Johanna Mängel und Wiebke Hövermann

„Mit dem Flow gehen"

Besuch beim „Berlinprojekt" - Kirche für die Stadt

Weltanschauungsarbeit befasst sich mit den Lehren und Lebensformen religiöser und weltanschaulicher Gemeinschaften. Eher selten wird beschrieben, wie die alltäglichen Kultvollzüge aussehen, die das religiöse Erleben einer Gemeinschaft ausmachen und die in der Mitgliederperspektive meist zentraler sind als die offiziellen Lehren. In einer losen Folge berichten wir daher von Besuchen im Kultus verschiedener Gemeinschaften und Kirchen. Es handelt sich dabei um Momentaufnahmen und persönliche Impressionen, die nicht den Anspruch erheben, die geistliche Praxis einer Gemeinschaft repräsentativ darzustellen.
 

Es ist ruhig am Sonntagmorgen im Frühjahr 2023 am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte. Der Platz wird von dem gewaltigen Bau der Volksbühne beherrscht. Den noch verschlafenen Großstadtcafés gegenüber liegt das Kino Babylon: Geschichtsträchtig, fraglos kultig und etwas heruntergekommen wirkt es auf uns, die wir vor den Kinoplakaten stehen und auf den Beginn des Gottesdienstes des Berlinprojekts warten. Ein extra aufgestelltes Schild vor dem Kinoeingang weist auf den Veranstaltungsort hin, vereinzelt betreten Menschen das Gebäude. Wir tun es ihnen gleich, befinden uns kurz darauf in einem großzügigen Foyer und erblicken angenehm überrascht zwei große mit Kaffee und Tee gefüllte Thermoskannen, aus denen man sich noch vor Beginn des Gottesdienstes ein Getränk in die bereitgestellten Pappbecher füllen kann. Ausgerüstet mit Kaffee bahnen wir uns den Weg durch das Foyer und passieren mehrere Tische, auf denen Flyer bereitliegen, die über das Berlinprojekt informieren und QR-Codes zur projekteigenen Website anbieten (www.berlinprojekt.com). Ein freundlicher junger Mann drückt uns Gottesdiensthefte in die Hand. Sie sind professionell designt, größtenteils in geschlechtergerechter Sprache verfasst und enthalten Liedtexte, Gebete, kurze Erläuterungen zu den einzelnen Gottesdienstelementen, Informationen zur Gemeindetätigkeit und Spendenaufrufe.
 

Verbindung von Stadt und Evangelium

Das „Berlinprojekt – Kirche für die Stadt“ wurde 2005 von den Theologen Christian Nowatzky und Konstantin von Abendroth gegründet. Die Verbindung von Stadt und Evangelium ist konstitutiv für das Berlinprojekt. Es will einen Raum in der Großstadt bieten, an dem Gott und christlicher Glaube auf eigene Weise erfahren werden können. Ein zentrales Motto des Projekts ist die Neu-Entdeckung alter Grundlagen des christlichen Glaubens sowie deren Übersetzung in den Berliner Alltag. Die Gemeinde engagiert sich mit vielen (sozialen) Initiativen und Events für ihre Nachbarschaft und die Stadt, wie beispielsweise mit einem Projekt für geflüchtete Kinder. Daneben gibt es zahlreiche Angebote in der Gemeinde. Eines davon sind die sog. „Sofagruppen“, die zu Gesprächen und Gemeinschaft in verschiedenen Wohnzimmern der Stadt einladen. Das Berlinprojekt ist Mitglied im Bund Freier evangelischer Gemeinden (FeG): ein Verband von etwa 400 Gemeinden und zugleich eine evangelische Freikirche. Gelegentlich werden ökumenische Gottesdienste gefeiert, zum Beispiel mit der evangelischen Gemeinde am Weinberg und der katholischen Herz-Jesu-Gemeinde.

Neben dem Morgengottesdienst um 11 Uhr im Kino Babylon, der auch digital übertragen wird, findet jeden Sonntag ein Abendgottesdienst um 18 Uhr in der Tanzschule bebop in Kreuzberg statt.
 

