Moderne Erziehung zur Hörigkeit?
Die Tradierung strukturell-faschistischer Phänomene in der evolutionären Psychologieentwicklung auf dem spirituellen Psychomarkt
Karin Daecke, Moderne Erziehung zur Hörigkeit? Die Tradierung strukturell-faschistischer Phänomene in der evolutionären Psychologieentwicklung auf dem spirituellen Psychomarkt, 3 Bände, Verlag Edition Psychotherapie und Zeitgeschichte, Neuendettelsau 2006/2007, zusammen 1834 Seiten, alle drei Bände 125,00 Euro.
Kritische Stimmen über die Ideologielastigkeit der Psychologie sind in den letzten Jahren fast gänzlich verstummt. Vielleicht hat sich die Gesellschaft mittlerweile an die Psychologisierung des Alltags gewöhnt. Bei der unentwegten Neuerfindung der für die Postmoderne erforderlichen „flexiblen Identität“ scheinen die Methoden zeitgenössischer psychologischer Lebenshilfe sogar recht nützlich zu sein. Nach vielen Jahren umfangreicher Recherche hat nun eine Soziologin eine dreibändige Studie mit einer provozierenden Behauptung vorgelegt. Sie untersucht die These, ob dem gegenwärtigen spirituellen Psychomarkt faschistische Elemente zugrunde liegen. Welches Leitbild steht hinter dem Programm einer evolutionären Erziehung, und was für ein „Neues Bewusstsein“ und was für ein „Neuer Mensch“ entstehen dabei?
Die beiden ersten Bände sind Nachschlagewerke, die gezielt Kenntnisse über den Psychomarkt vermitteln. Hier werden Brücken von der New-Age-Bewegung zu ihrem „Pilotprojekt Scientology“ geschlagen und beides wird in seinen Typologien strukturell-phänomenologisch verglichen. Der erste Band will den glaubens-, ideologie- und wissenschaftsgeschichtlichen sowie den gesellschaftssystemischen Grundbestand einer „faschistischen Ideologiebildung“ und die hierzu gehörende „Psychologie der Verführung“ sichten und belegen. Dabei findet die Autorin in der gegenwärtigen Psychologie eine „Irrationalismusrenaissance“ vor, die der Ideologiebildung auf dem Psychomarkt zu großem Aufschwung verholfen habe. Diesen Trend versucht sie im Teil II mit dem Manichäismus, der Theosophie und neugermanischen Kulten historisch zu erklären. Im Rückgriff auf diese Glaubensmuster habe die Psychologie ein irrationalistisch-evolutionäres Leitbild angenommen und werde so zu einer Ideologie.
Leider verwendet die Autorin, die seit vielen Jahren als Soziologin und Gestalttherapeutin in freier Praxis arbeitet, einen sehr speziellen Psychologiebegriff, wenn sie den „glaubensgeschichtlichen Fundus“ der evolutionären Psychologie auf das „ariosophische und neogermanische Ordensspektrum“ zurückführt. Denn parallel zum Irrationalismus in der Psychologie ist die Fraktion der Rationalisten in den letzten Jahren deutlich angewachsen – denkt man nur an die breite Rezeption der Hirnforschung und der Neurobiologie. Auch ihr Evolutionsbegriff hat nichts mit dem Forschungsprogramm der Evolutionären Psychologie zu tun, in dem die Struktur der menschlichen Psyche unter Bezug auf die Evolution erklärt werden soll. Man muss sich erst mit der Terminologie der Autorin vertraut machen, um ihre Argumentation zu verstehen. Trotz weit ausholender, interdisziplinärer Anläufe werden darüber hinaus kaum Bezüge zur jeweiligen Forschungsliteratur hergestellt, was die Position der Autorin natürlich schwächt.
