Ulrich H. J. Körtner

Modethema Religion

Aspekte der religiösen Gegenwartskultur

Glaubt man gewissen Religionssoziologen und Pastoraltheologen, dann liegt Religion voll im Trend unserer Zeit. Im Jargon moderner Trendforscher sprechen sie gar von einem „Megatrend Religion“ bzw. einem „Megatrend Spiritualität“. Die These von der Säkularisierung Europas scheint passé. Einziger Wermutstropfen: Von der Hausse am Markt der neuen Religiosität konnten die Kirchen bislang nicht recht profitieren. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten an Boden verloren. Die Mitgliederzahlen der großen Konfessionen sind rückläufig, und die Bindung der verbliebenen Kirchenmitglieder hat sich teilweise bedrohlich gelockert. Darunter hat auch der konfessionell verantwortete Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen zu leiden.

Die Botschaft der Trendforscher ist klar: Die Kirchen dürfen den Anschluss an den Megatrend Spiritualität nicht verpassen. Am besten wäre es natürlich, man könnte sich selbst als Trendsetter neu positionieren. Aber das ist leichter gesagt als getan. Der Verdacht, dass die Kirche unter dem Label „Spiritualität“ nur alten Wein in neuen Schläuchen verkaufen will, ist beim neureligiösen Publikum groß.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) will sich jedoch nicht entmutigen lassen. In ihrem 2006 veröffentlichten Strategiepapier „Kirche der Freiheit“, das Perspektiven für das 21. Jahrhundert entwirft, hat sie sich einiges vorgenommen. Die evangelische Kirche will gegen den Trend der negativen demographischen Entwicklung wachsen. Die Chancen dafür stehen angeblich nicht schlecht: „Ein neues, plural geprägtes Interesse für religiöse Fragen bestimmt unsere Gegenwart, das mit dem Stichwort der Wiederkehr der Religion nur grob umrissen ist. Dieses neue religiöse Interesse muss bewusst als ein besonderes Zeitfenster für neue kirchliche Initiativen genutzt werden.“ Man beruft sich auf „Zukunftsforscher“, die von „Respiritualisierung“ als „gesellschaftlichem Megatrend“ sprechen. Und man zählt Fakten auf: So lag das Interesse an religiösen Themen im gesamten Jahr 2005 angeblich höher als in den neunziger Jahren und noch am Beginn des jetzigen Jahrzehnts. 82 Prozent aller westdeutschen Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren glauben an Gott, religiöse Erziehung wird in wachsendem Maße für wichtig gehalten, und ein wachsender Anteil der deutschen Bevölkerung glaubt, dass religiöse Fragen auch in Zukunft von Bedeutung sind.

Das ist Weihnachtsgeläut in den Ohren von Kirchenleitungen und Synoden und soll auch an der Basis für Aufbruchstimmung sorgen. Nüchtern betrachtet besteht für die Kirchen jedoch kein Anlass, in Euphorie zu verfallen. Zwar weht der Geist Gottes, wo er will, aber der Megatrend Spiritualität ist eine recht windige Angelegenheit, zum Teil auch von seinen Analysten selbst erzeugte heiße Luft. Manche Trendforscher, Religionssoziologen und Pastoraltheologen beschreiben nicht etwa eindeutig vorhandene Phänomene, sondern erzeugen sie erst durch ihre Deutung. Erkenntnis und Interesse bilden eine manchmal schwer durchschaubare Melange. Wenn man ernsthaft über Realität und Fiktion der Wiederkehr der Religion diskutieren will, muss man zunächst einmal fragen, wer mit welcher Absicht vom Megatrend Religion spricht, und dann die verwendeten Begriffe wie „Religion“ oder „Spiritualität“ unter die Lupe nehmen.

Megatrend Gottvergessenheit

In der Religionsforschung spielt die Semantik eine zentrale Rolle. Was genau Religion ist, weiß niemand so recht zu sagen. Religionswissenschaft und Theologie haben unterschiedliche Definitionen parat, die sich nicht auf einen Nenner bringen lassen. So kann der Eindruck entstehen, Religion sei das, was von interessierter Seite zur Religion erklärt wird. Dazu zählen dann auch Phänomene oder Verhaltensweisen, die von den Betroffenen selbst gar nicht als religiös empfunden werden. Religionsforscher aber behaupten, diese Menschen besser zu verstehen als sie sich selbst.

