Mit Mystik und Charisma zu einem glücklichen jüdischen Lebensstil
Die Bewegung Chabad Lubawitsch
Am Seiteneingang eines mehrstöckigen Hauses in Berlin-Mitte klebt ein Blatt mit der Aufschrift „Beth Chabad“. Wer durch diese Tür geht, gelangt über eine schmale Treppe in den ersten Stock zu den Gebetsräumen einer jüdischen Gemeinde. Es ist Samstagabend, der Schabbat-Gottesdienst hat begonnen. In einem großen Raum mit deckenhohen Bücherregalen stehen Männer mit Bart und Hut. Sie singen das hebräische „Lecha Dodi“ („Auf mein Freund, der Braut entgegen“). Angeleitet durch einen Rabbiner begrüßen sie damit den Schabbat, den heiligen Tag der Woche, der im Judentum wie eine Braut willkommen geheißen wird. Alle schauen in Richtung Toraschrein, dahin, wo sich die heiligste aller Schriften, die Torarolle, befindet. In einem Nebenraum, abgetrennt durch eine gitterähnliche Wand, sitzen die Frauen. Die meisten tragen arm- und beinbedeckende, aber modische Kleider. Einige haben ihre kleinen Kinder auf dem Arm. Während die Männer die Gebete laut rezitieren, singen die Frauen eher leise aus einem Gebetbuch dazu. Die Türen stehen während des gesamten Gottesdienstes offen. Und während sich die Räume mit weiteren Gästen füllen, flitzen größere Kinder lachend umher und lassen den Fußball durch den Flur sausen.
Am Ende des Gottesdienstes begrüßen sich alle mit „Schabbat Schalom“, Frauen und Männer begeben sich gemeinsam in den Speiseraum zum Kiddusch, dem gemeinsamen Schabbatmahl. Gäste aus Israel, Einwanderer aus Russland, Geflüchtete aus der Ukraine, Touristen aus Frankreich und New York nehmen an zwei langen gedeckten Tafeln Platz. Nun zündet der Rabbiner die Kerzen an und spricht den Weinsegen, zu dem jeder einen kleinen Becher Wein trinkt. Beim anschließenden rituellen Händewaschen wird Wasser aus einem Krug jeweils dreimal über die rechte und die linke Hand gegossen, begleitet von dem Spruch „Baruch Ata Ado-naj Elohenu Melek ha Olam, ascher kideschanu ba Mizwotaw weziwanu al netilad yadajim“1. Anschließend teilt der Rabbiner, während er den Brotsegen spricht, zwei weiße Zopfbrote in kleine Stücke und verteilt sie unter den Anwesenden. Bei einem Dreigänge-Menü mit osteuropäischen und orientalischen Speisen führen die Gäste laute und angeregte Gespräche auf Hebräisch, Englisch, Französisch und Russisch. Mittendrin beginnt der Rabbiner, ein Lied zu singen, die Gäste stimmen ein, klatschen in die Hände oder klopfen im Takt auf den Tisch. Es wird Wodka und Wein eingeschenkt, gegessen und getrunken und Gott gelobt in der sie alle vereinenden Sprache: Hebräisch.2
Die Herkunft der Chabad Lubawitscher
Bei der Gemeinschaft, die den beschriebenen Gottesdienst gefeiert hat, handelt es sich um die dem orthodoxen Judentum zugehörige (neu)chassidische Bewegung Chabad Lubawitsch. Deren Anhänger werden auf etwa 200 000 geschätzt und nennen sich selbst Lubawitscher oder Chabad-Chassidim. Sie gehören zu den weltweit einflussreichsten jüdischen Gruppen und sind in etwa 70 Ländern aktiv. Die Zentrale befindet sich in New York. Der Name setzt sich zusammen aus Chabad, einem hebräischen Akronym der drei göttlichenAttribute Chochma (Weisheit), Bina(Vernunft) und Da’at (Wissen),3 und Lubawitsch, abgeleitet von dem russischen Dorf Ljubawitschi, welches von 1813 bis 1915 als Zentrum der Bewegung galt.
