Jörg Pegelow

Mit dem Gyalwang Drupka unterwegs zum Glück

Ein tibetisch-buddhistischer Orden fasst Fuß in Deutschland

Abgedunkelt war der große Ballsaal im Hamburger Curio-Haus. Knapp 200 Besucher erwarteten Seine Heiligkeit den 12. Gyalwang Drukpa am 9. November letzten Jahres für einen Abendvortrag, den er im Rahmen seines zweiten Hamburgbesuchs halten sollte. Ein umfangreiches Programm absolvierte das spirituelle Oberhaupt der in Deutschland derzeit etwa 100 eingetragene Mitglieder zählenden tibetisch-buddhistischen Drukpa-Linie; die Gesamtzahl der Anhänger dürfte um einiges höher liegen. Mit einigen begleitenden Lamas („attendant Lamas“) besuchte er eine Hamburger Frauenstrafanstalt, die Redaktion des Hamburger Abendblatts sowie die Haftanstalt „Santa Fu“. Darüber hinaus gehörten zum Programm eine Chöd-Tanz-Präsentation durch Nonnen des Drukpa-Ordens, die Vorführung eines Dokumentarfilms von einer Pilgerwanderung im Himalaya sowie zwei längere Publikumsveranstaltungen mit Lehrreden.

Das Medienecho auf diesen Besuch war erheblich: Viele Hamburger Zeitungen widmeten ihm längere Artikel1, der private Sender Radio Hamburg2 berichtete ebenso wie die Esoterik-Magazine „Körper, Geist und Seele“3 und „Visionen“4. Auch in „Buddhismus aktuell“ erschien Anfang dieses Jahres ein ausführlicher Bericht.5

Der 12. Gyalwang Drukpa war nach einer Visite im Jahr 2008 (Hofheim/Hessen) und einem ersten Hamburgbesuch vor drei Jahren, bei dem er auch vom damaligen Ersten Bürgermeister Ole von Beust empfangen wurde, zum dritten Mal offiziell in Deutschland. Neben dem Verbreiten buddhistischer Lehren zielte der Besuch sicherlich auch auf die Stärkung der zahlenmäßig noch recht überschaubaren deutschen Anhängerschaft.

„Der andere Pfad“ in Hamburg

Der von mir besuchte Vortrag stand unter der programmatischen Überschrift „Der andere Pfad“6. Begleitet von den „attendant Lamas“ und einem Dutzend buddhistischer Nonnen betrat das geistliche Oberhaupt den Veranstaltungssaal. Nach einer kurzen Einführung in das bis zum Vortragsabend durchgeführte Programm folgte der ins Deutsche übersetzte, rund 75-minütige Vortrag, dem man zuweilen anmerkte, dass bereits zwei anstrengende Tage absolviert waren.

Die Ausführungen des 12. Gyalwang Drukpa kreisten um die zentrale These, dass es darum gehe, das Leben richtig zu verstehen. Dies bedeute zu akzeptieren, dass alle Erfahrungen und Erlebnisse nur eine relative Wirklichkeit und Bedeutung hätten und alles im Leben diskontinuierlich und veränderlich sei. Um ein gutes Leben führen zu können, solle man sich also nicht an Dinge klammern, die verloren gehen könnten. Vielmehr solle man sich vollständig von allem befreien, wovon man abhängig sein könnte. Letztlich sei man auch nicht von einem Gott abhängig; vom Himmel Glück zu erwarten, sei töricht. Denn es komme darauf an, sich vom traditionell-konservativen Gedanken zu lösen, das Leben habe nur eine einzige Bedeutung. So erst könne man erkennen, dass das Wesen des Lebens darin bestehe, sich der vorübergehenden, relativen Wahrheit aller Erfahrungen bewusst zu sein, diese als „Anhaftungen“ zu verstehen und deshalb in der Lage zu sein, diese Anhaftungen aufzulösen. So könne man sich auf alle Probleme vorbereiten und alle Dinge – positive wie negative – einordnen. Die Diskontinuitäten des Lebens, die Vergänglichkeit alles Lebens (Zweite Lehre Buddhas) und die begrenzte Bedeutung aller Lebenserfahrungen zu verstehen, führe dazu, sich mit allen Veränderungen im Leben arrangieren zu können.