Erste Eindrücke

Neugierig betreten wir den Kinosaal. Der eindrucksvolle Saal bietet gemütliche Sessel für geschätzt 200 Personen, eine geschwungene Empore dürfte weitere 50 Plätze bereitstellen. Einige Minuten vor 11 Uhr, dem offiziellen Beginn des Gottesdienstes, sitzen wir noch fast alleine im Saal, ein Bandmusiker führt den letzten Soundcheck durch. Auf der Bühne vor der Leinwand befinden sich Mikrofone, ein Mischpult, die Instrumente der Band und ein Notenständer, der als Lesepult zu dienen scheint. Etwas seitlich ist ein niedriger Holztisch aufgestellt, den ein kleiner Blumenstrauß ziert. Daneben stehen Kelch und Oblate für das Abendmahl bereit. Ein Kreuz ist nirgends zu sehen.

Ab 11.15 Uhr beginnt sich der Saal langsam zu füllen. Eine junge Frau betritt die Bühne, stellt sich mit ihrem Namen Julia vor und berichtet von einem „Winter-Retreat“ in der letzten Woche von ca. 50 Gemeindemitgliedern. Gegen 11.20 Uhr ist der Saal zu etwa einem Drittel mit ca. 80 Leuten gefüllt. Unter ihnen sind viele junge Erwachsene, einige Familien mit kleinen und jugendlichen Kindern, Paare mittleren Alters und nur wenige ältere Menschen. Julia geht zu einer Begrüßung über und spricht ein kurzes Gebet.
 

Gottesdienstbeginn mit „mxmx“ und Lobpreisliedern

Der offizielle Teil des Gottesdienstes beginnt mit dem Auftritt des Sängers und Songwriters „mxmx“. Er ist ein Newcomer – seine Singles können seit Neuestem, wie er mehrfach betont, auf sämtlichen Kanälen gestreamt werden. Er spielt E-Gitarre und bedient parallel das Mischpult. Sein erster Song heißt „Flipper“, elektronische Klänge kreisen, untermauert vom Bass, sphärisch in die Höhe.

Mehrere Gemeindemitglieder, alle etwa Anfang dreißig, betreten die Bühne und sprechen eine erneute Begrüßung aus. Menschen, die hier ihren Erstkontakt zu einer christlichen Gemeinde erleben, werden ausdrücklich willkommen geheißen. Julia leitet zum Singen mehrerer Lobpreislieder über, indem sie kurz darlegt, dass es sich dabei um gesungene Gebete handle.

Damit kommt nun auch die aus drei Musikern bestehende Band zum Einsatz. Die GottesdienstteilnehmerInnen erheben sich, Gottesdiensthefte in der Hand haltend. Eine poppige Variante von „Nun danket alle Gott“ (EG 321) bildet den Anfang. Es folgen zwei Worship-Songs, bei denen es sich z. T. um die Eigenkomposition eines Bandmitglieds handelt. Die Texte preisen Gottes Schöpfermacht und betonen die Abhängigkeit des Menschen von Gottes schöpferischer Allmacht („Du nur bist groß, andres ist klein / und wie du sagst, so soll es sein“). Die Lieder bauen inhaltlich aufeinander auf und steigern sich auch musikalisch von dem klassischen Kirchenlied mit Strophen zu einem freieren und poppigeren Musikstil. Die Liedtexte sind (ohne Noten) auf dem Gottesdienstblatt abgedruckt, und wir versuchen, die uns unbekannten Lieder mitzusingen.

Es folgt die Lesung zweier Bibeltexte, Gen 1,26–28 und 1. Thess 4,1–3.6.11f. Diese werden laut Gottesdienstblatt der nun folgenden Predigt zugrunde liegen. Dazu betritt ein mit Jeans und dunkelblauem Hemd gekleideter Mann, geschätzt Anfang bis Mitte dreißig, die Bühne. Dem Heft entnehmen wir, dass es sich um Lorenz handelt, den Pastor des Projekts. Es soll sein einziger Auftritt in diesem Gottesdienst bleiben.
 