Der osteuropäischen Bewegung liegt der Chassidismus zugrunde (auch Hassidismus, von hebr. hassidut, Frömmigkeit), als dessen Begründer v. a. Israel Ben Elieser (1700 – 1760), genannt „Baal Schem Tov“, und dessen Schüler Dov Bär (um 1710 – 1772), genannt „Maggid von Mesritsch“, gelten. Unter ihrem Einfluss breitete sich der Chassidismus in Litauen und Zentralpolen aus. Das Neue an ihren chassidischen Lehren war, armen Juden, die weder Zeit noch Mittel für ein Torastudium besaßen, einen Weg zu Gott aufzuzeigen, der weniger auf Bildung als vielmehr auf Herzensfrömmigkeit beruht. So wanderten die im Chassidismus als Rebben bezeichneten Rabbiner umher, predigten den Juden die Liebe zum Mitjuden und ermunterten sie zu einem fröhlichen bis ekstatischen Lobpreis Gottes, der sich in Liedern und Tänzen ausdrückt. Auch bezogen sie sich auf die Kabbala4 und traten als Wundertäter und Heiler auf.
Als eine Folgebewegung der chassidischen Schülerschaft entstand eine Dynastie von sieben Rebben, die ihr Amt an den Sohn, Schwiegersohn, Neffen oder Enkel weitergaben. Am Anfang der Dynastie steht Schneur Salman von Liadi (1745 – 1812). Aufgewachsen im belarussischen Liadi, übernahm er als Schüler des oben genannten Wanderpredigers Dov Bär die Gemeinde seines Lehrers und entwickelte daraus eine Bewegung, die sich später Chabad Lubawitsch nannte. Sein Nachfolger und zweiter Rebbe wurde Dovber von Lubawitsch (1773 – 1827), der den Sitz der neuen Bewegung in das russische Dorf Ljubawitschi verlegte. Ihm folgten als dritter Rebbe Menachem Mendel (1789 – 1866), als vierter Schmuel Schneerson (1834 – 1882) und als fünfter Shalom Dovber Schneerson (1860 – 1920). Mit der Flucht des sechsten Rebbe, Yossef Yitzak Schneerson (1880 – 1950) nach New York endete 1915 die Lubawitscher Zeit, und der Hauptsitz ist seitdem im Eastern Parkway 770 / Crown Heights in Brooklyn.
Menachem Mendel Schneerson (1902 – 1994) war der siebte und letzte Rebbe der Chabad-Dynastie. 1902 als Sohn eines Rabbiners in der heutigen Ukraine geboren, heiratete er die Tochter seines Cousins, des sechsten Rebbe Yossef Yitzak Schneerson. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs flohen beide nach New York. Hier unterstützte Menachem Mendel Schneerson seinen Schwiegervater bei der Chabad-Bewegung, übernahm diese 1951 und bereicherte sie mit neuen Aktivitäten. So empfing er bis spät in die Nacht zahlreiche Besucher, die mit ihren persönlichen Anliegen zu ihm kamen, half ihnen mit einem Rat oder Segen und drückte ihnen eine US-Dollar-Note in die Hand mit der Weisung: „Setze das Geld so ein, dass es Dir und einer weiteren Person zugutekommt!“ Des Weiteren forderte der Rebbe zur Einhaltung von zehn jüdischen Geboten (Mizwot) auf. Von seinem Hauptsitz in New York aus entsandte er tausende Rebben und ihre Frauen als Paare (Schluchim) in die Welt, um die Chabad-Botschaft zu verbreiten. Schneersons zahlreiche Vorträge zum Judentum („Likkutei Sichot“, „Gesammelte Gespräche“) werden heute weltweit zur täglichen Erbauung im Internet verschickt. Wegen seiner hervorragenden und dauerhaften Beiträge zur weltweiten Bildung, Moral und Wohltätigkeit genoss Schneerson auch außerhalb jüdischer Gemeinden so hohes Ansehen, dass ihm 1994 der US-amerikanische Kongress die „Congressional Gold Medal“ verlieh.