Auf diese Weise bringen es manche Religionssoziologen sogar fertig, eine früher unbekannte „unsichtbare Religion“ (Thomas Luckmann) zu ihrem Forschungsgegenstand zu erklären. Für das Unsichtbare waren ehedem Theologie und Metaphysik zuständig, dann die moderne Physik und heute offenbar die Religionssoziologie. In die Blackbox einer unsichtbaren Religion kann man im Zweifelsfall alles und jedes hineinprojizieren. Man braucht dafür nur die neue Wortschöpfung „religioid“, und schon sind je nach Belieben auch Museumsausstellungen, Marathonläufe und Massentourismus oder Fußballeidenschaft und Popkultur Erscheinungsformen des neureligiösen Megatrends.

Theologie und Kirche sollten sich allerdings fragen, worin eigentlich eine spezifisch theologische und christliche Perspektive auf die religiösen Phänomene und Tendenzen besteht, von denen heute die Rede ist. Der Auftrag der Kirche besteht doch nicht darin, sich ein möglichst großes Stück vom Kuchen der neuen Spiritualität zu sichern, sondern darin, das Evangelium von Jesus Christus zu verkündigen, das immer schon eine enorm religionskritische Kraft entfaltet hat.

Gewiss muss das Evangelium von dem Mensch gewordenen Gott, der Liebe ist, auch den „Religiösen“ bezeugt werden. Es gilt aber auch den Religionslosen, denen, die sich selbst wie einst Max Weber oder heute Jürgen Habermas für „religiös unmusikalisch“ halten. Ihnen erst einreden zu wollen, dass sie in Wahrheit doch auch alle religiös sind, entspricht der von Paulus scharf zurückgewiesenen Forderung, sogenannte Heiden müssten sich erst beschneiden lassen, das heißt Juden werden, bevor sie Christen werden könnten. Das ist nicht nur theologisch falsch, sondern auch unanständig, wie Dietrich Bonhoeffer unmissverständlich klargestellt hat. Seine Frage lautete, wie man Christus auch den Religionslosen verkündigen kann. Und diese Frage ist nach wie vor drängend, weil es neben religiösen Neuaufbrüchen in unseren Breitengraden auch einen massenhaften Gewohnheitsatheismus (Wolf Krötke) gibt, dem die Frage nach Gott schlicht abhanden gekommen ist, ohne dass die Menschen irgendetwas zu vermissen glauben.

Dieser Gewohnheitsatheismus arbeitet sich nicht mehr – wie noch vor Jahrzehnten der Protestatheismus – an der Theodizeefrage ab, sondern lebt ganz selbstverständlich ohne Gott. Nicht, dass er keine Sinnfragen kennen würde. Aber mit dem Tod und anderen Sinnwidrigkeiten kann man offenbar auch ohne Gott fertig werden, wie schon Bonhoeffer in den vierziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hellsichtig erkannt hat. Sofern also nicht alles und jedes für „religioid“ erklärt wird, kann man statt von einem Megatrend Religion mit gleichem Recht von einem Megatrend Gottvergessenheit sprechen.

Wiederkehr der Religion: Realität oder Phantom?

Was ist aber empirisch an der Wiederkehr der Religion tatsächlich dran? Sind die Ereignisse des Jahres 2005 ein klares Indiz? Die „Papamania“, die die Weltöffentlichkeit rund um den Tod Johannes Pauls II. und die Neuwahl von Benedikt XVI. erfasste, aber auch der Weltjugendtag in Köln, entpuppen sich bei genauerem Hinsehen als eine schillernde Gemengelage. Kommunikationsforscher sprechen in solchen Fällen – evangelische Kirchentage eingeschlossen – von Hybridevents, bei denen sich neben Kirchenvertretern viel Prominenz aus Kultur, Pop und Politik einfindet, der religiöse oder gar ein ausgeprägt katholischer Faktor jedoch nur eine geringe Rolle spielt. Religiöse Bedürfnisse mischten sich mit Sensationslust, Eventkultur mit der Suche nach Sinn. Zu einem nicht geringen Teil war die Papsteuphorie ein Medienphänomen, das auch vom Vatikan inszeniert und vermarktet wurde.

In ihrem Anachronismus erscheinen das Papstamt und die von seinen Inhabern verbreiteten Botschaften mit ihrer zum Teil harschen Kritik an der Moderne und dem Erbe der Aufklärung als postmodern. Jugendliche jubeln einem Papst zu, dessen Sexualmoral sie zugleich ignorieren. Im Frühjahr des Jahres 2005 erlebten wir einen Feuilleton-Katholizismus, bei welchem sich Journalisten über den Papst als Leuchtturm im wogenden Meer des (post)modernen Relativismus und als moralische Autorität im Kampf gegen Globalisierung und Raubtierkapitalismus verbreiteten – vermutlich ohne dass dies im persönlichen Leben der Autoren irgendwie von praktischer Bedeutung gewesen wäre.

