vorstellung, riesige Summen könnten in das Gesundheitssystem fließen, und eine patriotische Sprache verschärften die Gefühle, die die Menschen in Bezug auf ihren Stadtbezirk und ihre persönliche Situation hegten. Und sie erlaubten schließlich, das Unsagbare zu denken und auszusprechen. „Ich liebe meinen Nächsten nicht.“

Es gibt in den Gemeinden alle möglichen Probleme, die bisher noch nicht thematisiert wurden. Sie werden zu einem explosiven Gemisch, wenn sie unter dem Deckel gehalten werden. Feindseligkeiten, Frustrationen und Abneigungen werden womöglich nur beiseitegeschoben, sodass sie nicht sichtbar sind, denn man soll ja liebevoll und seelsorgerlich miteinander umgehen, sozial engagiert und missionarisch sein. Aber das heißt nicht, dass solche Gefühle verschwinden. Sie werden zu einem erheblichen Hindernis der Mission und der Wahrnehmung sozialer Verantwortung. Wie können wir einen sicheren Raum schaffen, in dem Menschen ihre Ängste und Schwierigkeiten zur Sprache bringen und sicher sein können, dass man sie ernst nimmt? Wie schaffen wir das, während wir gleichzeitig das Wohl derer fördern, gegen die sich Ärger und Hass richten und deren Zukunft jetzt unsicherer, deren Leben komplizierter geworden ist? Die christliche Botschaft ist unzweideutig, die Psyche der Christen ist es nicht.

In den Nazareths von England und Wales kann der Prophet vielleicht keine Wunder für das Reich Gottes vollbringen. Und doch sind es diese Orte, an denen das Evangelium am dringendsten gebraucht wird.


Anne Richards


Anmerkungen

  1. Gekürzte Fassung des Originaltextes (aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Liebau).
  2. Vgl. Jonathan Chaplin, www.abc.net.au/religion/articles/2016/06/24/4488874.htm  (Abruf der angegebenen Internetseiten: 3.5.2017).
  3. Angus Ritchie, ebd.
  4. Zur Bevölkerungsstatistik vgl. www.thurrock.gov.uk/sites/default/files/assets/documents/jsna-demographics-population-v02.pdf
  5. Alle Namen geändert. Die Gespräche wurden u. a. an folgenden Orten geführt: Läden, Polizeistation, Arztpraxen, Tankstellen, Ämter, Bücherei, Kirchen, Schulen. Angesprochen wurden u. a.: Obdachlose, eine Jugendgruppe, eine Eltern-Kind-Gruppe, Pendler, kirchliche Gruppen, Einkaufsbummler, Ladeninhaber, eine Gruppe Sikhs, Einzelpersonen.
  6. Vgl. www.independent.co.uk/news/uk/politics/brexit-racism-uk-post-referendum-racism-hate-crime-eu-referendum-racism-unleashed-poland-racist-a7160786.html
  7. Vgl. dazu www.theguardian.com/education/2014/jun/09/boarding-schools-bad-leaders-politicians-bullies-bumblers?CMP=fb_gu
  8. Vgl. www.youtube.com/watch?v=ReRQ8DryTWQ .
  9. Vgl. www.gov.uk/government/consultations/lower-thames-crossing-route-options .
  10. Vgl. www.perc.org.uk/project_posts/thoughts-on-the-sociology-of-brexit
  11. Vgl. www.thurrockgazette.co.uk/news/14705504.Remorseless_mum_who_urinated_on_war_memorial_could_face_harsher_punishment_after_case_is_sent_to_crown_court_for_sentence/?ref=mrb&lp=11 .
  12. John Harris, www.theguardian.com/politics/commentisfree/2016/jun/24/divided-britain-brexit-money-class-inequality-westminster
  13. John Milbank, www.abc.net.au/religion/articles/2016/06/24/4488874.htm
  14. Angus Ritchie, www.abc.net.au/religion/articles/2016/06/24/4488874.htm .
  15. Vgl. www.churchofscotland.org.uk/news_and_events/news/recent/new_research_reveals_britains_christian_community_considerably_larger_than_expected .
  16. Britischer Onlineanbieter, der kurzfristige Kleinkredite vergibt – bei hohen Zinsen (Anm. d. Übers.).
  17. Rowan Williams, www.abc.net.au/religion/articles/2016/06/24/4488874.htm .
  18. Louise Casey, www.telegraph.co.uk/news/2016/09/14/teach-integration-to-prevent-extremism-government-backed-review .