So viele heilige Bücher wie möglich und das Buch Tanja als Basiswerk
Appellierte der Chassidismus zu Beginn seiner Entstehung an eine „Herzensfrömmigkeit“, gewann das Studium von heiligen Schriften unter Menachem Mendel Schneerson wieder zunehmend an Bedeutung. So riet er Chabad-Anhängern im 4. Gebot seiner Mizwot-Kampagne, die Tora täglich zu lesen, und im 6. Gebot, so viele jüdische Bücher wie möglich zu kaufen. Jede Familie solle zu Hause mindestens die Tora in Buchform (Chumasch), das jüdische Gebetbuch (Siddur), den Tanach (Tora, Propheten und Schriften), den Talmud (Kommentar der 613 Gebote der Tora), das Buch Tanja(Gründungstext von Chabad) und den Sohar(Werk mit mystischen Texten der Kabbala) besitzen.5 Großer Beliebtheit erfreuen sich unter Chabad-Gläubigen auch die Wundergeschichten und Weisheiten chassidischer Rebben.6
Als Basiswerk für Chabad-Anhänger empfahl Schneerson nach der Tora das Buch Tanja, verfasst im 18. Jahrhundert vom ersten Rebbe Schneur Salman. Dieser analysiert darin die Seele des Menschen und die göttliche Existenz und zeigt Wege auf, diese Zusammenhänge vom Geist und vom Herzen her zu verstehen. Denn seiner Ansicht nach sollte ein jegliches göttliches Gebot einer intellektuellen Analyse unterzogen werden, damit der Mensch auf innere und bleibende Weise berührt wird.
Zehn Manifestationen Gottes und Seelenwanderung, bis der Messias kommt
Im Unterschied zu anderen jüdischen Richtungen geht es im Chassidismus um das Verstehen der inneren Dimension der Tora (Pnimijut haTora). So beruht auch das Gottesverständnis der Chabad-Anhänger auf mystischen Interpretationen der Kabbala. Die Form eines Sefirot-Baumes (von hebr. sefira, Ziffer) zeigt zehn Manifestationen Gottes, durch welche die physische Welt erschaffen wurde: Keter (göttlicher Wille), Chokhmah (Weisheit), Binah (Verständnis), Da‘at (Wissen), Chesed (Güte), Gevurah (Kraft), Tiferet (Schönheit), Netzach (Sieg), Hod (Glanz / Pracht), Jesod (Fundament) und Malkuth (Königreich).7 Der Sinn der Schöpfung habe darin bestanden, in dieser Welt eine Wohnstätte für Gott zu bauen, die der Mensch mit dem Halten der Gebote Gottes heiligt.
Chabad-Anhänger glauben an eine stufenweise Wanderung der Seele (hebr. Gilgul). Nach ihrem kabbalistisch-mystischen Menschenbild gehört der Mensch mit seinem Körper zur materiellen und mit seiner Seele zur himmlischen Welt. Die Seele existiert ewig als Funke des unendlichen göttlichen Lichtes (Or Ein Sof).8 Sie wird in einen Körper geboren mit dem Auftrag, Fehler aus vergangenen Leben zu korrigieren und bestimmte Aufgabe zu erfüllen. Ewig erhöht wird sie, wenn der Mensch 613 Gebote einhält. Da dies für einen Menschen während eines Lebens nicht machbar ist, reinkarniert sich die Seele, bis sie mit dem Halten aller Gebote eine gewisse Vervollkommnung auf Erden erreicht hat. Diese Vervollkommnung des Menschen ist auch die Voraussetzung für das Erscheinen des Messias(Moschiach), welches wiederum ein Hauptanliegen der Chabad-Bewegung darstellt. Denn wie andere orthodoxe und chassidische Juden erhoffen sich die Chabad-Anhänger in naher Zukunft die Ankunft des Messias, eines menschlichen Königs von Israel, der den Tempel in Jerusalem wieder aufbaut. Der Mensch sollte in seinem Erdendasein also alles daransetzen, mit dem Halten der jüdischen Gebote an der Verbesserung der Welt mitzuwirken, um das Kommen des Messias zu beschleunigen.
Viele Zeremonien machen ein Haus zur Wohnstätte Gottes
Chabad-Anhänger nennen ihreVersammlungsstätten Beth Chabad (hebr.beth, Haus), Chabad-Haus. Damit grenzen sie sich von den Synagogen ab, in denen jüdische Gottesdienste stattfinden, die ihrer Meinung nach die Liturgien christlicher Gottesdienste adaptieren. Chabad-Häuser sind täglich von morgens bis spät in die Nacht geöffnet. So dienen sie nicht nur einer zeitlich festgelegten Kultveranstaltung, sondern laden alle Gläubigen ein, sich zu jeder Tageszeit dort aufzuhalten, zu beten, sich auszutauschen und religiöse Texte zu studieren. Die Atmosphäre ist offen und familiär. Während Erwachsene beten, laufen spielende Kinder durch die Räume. Frauen und Männer beten zwar getrennt, essen aber anschließend gemeinsam.