Man täusche sich nicht: In der postmodernen Gesellschaft zollt man Außenseitern Respekt, solange sie als ungefährlich gelten. Ganz in diesem Sinne wurde Johannes Paul II. „gerade bei jenen zum Star, die nicht glauben“ (Andrea Roedig).

An dieser Stelle sei eine protestantische Zwischenbemerkung zur Modernitätstauglichkeit des Papstamtes erlaubt. Namhafte katholische Theologen preisen das von Johannes Paul II. für das Medienzeitalter geradezu neu erfundene Papstamt als angemessene Antwort auf die Globalisierung und die durch sie erzeugte Orientierungskrise. Schon Karl Rahner empfahl, die zur Entdifferenzierung neigende öffentliche Situation für die Kirche entschlossen auszunutzen. Der evangelische Theologe Eilert Herms merkte dazu bereits vor zwanzig Jahren an, im „Zeitalter der massenhaften öffentlichen Einwegkommunikation, in der das Medium dazu tendiert, die Botschaft selbst zu werden und die Faszination von großem Auftritt, Blick und Geste zunimmt“, sei „der in der römischen Kirche nie vernachlässigte restringierte, rituelle Kommunikationscode durchaus zeitgemäß und systemkonform“. Die Aufgabe von Theologie und Kirche sei es jedoch, „den Entdifferenzierungs- und Verdummungstendenzen der spätindustriellen Gesellschaft entgegenzuwirken“. Das gilt auch für den Umgang mit manchen Erscheinungsformen neuerer Religiosität, deren „sanfte Verschwörung“ (Marilyn Ferguson) einer sanften Verblödung gleichkommt.

Vergessene Vergangenheit und umstrittene Gegenwart

Überhaupt kann man sich über die Kurzatmigkeit des kollektiven Gedächtnisses in Sachen Religion nur wundern. Sonst würde wohl keiner im Ernst behaupten wollen, die westliche Welt träte gerade in ein neues religiöses Zeitalter ein. Vergessen scheinen die Zeiten des New Age in den achtziger Jahren, vergessen die Jesusbewegung der siebziger Jahre, als Andrew Lloyd Webber sein Musical „Jesus Christ Superstar“, das heute noch durch die Provinz tourt, auf Bühne und Leinwand brachte, vergessen die „Jugendreligionen“, die Eltern und Politikern Kopfzerbrechen bereiteten, vergessen die spirituelle Reise der Beatles nach Indien und George Harrisons Song „My Sweet Lord“, der dem Gott der Christen und Juden, Vishnu und Ramakrishna in einem Atemzug huldigte, vergessen Bob Marley, Rastalocken und Reggae, vergessen die Transzendenzsuche der Hippiebewegung in den Sechzigern, psychedelischer Pop und LDS-Trips. Megatrend Spiritualität am Beginn des 21. Jahrhunderts? In Wahrheit nichts Neues unter der Sonne.

Schon in den Siebzigern hat die damals als neu empfundene Religiosität zu keiner radikalen Trendumkehr im Prozess der Säkularisierung geführt. Die rasant steigende Zahl der Kirchenaustritte ging keineswegs mit einem Aufschwung neuer Religionsformen einher. Der Religionssoziologe Detlef Pollack resümiert: „Die Formen der Religion wandeln sich in den modernen Gesellschaften. Zweifellos. Aber mit dem Formenwandel geht ein Bedeutungsverlust der Religion einher, der alle ihre Dimensionen betrifft, ihre institutionelle und rituelle ebenso wie ihre individuelle und erfahrungs- und überzeugungsmäßige. Es ist einfach nicht wahr, dass die Kirchen sich leeren, aber Religion boomt.“ Es sind gerade Theologen und Kirchenvertreter, die den Prozess der Respiritualisierung überschätzen und die These von der Säkularisierung Europas für widerlegt halten. Wenn zum Beispiel der Wiener Pastoraltheologe Paul Michael Zulehner einen Rückgang bei der Kirchenaustrittszahlen in Österreich – notabene: der Mitgliederschwund der katholischen Kirche hält ungebrochen an! – schon als Indiz für einen Megatrend Spiritualität hält, ist das kühn, man kann auch sagen: peinlich.