Der zweite Band will einen Überblick über die evolutionäre Psychologieentwicklung geben. Hierzu werden spirituell-psychologisch agierende Projekte an Protagonisten der Transpersonalen Psychologie vorgestellt. Insbesondere werden die Aktivitäten an den Entwicklungsorten Esalen (Grof), Arica (Ichazo) und Rütte (Graf Dürckheim) ausführlich dargestellt. Detailliert wird die Rolle des Evolutionärpsychologen Thomas Szasz als „wahrer Humanistischer Therapeut“ und „wahrer Antipsychiater“ in Frage gestellt, die dieser aufgrund seiner Beteiligung an der Gründung der „Kommission für Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“ (KVPM) einnimmt. Seine wichtigsten Veröffentlichungen in Deutschland (1972-1997) werden kritisch beleuchtet. Die Autorin zeigt auf, wie er der Scientology-Organisation zugearbeitet hat und wie sein Werk bestimmte Strukturelemente aufweist, die sie in ihrer Studie als „neomanichäische und zugleich evolutionär-narzisstische Tradierungsstrukturen“ bezeichnet. Damit will sie verdeutlichen, wie Psychologieverfahren „evolutionär-pragmatisch“ vereinnahmt werden.
Während in den ersten beiden Bänden bekannte evolutionär-psychologische und evolutionär-spirituelle Erziehungsprojekte zur Erschaffung eines „Neuen Menschen“ zwischen 1945 und 2000 dargestellt werden, soll im dritten Band eine „phänomenologische Strukturanalyse“ dazu dienen, Kriterien zur Gefahreneinschätzung bestimmter Psycho- und Sozialdynamiken zu entwickeln. Dazu werden zunächst die Untersuchungsmethoden der Studie breit und ausführlich dargelegt, was dem Leser ein erhebliches Durchhaltevermögen abverlangt. Viel spannender zu lesen sind die exemplarischen Feldprojekte, die am Beispiel der „Wild Goose Company“ und des „Vereins zur Förderung der psychologischen Menschenkenntnis“ (VPM) einen „führerzentrierten Sozialstrukturmodus im Wirkungskontext eines rigiden, kontroll- und leistungsfixierten Meta-Realitätsprinzips sowie den Wirkkontext eines ekstatisch-hedonistischen Meta-Lustprinzips“ verdeutlichen sollen. Auch wenn beide Organisationen in der beschriebenen Form nicht mehr existieren – Michael Barnett bietet seine Seminare mittlerweile unter dem Begriff „MB One Life“ an, der VPM wurde aufgelöst – sind die Beobachtungen und Folgerungen aufschlussreich und nicht nur historisch interessant. Das wichtige und aktuelle Thema der Manipulation wird von der Autorin in ihrer „strukturanalytischen Schlussbetrachtung“ als seelische Abwehrleistung im psychoanalytischen Sinne (Spaltung, Verschiebung, Regression) gedeutet.
Die Autorin hat sich viele Jahre intensiv mit diesem umfassenden Projekt beschäftigt. Sie gibt dem Leser in ihrer Einführung differenzierte Lesehinweise, wie man auch von einer ausschnitthaften Lektüre profitieren kann. Ein 30-seitiges Register erleichtert darüber hinaus die interessengeleitete Recherche. Die Möglichkeit des exemplarischen Lesens der ausführlichen Recherchen scheint mir der große Nutzen dieses Werkes zu sein, auch wenn man nicht allen Folgerungen zustimmen mag. Es ist der Autorin zu danken, dass sie manche überraschenden Querverbindungen hergestellt und detaillierte Beschreibungen der spirituellen Psychoszene geliefert hat. Dennoch weist das Werk entscheidende Schwachstellen auf: Die Grundthese von der Irrationalismusfreudigkeit der Psychologie ist einseitig zugespitzt. Die soziologische Wissenschaftssprache und die Begriffsbildungen der Autorin machen die Lektüre anstrengend. Die einschlägige Literatur ist nicht aufgegriffen worden – so fehlen etwa die Standardwerke von Bochinger und Küenzlen zum Thema. Auch naheliegende Vergleiche mit ähnlichen Konzepten wie die „Gehirnwäsche“ oder das „False Memory Syndrome“ sind leider nicht angestellt worden. Die Breite der Untersuchung, die Berücksichtigung verschiedenster Interpretationsmuster unter Ermangelung eines einheitlichen Erklärungsrahmens und die abstrakte Sprache schmälern den Wert dieser beeindruckenden Fleißarbeit.
Michael Utsch