Seinen Anhängern hat Schneerson empfohlen, folgende fünf Gebete am Tag zu verrichten: 1. Das Schma Jisrael nach dem Aufstehen, 2. Schacharit, das Morgengebet, 3. Mincha, das Nachmittagsgebet, 4. Ma‘ariv, das Abendgebet, und 5. das Schma Jisrael vor dem Schlafen. Den Männern hat Schneerson für das tägliche Morgengebet das Anlegen von Tefillin geboten; das sind schwarze Lederschatullen mit Segenssprüchen, die mit einem Lederband am Kopf und am Arm befestigt werden. Zum Schabbat, an dem 39 Tätigkeiten (Melachot) verboten sind, sorgt eine Online-Schabbatliste dafür, dass vor allem Frauen an alle Vorbereitungen denken, wie elektronisches Spielzeug wegräumen, Lebensmittelverpackungen und Flaschen öffnen oder die Betten für Gäste beziehen.
So wie es nach Auffassung der Chabad-Anhänger das Ziel Gottes war, sich mit der Schöpfung der Welt eine eigene Wohnstätte zu bauen, soll der Mensch sein eigenes Haus zu einem Tempel Gottes herrichten. Darin kann er als Hohepriester alltägliche Handlungen durch Segenssprechungen heiligen. Denn mit der Segnung des Brotes, des Weines und des Wassers erhöhen die Verzehrenden die Aufnahme der Nahrung zu einer göttlichen Erfahrung. Die Heiligkeit des Hauses oder der Wohnung soll zudem mit dem Anbringen einer Mesusa, einer Schatulle, in der sich ein Segensspruch befindet, am Eingang sowie an den Zimmertüren bekräftigt werden. Denn: „Eine Tür ist ein Durchgang von einem Gebiet zum anderen. Die Mesusa ist das Manuskript für diesen Durchgang.“9
Feste, Rabbinat und Pilgerfahrt
Am Schabbat selbst finden zwei Gottesdienste statt, am Freitag nach Sonnenuntergang der Kabbalat Schabbat und am Samstagvormittag der Schacharit. Wie eine Zeremonie begangen wird auch das gemeinsame Essen danach. Selbst zur Hawdala, dem zeremoniellen Schabbatausgang, trifft man sich im Gebetshaus, um den Segen für die Woche mitzunehmen. Ausgiebig gefeiert werden alle jahreszeitlichen Feste. Teilweise treten die Gläubigen damit an die Öffentlichkeit wie z. B. zu den Chanukka-Tagen, an denen in Städten große Chanukka-Leuchter aufgestellt und täglich angezündet werden. Bei anderen Festen, wie Lag baOmer oder einer Tora-Einweihung zieht die Gemeinde mit Tanz und Gesang sogar durch die Straßen.
Eine segenbringende Wirkung haben für die Lubawitscher die Besuche der Grabstätten (Ohel) verstorbener Rebben. So strömten bis zum Kriegsbeginn jährlich tausende v. a. ukrainischer und russischer Pilger in die ukrainische Stadt Hadiach, in der sich die Grabstätte des ersten Lubawitscher Rebbe, Schneur Salman von Liadi, befindet. Auch der russische Ort Ljubawitschi, einst geistiges Zentrum der Chabad-Bewegung, wird von etwa 10 000 Besuchern im Jahr aufgesucht, da hier der dritte und der vierte Rebbe begraben liegen.10
Seit Menachem Mendel Schneerson gehen viele junge Rebben mit ihren Frauen als Gesandte (Schluchim) in die Welt und ermuntern nichtreligiöse Juden, jüdische Verhaltensweisen und Rituale zu praktizieren. Interessanterweise sind im Internet immer der Rebbe und seine Frau, die Rebbetzin, als Leitende der Gemeinde aufgeführt. Während der Rebbe Tora-Unterricht für Männer erteilt sowie die rituellen Aufgaben erfüllt, ist die Ehefrau für die Beratung der Frauen in religiösen und alltäglichen Fragen zuständig und leitet darüber hinaus den Religionsunterricht für die Kinder. Neben den Toralehren sollte ein Chabad-Rebbe auch die Seelen der Menschen berühren, was bei besonderer Gabe dazu befähigen soll, Kranke zu heilen und kinderlosen Paaren mit einem speziellen Segen den Kinderwunsch zu erfüllen.