Predigt: „Ein neuer Blick auf deinen Beruf“

Lorenz stellt zunächst die neue Predigtserie vor, die sich unter dem Titel „Anvertraut: Das Leben als Geschenk annehmen“ über die kommenden drei Wochen erstrecken soll. Ob das nicht genau dem Zeitraum der Vorpassion im evangelisch-landeskirchlichen Kirchenjahr entspricht, fragen wir uns in dem Moment. Der Titel der heutigen Predigt sei „Ein neuer Blick auf deinen Beruf“, fährt Lorenz fort und stellt die dreiteilige Gliederung seiner Predigt vor: Er wolle erstens „die Würde der Arbeit“, zweitens „die Gefahr der Arbeit“ und drittens „heilige Arbeit“ thematisieren.

Er setzt mit einer persönlichen Erzählung über den Moment ein, als seine Frau und er mit der neugeborenen Tochter vom Krankenhaus nach Hause gefahren seien und sich ein ehrfürchtiges Gefühl der Verantwortung eingestellt habe. Dieses Verantwortungsgefühl nutzt Lorenz als Aufhänger für die von ihm postulierte Würde der beruflichen Arbeit. Sofern ein Beruf in Fürsorge und Verantwortung für die Mitmenschen ausgeübt werde, entspreche dies der Aufforderung der Schöpfungsberichte an die Menschen. Einer jeden Arbeit könne dadurch eine Sinnhaftigkeit innewohnen. Eine Gefahr hingegen bestehe darin, dass sich die Sinnhaftigkeit des Lebens in der Ausübung der Lohnarbeit erschöpfe und sich der Mensch allein über den Beruf definiere. Unter Bezugnahme auf 1. Thess 4 fordert Lorenz schließlich die Gemeinde zur „heiligen Arbeit“ auf: Die eigene Lebensführung solle so gestaltet werden, dass in ihr Gottes Heiligkeit zum Vorschein komme.

Der Duktus der Predigt ist auffällig. Zwar orientiert sich Lorenz an einem vor ihm liegenden Zettel, spricht aber sonst frei. Wir als HörerInnen werden direkt mit „du“ angesprochen, und Lorenz wird sehr konkret dabei, den Sinn einer jeden Arbeits- und Berufstätigkeit zu bestimmen und religiös zu deuten. Er will nicht nur zum Nachdenken über einen „neuen Blick auf meinen Beruf“ anregen, sondern hält bereits eine konkrete Füllung dieses neuen Blickwinkels bereit. Obwohl er mit ca. 25 Minuten relativ lang predigt, können wir seinen Gedankengängen gut folgen.

Eine musikalische Einlage von „mxmx“ schließt sich an die Predigt an. „mxmx“ präsentiert eine weitere Eigenkomposition, die den bemerkenswerten Titel „Cowboy Spacefight“ trägt. Ein inhaltlicher oder spiritueller Bezug zum Gottesdienstgeschehen ist für uns nicht ersichtlich. Stattdessen bringt „mxmx“ seine Dankbarkeit zum Ausdruck, hier die Premiere dieses Songs feiern zu dürfen.
 

Abendmahlsfeier

Ein Gemeindemitglied – dem Gottesdienstheft entnehmen wir den Namen Lukas – führt durch den nun folgenden Teil des Gottesdienstes, die Abendmahlsfeier. Er übernimmt die Praxis der direkten Ansprache der GottesdienstteilnehmerInnen und lädt „mich“ unter Verweis auf „meine“ dunklen Seiten und „meinen“ Egoismus dazu ein, mich „im Abendmahl mit Gott zu versöhnen“. Es wird ein gemeinsames Bekenntnis gesprochen, das inhaltlich an die Predigt anknüpft, aber nicht in der Tradition altkirchlicher Bekenntnisse zu stehen scheint und keinen trinitarischen Charakter aufweist. Im Wechsel mit Lukas sprechen wir eine vereinfachte Abendmahlsliturgie („Christus ist gestorben. Christus ist auferstanden. Christus wird wiederkehren“). Daraufhin spricht Lukas die Einsetzungsworte, bricht die Oblate und hebt den Kelch. An drei Stellen im Kinosaal und auf der Empore stehen Gemeindemitglieder bereit, die die Austeilung des Abendmahls übernehmen. Nach und nach stellen sich die GottesdienstteilnehmerInnen in lockeren Schlangen an. Wir schließen uns ihnen an, eine junge Frau tunkt eine große Oblate in einen Kelch mit Traubensaft und überreicht ihn uns mit den bekannten Austeilungsworten. Währenddessen beginnt die Band zu spielen, und einige stimmen in den Song „Sei still mein Herz“ mit ein. Andere verharren betend vor ihren Plätzen. Für die Zeit des Abendmahls hält das Heft eine Auswahl an Gebeten und Texten zur Inspiration bereit. Unter Ersteren befindet sich ein Gebet des Glaubens, mit dem „für viele Menschen der Weg als Christ begonnen“ habe. Die Impulse umfassen Texte von Thomas Mann und Dorothee Sölle.
 