Allerdings bedeute dies nicht, sich dem Leben und anderen Menschen zu entziehen. Der 12. Gyalwang Drukpa wies darauf hin, dass es ein totales Missverständnis sei, dem Buddhismus zu unterstellen, „Liebe“ würde als Anhaftung gesehen. Vielmehr ermutige der Buddhismus, alleanderen zu lieben. Zwar sei es nicht falsch, wenn Paare zueinander fänden und sich liebten; allerdings sei es eine Anhaftung zu glauben, dass die gegenseitige Attraktivität permanent bleibe. Eine solche Erwartung zerstöre die Liebe, sodass das Glück verkürzt werde.

Die Vortragsveranstaltung endete mit einer kurzen Fragerunde, in der das Oberhaupt des Drukpa-Ordens darauf hinwies, dass es im Leben darum gehe, alle Erfahrungen in friedvoller Weise zu transformieren und beispielsweise durch Meditation spirituelle Verbesserungen zu erreichen. Wenn es gelänge, den Alltag in eine spirituelle Praxis zu überführen, könnten Menschen in voller Glückseligkeit leben.

Soweit ich beobachten konnte, folgten die meisten Besucher den Ausführungen konzentriert und zustimmend. Kritische Nachfragen – etwa zu den Aussagen über den Glauben an Gott oder zur Relativierung des irdischen Lebens und menschlicher Erfahrungen – gab es nicht. Offenbar waren die Besucher zum überwiegenden Teil mit den Grundzügen buddhistischer Philosophie vertraut.

Der Drukpa-Orden weltweit und in Deutschland

Als eine der zwölf Schulen des tibetischen Buddhismus hat der Drukpa-Orden eine bis ins 13. Jahrhundert zurückreichende Tradition. Der Name geht zurück auf den Ordensgründer Drogon Tsangpa Gyare. Der Entstehungslegende nach zeigten sich ihm im Jahr 1206 neun in den Himmel aufsteigende Drachen, nach denen er seinen Orden benannte; das tibetische Wort „Druk“ bedeutet Drache. Er setzte als erstes Oberhaupt und spiritueller Lehrer (Titel: Gyalwang Drukpa) den Anfang für die Geschichte des Drukpa-Ordens, dessen Ideale „Einfachheit, Reinheit und Askese“ sind.7 Damit gehört der Drukpa-Orden als einer der acht kleineren, unabhängigen Schulen in die Traditionslinie der Ende des 11./Anfang des 12. Jahrhunderts entstandenen tibetischen Kagyü-Schulrichtung, in der auf Meditation ausgerichtete und klösterliche Traditionen zusammengeführt sind.8

Der jetzige Gyalwang Drukpa (geb. 1963 unter dem Namen Djigme Padma Aungchen im indischen Tso Prema/Himachal Pradesh) leitet als 12. Oberhaupt den Orden.9 Er lebt zwar im Kloster Druk Amitabha Mountain (Nepal), ist aber seit 20 Jahren vorwiegend auf Reisen, um die rund um den Globus lebenden etwa vier Millionen Anhänger der Drukpa-Linie zu besuchen. Diese Linie des tibetischen Buddhismus ist vor allem in Bhutan, Tibet, Nepal und Indien verbreitet und unterhält im dortigen Himalaya-Gebiet eine große Zahl von Mönchs- und Nonnenklöstern. Einen Schwerpunkt mit tausenden von Mönchen und Nonnen bildet das vergleichsweise kleine Bhutan, wo die Drukpa-Philosophie unter dem Stichwort „Brutto-Glücks-Produkt“ bzw. „Brutto-National-Glück“ auch politisch umgesetzt wird.10

Zwar versteht sich der Drukpa-Orden unter Leitung des 12. Gyalwang Drukpa konsequent als nicht politisch und vermeidet es, zu tagespolitischen Fragestellungen wie etwa zum Status Tibets Stellung zu beziehen. Dessen ungeachtet ist es dem jetzigen geistlichen Oberhaupt wichtig, aus der individuellen Kontemplation herauszugehen und sich auch für humanitäre Hilfen, ökologische Ziele, Bildungsangebote sowie die Gleichberechtigung von Mann und Frau einzusetzen. Aus diesem Grund wurde auf seine Initiative hin die Stiftung „Live to Love“ gegründet. Die dezidiert nonkonfessionelle Stiftung begann mit ihren Aktivitäten zunächst in der Himalaya-Region, hat sie inzwischen ausgeweitet und will ausdrücklich nicht nur Buddhisten, sondern alle Menschen erreichen.11