Die Gebote des siebten Rebbe Menachem Mendel Schneerson
Schneerson war davon überzeugt, dass der Mensch mit dem Einhalten der Gebote Gottes dazu beiträgt, die Schöpfung der Welt zu verfeinern und zu einer Wohnstätte für Gott zu gestalten nach dem Zitat von Maimonides: „Eine einzelne Person, wenn sie auch nur eine einzige Mizwa tut, kann es schaffen, die ganze Welt zur Erlösung zu bringen.“
Schneerson selbst hatte zu seinen Lebzeiten eine Zehn-Mizwot-Kampagne initiiert, die beinhaltete, auf folgende zehn Gebote (Mizwot) zu achten: 1. Anzünden von Schabbat-Kerzen für Mädchen ab drei Jahren, 2. Tragen von Tefillin für Männer ab 13 Jahren, 3. Anbringen einer Mesusa, 4. Tora-Studium, 5. Zedaka (Wohltätigkeit), 6. Ausstatten der Wohnung mit heiligen Büchern, 7. Kaschrut: koschere Ernährung, 8. Nächstenliebe, Hilfe für Juden und Nichtjuden, 9. Jüdische Erziehung der Kinder, 10. Einhalten jüdischer Ehegesetze.
Spielt die rituelle Reinheit im Judentum aus Gesetzesgründen eine große Rolle, besitzt sie bei den Chabad-Anhängern zusätzlich eine tiefe mystische Dimension. So werden alle rituellen Waschungen, sei es das Händewaschen vor dem Essen oder das Tauchbad in der Mikwe, als spirituelle Erneuerung gesehen. In seiner 7. Mizwa empfahl Schneerson den Juden, sich auf jeden Fall koscher zu ernähren, damit die Gesundheit an Leib und Seele erhalten bleibt und das Judentum zu einem Teil der eigenen Existenz wird. Um auch das, was am nächsten am Menschen anliegt, mit göttlichen Energien zu füllen, sollten neue Kleidungsstücke vor dem ersten Tragen mit einem Segensspruch geheiligt werden. Es fällt zudem auf, dass Chabad-Frauen sich zwar arm- und beinbedeckend, jedoch sehr gepflegt und modebewusst kleiden. Eine Besonderheit bei Jungen und Männern der Chabad-Gemeinden ist der Poncho (Tallit Katan), den sie unter ihrer Alltagskleidung tragen und dessen weiße Schaufäden an ihren Hüften baumeln, „zur ständigen Erinnerung an den Ewigen“.11 Auch viele ethische Richtlinien finden sich in der Chabad-Bewegung. So hat Schneerson eines der wichtigsten chassidischen Gebote, die Ahawat Jisrael, die Liebe zum Mitjuden, zu seiner 7. Mizwa erklärt. In diese Rubrik fällt auch das 5. Gebot, die Zedaka, das Gebot der Wohltätigkeit und Gerechtigkeit. Danach sollte jeder so oft wie möglich anderen helfen und mit regelmäßigen, großzügigen Geldspenden, egal ob für Arme, Freunde, die Gemeinde oder für Hilfsorganisationen, zu einer gerechten Verteilung in der Welt beitragen.
Die Chabad-Lubawitsch-Bewegung ermutigt Menschen jüdischer Herkunft, jüdisches Leben so gut es geht in den Familienalltag zu integrieren. Das betrifft die Kindererziehung wie das Eheleben. Kinder sind ein Segen, die meisten Chabad-Familien haben sechs bis zehn. Sie sollten in jedem Fall eine jüdische Erziehung und Ausbildung bekommen, um die jüdische Tradition zu bewahren. Eheleute wiederum sollten sich an die jüdischen Ehegesetze halten, um die Beziehung vor Gott wohlgefällig zu gestalten.12
Mehr Jiddischkeit in die Öffentlichkeit bringen: Jüdische Rituale auf der Straße
Das Besondere der Chabad-Anhänger ist es, dass sie von sich aus an die Öffentlichkeit treten. So gestalten sie die Transparenz des jüdischen Lebens auf Straßen und Plätzen mit Lichtzünden, Umzügen, Tanz und Gesang. Besonders in der Weihnachtszeit ziehen Chabad-Familien die Aufmerksamkeit auf sich, wenn sie in den Städten haushohe Chanukka-Leuchter aufstellen und sieben Tage lang bei Sonnenuntergang öffentlich die Lichter anzünden und dazu tanzend hebräische und jiddische Lieder singen.