Ausklang

Die Musik zum Abendmahl geht in einen zweiten Lobpreisblock über, der das Aufgehoben-Sein in Gott thematisiert („Der dich nach Hause bringt, wenn du verloren bist […] / Der dich auf die Schultern nimmt, wenn es nicht weitergeht“) und an die Schöpfungsthematik der Predigt und der ersten Lobpreislieder erinnert („Die ganze Schöpfung gab dir die Ehre“).

Eine junge Frau tritt auf die Bühne und spricht mit geschlossenen Augen frei formulierte Fürbitten, die jeweils mit „lieber Papa“ als Ansprache Gottes beginnen. Sie bittet – wohl in Anknüpfung an die Predigt – für Beschäftigte im Bereich der personenbezogenen Dienstleistungen. Anstelle des Vaterunsers folgt ein kurzes, gemeinsam gesprochenes Gebet „an den dreieinigen Gott“, in dem um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt und in der Stadt gebeten wird.

Es folgt eine längere Mitteilung zu den organisatorischen Belangen des Projekts. Ein Mitglied der Gemeindeleitung wirbt ausführlich für die Übernahme eines Ehrenamtes in der Gemeinde, weist auf eine Stellenausschreibung im Büro des Projekts hin und kündigt die bevorstehende „Berufung“ von Natascha als neue Pastorin an. Ein anderes Gemeindemitglied dankt für die Spenden der letzten Monate und Wochen und bittet um neue, wobei er auf den QR-Code im Gottesdienstheft verweist, der direkt zum Paypal-Konto der Gemeinde führe. Eine Kollekte wird weder während noch im Anschluss an den Gottesdienst gesammelt.

Ein kurzer Segen in Anlehnung an Phil 4,7 wird von einem Gemeindemitglied gesprochen, dann übernimmt wieder „mxmx“ die Bühne und performt einen weiteren selbstgeschriebenen Song, diesmal mit Gesang: „Mit dem Flow gehen“. Die Gemeinde wird zum Aufstehen und Tanzen aufgefordert, was aber nur vereinzelt Anklang findet. Nach Ende des Songs verlassen alle den Kinosaal, einige sammeln sich in der Eingangshalle zu einem (weiteren) Kaffee.
 

Fazit

Uns hat die Ähnlichkeit im Aufbau des Gottesdienstes mit einem landeskirchlichen Gottesdienst überrascht. Auch hatten wir eine charismatischere Frömmigkeit der Gemeinde und ihrer Hauptamtlichen erwartet. Theologisch haben wir nur einen kleinen Einblick in die Ausrichtung des Berlinprojekts erhalten können. Dabei fiel uns der Selbstanspruch auf, den Gemeindemitgliedern eine konkrete religiöse Interpretation ihrer Lebenswirklichkeit anbieten zu wollen. Überrascht hat uns zudem, dass in den Gebeten und in der Predigt vornehmlich von Gott als Vater und Schöpfer die Rede war. Jesus Christus und der Heilige Geist wurden kaum erwähnt.

Inwiefern das Berlinprojekt tatsächlich eine „Kirche für die Stadt“ ist? Es ist eine Gemeinde, die den vorhandenen urbanen Raum wie z. B. das Kino einbezieht. Sie scheint den Bedürfnissen der Gemeindemitglieder in verschiedenen Arbeits- und Gesprächskreisen nachzukommen und dabei eine Diversität der Frömmigkeit und der Verbindlichkeit zu ermöglichen. Die Bandbreite reicht von Gemeindegliedern, die sich intensiv beteiligen und z. B. das Angebot einer mehrtägigen Gemeindefahrt wahrnehmen, bis hin zu Menschen, die nicht mit gottesdienstlichen Abläufen vertraut sind.


Johanna Mängel und Wiebke Hövermann, 17.03.2023