Für die vielfältigen sozialen, ökologischen, in der Katastrophenhilfe tätigen sowie auf Gleichstellung von Mann und Frau ausgerichteten Initiativen der Stiftung zeichnete die UN den 12. Gyalwang Drukpa mit dem „Millennium Development Goals Award“ aus. Mit dieser Auszeichnung würdigen die Vereinten Nationen Einzelpersonen und Initiativen, in deren Mittelpunkt ökologische Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit stehen.12 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang das im Bereich des tibetischen Buddhismus eher ungewöhnliche Engagement zur Gleichstellung von Mann und Frau, das spirituell seinen stärksten von außen wahrnehmbaren Ausdruck im Chöd-Tanz der Frauen findet; im Drukpa-Orden wird dieser auch von buddhistischen Nonnen vorgeführt, während er in anderen tibetisch-buddhistischen Linien Mönchen vorbehalten ist.

In Deutschland gibt es derzeit in Kassel (seit Anfang des Jahrtausends) und Hamburg (erste Aktivitäten 2007, Vereinsgründung 2010) zwei Zentren des Drukpa-Ordens, die über den Kasseler Verein die Mitgliedschaft in der Deutschen Buddhistischen Union e.V. (DBU) erlangt haben. An beiden Orten wie auch in einer jüngst in der Pfalz entstandenen Gruppe treffen sich Anhänger regelmäßig zur Meditation und zum Austausch. In Kassel und Hamburg sind die Meditationsräume mit einem buddhistischen Altar sowie Bildern des Oberhauptes des Drukpa-Ordens geschmückt.13 Die hiesigen Gruppen finanzieren ihre Aktivitäten durch Mitgliedsbeiträge der jeweiligen Vereine bzw. durch Spenden; für Großveranstaltungen wie im November letzten Jahres wird zur Deckung der Kosten Eintritt verlangt.

Stellung zu anderen Religionen

Beim Vortragsabend in Hamburg streifte das geistliche Oberhaupt das Thema Glaube und theistische Religion nur am Rande. In seinem Buch aber geht er aus seiner Sicht deutlicher auf die Differenz zwischen Buddhismus als spiritueller Philosophie und anderen Religionen ein.

Gleich im ersten Satz seines Buches grenzt der Gyalwang Drukpa den Buddhismus gegen jede Form der Religion ab; denn der „Buddhismus und dessen Lehren sind spirituell orientiert und somit eine Philosophie“.14 Ausgehend von buddhistischen Prinzipien, nach denen Karma ein „universelles Prinzip“ darstelle15, aller irdisch-menschlichen Erfahrung nur eine relative Bedeutung und Wahrheit innewohne16, komme es darauf an, einen mittleren Weg zwischen allen Extremen zu gehen und zu entdecken;17 alles Spirituelle und alle Antworten auf spirituelle Fragen befänden sich bereits im Menschen.18 So überrascht es auch nicht, wenn die Vorstellung eines der Welt gegenüberstehenden Schöpfergottes ebenso abgelehnt wird wie die nicht nur im Christentum verbreitete Erwartung des Kommens eines erlösenden und befreienden Messias, dessen Nichterscheinen eine hoffnungslose Situation bedinge.19 Somit werden auch (mono)theistische Glaubensvorstellungen als Anhaftung beschrieben, von denen es sich freizumachen gelte; denn ihnen wohne ein absoluter, endgültiger Wahrheitsanspruch inne, der der begrenzten, endlichen und sich stetig verändernden Relativität aller Wahrheit entgegenstehe. Deshalb solle man religiöse Vorstellungen und Bilder zwar respektieren, doch zugleich nicht allzu sehr beachten.20 Denn wie bei jeder vorläufigen, veränderlichen und relativen Wahrheit wünsche sich der Mensch auch die religiöse Wahrheit als endgültige. Dies allerdings zeige die Unwissenheit; denn als spirituelles Hauptprinzip gilt die Nicht-Anhaftung.21