Nicht viel besser steht es mit protestantischen Versuchen, die „gelebte Religion“ zum neuen Leitbegriff der Theologie zu machen und diese zu einer Form der Kulturwissenschaft zu erklären. Zwar verdient das Anliegen, die theologische Theoriebildung empirisch zu erden, unbedingt Unterstützung. Aber die Protagonisten eines neuen Kulturprotestantismus wie Friedrich-Wilhelm Graf oder Wilhelm Gräb überdehnen den Religionsbegriff bis ins Konturenlose dadurch, dass sie jede Bearbeitung der Sinnfrage zur Religion erklären. Hier gibt es eine merkwürdige ökumenische Allianz zur Neuauflage einer natürlichen Theologie, die aus einem vermeintlichen religiösen Aprioi eine neue Legitimation für die Existenz der Kirche(n) ableiten möchte. Religion ist freilich nur eine Möglichkeit neben anderen, aber nicht die einzige, Sinnfragen und Erfahrungen von Sinnwidrigkeiten zu bearbeiten. Auch ist die Frage nach dem Sinn des Lebens nicht ohne Weiteres mit der Gottesfrage identisch.

Nun muss man religionssoziologisch durchaus zwischen Religiosität und Kirchlichkeit unterscheiden. Doch ist Religiosität, wie Detlef Pollack nachweist, in unseren Breitengraden noch immer vor allem kirchlich bestimmt. Selbst wenn man Religion weit fasst und auch noch das Staunen über die Wunder der Natur, das Ergriffensein von einer bestimmten Musik oder das besondere Gefühl von Gemeinschaft im Gespräch hinzunimmt, sind es immer noch eher die Kirchennahen, die solche Erfahrungen als religiös empfinden. Dagegen geben viele Menschen, die aus der Kirche austreten, als Motiv an, sie brauchten in ihrem Leben keine Religion oder könnten mit dem Glauben nichts mehr anfangen.

Eine im April 2006 von der Düsseldorfer Identity Foundation veröffentlichte Studie über „Spiritualität in Deutschland“ zeigt ein ernüchterndes Bild. Nur noch etwa jeder zehnte Bundesbürger gehört demnach zu den „Traditions-Christen“. Die große Mehrheit sucht dagegen ihr Seelenheil weder bei den Kirchen noch bei anderen Religionen, sondern im engen Familien- oder Freundeskreis. Dort wird über Glaubensfragen allerdings selten oder gar nicht gesprochen. Dass die Hälfte aller Befragten angibt, Deutschland brauche wieder „mehr religiöse Werte“, hat für die persönliche Lebensführung offenbar nicht viel zu sagen. Da geht es nicht um „religiöse Werte“, sondern allein um Familie, Freunde und persönliches Wohlergehen.

Auch die Arbeitsgruppe Pastoralsoziologie an der Universität Wien unter der Leitung von Zulehner muss einräumen, dass im substantiellen, klassischen Sinn von Religion von einem Megatrend nichts zu bemerken ist. Im Gegenteil lasse sich beobachten, wie sich Religiosität im Sinne einer bewussten und existentiellen Entscheidung für eine bestimmte Religion oder Weltanschauung verflüchtige, „verdunste“ oder überhaupt ganz verschwinde. Die Studiengruppe spricht aber auch von „religio potentialis“, d. h. von einer potentiellen Religiosität, die sich überall auffinden lasse. In diesem Sinne könne man sehr wohl von einem Megatrend Religion sprechen.

Der Megatrend Religion ist also letztlich die Folge semantischer Politik. Eine Forschergruppe um den Wiener Soziologen Wolfgang Schulz hat in einer 2005 veröffentlichten Studie gefordert, zwischen „spirituellen Erfahrungen“, zum Beispiel emotional bewegenden Natur- oder Kunsterlebnissen, und „religiösen“ Empfindungen zu unterscheiden. Wenn es das Nicht-Religiöse kaum mehr gäbe, weil alles und jedes zur latenten oder unsichtbaren Religion erklärt wird, verliert der Begriff der Religion seine Kraft zur Unterscheidung. Schulz und seine Forscherkollegen konnten für Österreich nachweisen, dass es auch hier unter den befragten Katholiken einen klaren Trend zur „Säkularisierung innerhalb der Religion“ gibt. Die Privatisierung und Individualisierung von Religion, die immer wieder als Gegenthese gegen die Säkularisierungstheorie aufgeboten wird, sei allenfalls ein Teilphänomen der religiösen Pluralisierung.