Auch haben es die Lubawitscher geschafft, für weltweite Präsenz zu sorgen. Denn tausende Rabbi- bzw. Rebbenpaare gründeten in den ungewöhnlichsten Gegenden Chabad-Zentren, sei es in Alaska, China, Ghana oder Bahrain. Mit reichhaltigen Schabbat-Mahlzeiten und mit Mizwot-Kampagnen werben sie dafür, den Juden verschiedener Richtungen eine religiöse Heimat zu bieten. Und damit alte, überlieferte Gesetze zu einem leicht anwendbaren Lebensstil werden, gibt es in Kursen, Büchern und Online-Informationen strukturierte Anleitungen, wie man die Küche koscher hält, den Kindern spielerisch jüdische Traditionen vermittelt oder eine jüdische Ehe führt. Menschen, die es eilig haben, erkundigen sich im Internet nach „Mizwot für Menschen auf der Überholspur“13. Großes karitatives Engagement zeigen die Lubawitscher mit eigenen Wohltätigkeitsverbänden wie der Aleph-Organisation, welche Juden wie Nichtjuden aus Krisengebieten bei der Versorgung, Flucht oder Aufnahme hilft.
Da sich in Osteuropa bereits in der Anfangszeit die Lubawitscher Rebben stets um eine gute Beziehung zu der Regierung und den Gerichten eines Landes bemühten, um die Juden vor Pogromen und Verfolgungen zu schützen, genossen sie sowohl das Ansehen politisch einflussreicher Persönlichkeiten als auch deren finanzielle Unterstützung, was bis heute anhält, gleich ob man auf den „Kreml“ oder das „Weiße Haus“ schaut.14 Auch treten sie als Repräsentanten eines zwar konservativen, aber doch weltoffenen Judentums auf und beteiligen sich aktiv am interreligiösen Dialog. Vielleicht sind es gerade die Beharrlichkeit und das Charisma so vieler Chabad-Rebben, mit denen es der Bewegung gelingt, Menschen zu überzeugen und weltweit Fuß zu fassen, selbst da, wo es aus politischen Gründen undenkbar scheint. Als jüngstes Beispiel sei das Engagement des Rebben Jacob Herzog genannt, der für ein jüdisches Zentrum in Saudi-Arabien wirbt und ein Bild von sich mit einem Saudi tanzend zu arabischer Musik vor einem Einkaufszentrum in Riad postet.15
Das Engagement der Lubawitscher sorgt aber nicht nur für Erfolg, sondern auch für Kritik, manchmal sogar Ablehnung vonseiten säkularer, liberaler, ja auch orthodoxer jüdischer Vereine. Die Gründe sind eine gewisse Vereinnahmung anderer Gemeinden, wenn nicht gar Verdrängung von deren Position. Denn ausgelassenes Singen und Tanzen, reich gedeckte Tische und ansprechende Tutorials zu einem jüdischen Leben ziehen gerade viele junge Menschen in ihren Bann. Manche jüdische Richtungen werfen den Chabad-Anhängern Personenkult der Rebben, eine zu wenig wissenschaftlich fundierte Ausbildung zum Rabbiner / Rebben und eine zu starke Neigung zum Mystizismus vor. Der damalige Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Pinneberg äußerte 2018 in einem Interview mit der „taz“ seine Befürchtung, dass Chabad sämtliche jüdische Gemeinden übernimmt. So sagt er: „Chabad versucht die Menschen zu einem Leben zu drängen, das man gar nicht führen kann. Die Anforderungen … – koscher leben, sich genau nach den jüdischen Gesetzen richten – sind im normalen Leben gar nicht umsetzbar. Das könnte irgendwann zur Entstehung einer Parallelgesellschaft führen.“16
In Berlin ist es die Gemeinde des Chabad-Rabbiners Yehuda Teichtal, deren Aktivitäten große Zustimmung erfährt. So hat diese etwa 108 Kinder aus einem ukrainischen jüdischen Waisenhaus aufgenommen und betreut darüber hinaus 400 ukrainische Flüchtlinge. Gemeinsam mit Juden aus anderen Ländern spazierten sie in einer Friedensparade zum Lag-baOmer-Fest im Mai auf dem Kudamm und demonstrierten nach Aussagen des chassidischen Rabbiners für die „Botschaft von Liebe und Zusammenkommen“17. Sehen die einen in ihnen einen Segen, die anderen eine Gefahr, so kommt von außen betrachtet mit der Chabad-Bewegung etwas zum Tragen, was im Judentum außerhalb Israels lange verborgen geblieben ist: nämlich die Umsetzung einer traditionsreichen und selbstbewussten jüdischen Alltagspraxis in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft sowie die Sichtbarkeit jüdischer Volksfrömmigkeit auf der Straße.