Dennoch gebe es auch eine „ultimative Wahrheit“, die sich als „etwas Allumfassendes“ darstellt“.22 Diese erschließe sich allerdings erst auf dem spirituellen Weg, auf dem der Schüler dem Meister folge, um schließlich in seiner Entwicklung die höchste, in Glückseligkeit mündende Hingabe zu erfahren.23

Fazit

Mit dem Drukpa-Orden begegnet auf der religiösen Landkarte im europäischen Kontext und für den deutschen Sprachraum eine neue Schule des tibetischen Buddhismus. Er verbindet Kontemplation und Aktion öffentlichkeitswirksam, und sein geistliches Oberhaupt nimmt auch zu profanen Fragen Stellung. Davon zeugen die breit angelegten Besuchsprogramme mit Lehrreden einerseits und dem Besuch von Betrieben und gesellschaftlichen Brennpunkten andererseits ebenso wie das anlässlich des Hamburgbesuchs gegebene Interview im Hamburger Abendblatt. Zur Bedeutung der Architektur einer Stadt wie Hamburg für das Glücklichsein der Menschen sagte der 12. Gyalwang Drukpa im Blick auf Hamburg: „... man darf nicht gegen die Tradition einer Stadt und seiner Menschen ... bauen.“ Und auf den Hinweis, dass viele Menschen sich über die Zunahme gesichtsloser Beton- und Glasbauten beschwerten, fügte er hinzu: „Lassen Sie es mich so sagen: Beton wird niemals schön sein.“24 Das würden dann wohl auch viele Christen sofort unterschreiben.


Jörg Pegelow, Pinneberg


Anmerkungen

1 Welt-Online, 9.11.2012, www.welt.de/regionales/hamburg/article110877170/So-waechst-Hamburgs-Karma.html; Hamburger Abendblatt, 10.11.2012; BILD HAMBURG, 10.11.2012.

2 www.radiohamburg.de/Hamburg-aktuell/Menschen-in-Hamburg/2012/November/Hoher-Besuch-aus-Tibet-in-Hamburg-Buddhistisches-Oberhaupt-Gyalwang-Drukpa, 9.11.2012.

3 Körper, Geist und Seele (Hamburg) 11/2012, 20-22.

4 Visionen 10/2012, 30ff.

5 Buddhismus aktuell 1/2013, 20ff.

6 So auch der Titel des einzigen deutschsprachigen Buchs: Seine Heiligkeit der 12. Gyalwang Drukpa, Der andere Pfad. Ein Führer auf dem spirituellen Weg, Hamburg 2012.

7 Handout „Der Drukpa-Orden“ aus der Presseinformation von Drukpa Hamburg e.V. zum Hamburgbesuch des 12. Gyalwang Drukpa im November 2012, dem Autor vorliegend.

8 Lamas by Nationality, Hephaistos Books, USA, o.O., o.J., 8. Diese vom Autor nicht zu verifizierende Einordnung beruht auf Wikipedia-Informationen; vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Kagyü.

9 Weitere Lebensdaten in: Lamas by Nationality, a.a.O., 8f. Vgl. auch www.drukpa.de/index.php?option=com_content&view=article&id=70&Itemid=296 .

10 Vgl. www.spiegel.de/reise/fernweh/himalaja-staat-bhutan-auf-der-suche-nach-dem-bruttonationalglueck-a-673514.html .

11 www.drukpa-germany.com/?page_id=5. Vgl. http://live2love.org .

12 Vgl. Buddhismus aktuell 1/2011, 10; vgl. auch www.mdgawards.org/webroot/index.php?option=com_content&view=article&id=65&Itemid=73 .

13 Vgl. www.drukpa-germany.com/?page_id=592 .

14 Gyalwang Drukpa, Der andere Pfad, a.a.O., 11.

15 Ebd., 15.

16 Ebd., 105ff.

17 Ebd., 32ff.

18 Ebd., 14.

19 Ebd.

20 Ebd., 36.

21 Ebd., 39f.

22 Ebd., 107.

23 Ebd., 201f.

24 Hamburger Abendblatt, 10.12.2012.