Liane Wobbe, 05.01.23
Anmerkungen
1 „Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der uns mit seinen Geboten geheiligt und uns befohlen hat, die Hände zu waschen.“
2 Gottesdienst am 21.5.2022.
3 Die Attribute entsprechen den Manifestationen Gottes in der Kabbala.
4 Kabbala ist eine Bezeichnung für mystische Texte des Judentums. Diese lehren die Verbindung zwischen materieller und geistiger Welt, den Erwerb göttlicher Kräfte und die Entschleierung verborgener Botschaften Gottes. Sie flossen auch ein in Erzählungen, Rituale und die jüdische Ethik.
5 Der Sohar enthält u. a. Einweihungsformeln und Deutungen von Buchstaben, Silben und Zahlen. Chabad-Anhänger stützen sich hierbei auf die Interpretation des Rabbiners Isaak Luri (1534 – 1572).
6 Vgl. https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/524428/jewish/Ein-Haus-voller-Torabcher.htm (Abruf der Internetseiten: 27.9.2022).
7 Vgl. Müller (Hg.) 1993.
8 In jüdischen Schriften finden sich fünf Bezeichnungen für die Seele: 1. Nefesch (Kehle, Empfindung), 2. Ruach (Geist, Wind), 3. Neschama (Atem, Hauch), 4. Chaya (Leben) und 5. Jechida (Einzige). Während Nefesch dem Überlebensdrang, Ruach der Unterscheidung von Gut und Böse und Neschama dem Intellekt zugeordnet werden, befinden sich Chaya und Jechida als höhere Kräfte außerhalb des Körpers. Vgl. Böckler 2012, 23f.
9 https://de.chabad.org/library/howto/wizard_cdo/aid/831453/jewish/3-Seltsam-aussehende-Trklingeln.htm.
10 Vgl. www.timesofisrael.com/a-tiny-russian-village-of-chabad-fame-dreams-of-becoming-jewish-pilgrimage-site; www.lubavitch.com/pilgrimage-to-historic-landmark-in-ukraine.
11 Vgl. https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/834704/jewish/Schatnes-Freie-Kleidung.htm; https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/932937/jewish/Zizit-oder-Tallit-anziehen.htm.
12 Vgl. https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/823252/jewish/10-Punkte-Mizwa-Kampagne.htm.
13 https://de.chabad.org/library/article_cdo/aid/834627/jewish/Mizwa-Minuten.htm.
14 Da Putin das Judentum in einer postsowjetischen Ära unterstützte, hielten Chabad-Rabbiner zu ihm enge Kontakte. Auch zu den US-Präsidenten pflegten sie enge Beziehungen und profitierten finanziell von deren Unterstützung. Vgl. www.juedische-allgemeine.de/juedische-welt/der-praesident-und-die-juden; https://obamawhitehouse.archives.gov/blog/2015/04/27/president-obama-welcomes-chabad-lubavitch-white-house; www.chabad.org/therebbe/article_cdo/aid/816636/jewish/The-Rebbes-Guidance-to-US-Presidents.htm.
15 Vgl. www.timesofisrael.com/in-saudi-arabia-a-rabbi-angles-to-lead-a-jewish-community-that-doesnt-exist.
16 https://taz.de/Wolfgang-Seibert-ueber-Chabad-Bewegung/!5508230.
17 www.juedische-allgemeine.de/unsere-woche/eine-ganz-besondere-friedensbotschaft.
Literatur
Böckler, Annette (2012): Gelebtes Leben. Die „Seele“ im Judentum, in: Bibel heute 48/189, 22 – 24.
Fishkoff, Sue (2010): Das Heer des Rebben, Basel.
Müller, Ernst (Hg., 1993): Der Sohar. Das Heilige Buch der Kabbala, 6. Aufl., München.
Wächter, Ludwig (Hg., 1988): Das verzauberte Pferd. Erzählungen aus der Welt des Chassidismus, Leipzig.