Gottesoffenbarung als Erinnerungsspur

Doch was steht eigentlich theologisch auf dem Spiel? Zugespitzt formuliert: Es geht nicht um Religion, sondern um Gott. Es geht nicht um „kleine Transzendenzen“, die man im Urlaub oder im Fußballstadium erleben kann, sondern um die Frage, was mein einziger Trost im Leben und im Sterben ist, wie es der reformierte Heidelberger Katechismus (1563) ausdrückt. Und das drängende Problem der Kirchen ist nicht der Mangel an irgendwelcher Spiritualität, sondern die Sprachnot des Glaubens, die sich in einer bisweilen erschreckenden Banalisierung christlicher Glaubensinhalte zeigt, die der Ratsvorsitzende der EKD, Wolfgang Huber, mit Recht als Selbstsäkularisierung der Kirche kritisiert. Die Respiritualisierung, die nun als Gegenmittel empfohlen wird, ist in Wahrheit keine Alternative, sondern bloß eine Variante solcher Selbstsäkularisierung, die sich „dieser Welt gleich stellt“ (Röm 12,1). Menschliche Rede von Gott, die seine Offenbarung bezeugen möchte, kann misslingen. Aus dem Misslingen des Gotteswortes entsteht eigentlich erst die Frage nach Gott; so der evangelische Theologe Ernst Fuchs (1903-1983). Es ist solches Misslingen, das Theologie und Kirche beunruhigen muss, denn es erschüttert beide bis ins Mark. Verglichen mit dieser fundamentalen Gotteskrise bleibt die Debatte um den Megatrend Religion ein Oberflächenphänomen.

Heutige Formen neuer Religiosität sind oftmals eine Religion ohne personhafte Gottesvorstellung. Sie rechnet mit kosmischen Energien und Kraftfeldern, die man spirituell anzapfen kann, nicht aber mit einem personhaften Gott, der den Menschen als verantwortliches Gegenüber geschaffen hat. Wichtige Strömungen, die als neue Religiosität bezeichnet werden, laufen auf einen Pantheismus oder Monismus hinaus, der kein Gegenüber von Gott und Welt, Schöpfer und Schöpfung kennt, sondern nur ein kosmisches Einheitsprinzip. Umfragen zeigen, dass auch unter Kirchenmitgliedern solche neureligiösen Vorstellungen anzutreffen sind, während man dem Glauben an einen personhaften Gott mit wachsendem Unverständnis begegnet.

Die Wiederkehr der Religion, besser gesagt, das neu erwachende Interesse an Religion, kann im Einzelfall ebenso sehr Ausdruck der Gottsuche wie des Gottesverlustes sein. Umgekehrt kann ein Gewohnheitsatheist Gott näher sein als so mancher, der sich für religiös hält.

Bei vielen Versuchen, von Gott auf Religion als Leitthema der Theologie umzuschalten, bleibt durchaus unklar, ob die Unvermeidbarkeit von Religion postuliert und aus ihr die Unvermeidbarkeit des menschlichen Gottesbezuges oder ob aus der vom christlichen Glauben behaupteten Unvermeidbarkeit Gottes – jedenfalls für gebildete Menschen – die Unvermeidbarkeit von Religion behauptet werden soll. Weder das eine noch das andere trifft zu, wie Ingolf U. Dalferth zu Recht bemerkt. Davon abgesehen darf die vom Glauben behauptete Unvermeidbarkeit Gottes nicht mit der Unvermeidbarkeit der Frage nach Gott verwechselt werden.

Nach einer häufig zitierten Definition Rudolf Bultmanns ist Gott „die Alles bestimmende Wirklichkeit“. Insofern gilt allerdings, dass keinem von uns Gott fern ist (Apg 17,27), dass er alle Menschen angeht, weil er ihnen nachgeht und sich ihnen auch dann zuwendet, wenn sie sich von ihm abwenden. Zu den epochalen Erfahrungen und Überzeugungen der Moderne gehört allerdings die Abwesenheit des biblisch bezeugten Gottes. Soll dennoch vom Gott der Bibel gesprochen werden, so kann dies scheinbar nur noch im Modus der Rede von seiner Abwesenheit geschehen.

Theologie und Kirche können nicht mehr selbstverständlich davon ausgehen, dass der biblische Gott zumindest im Modus einer offenen und offengehaltenen Frage präsent ist. Aus der Überzeugung, bessere Antworten auf die falsch gestellten Fragen des Christentums gefunden zu haben, speist sich das Selbstbewusstsein der Neuzeit. Nicht nur die christliche Antwort auf die Gottesfrage, sondern sogar diese selbst scheint in Vergessenheit zu geraten. Diese „Gotteskrise“ (Johann Baptist Metz) wird durch ein schwammiges Gerede von Religion nur vernebelt, aber nicht behoben.

Unter neuzeitlichen Bedingungen hängt die Möglichkeit, von Gott zu reden, offensichtlich nicht von einer wie auch immer gearteten Frage nach Gott ab, sondern an der Erinnerungsspur der biblisch bezeugten Gottesoffenbarung, so gewiss es keinen natürlichen oder evolutionären Weg von einem allgemeinen Religionsbegriff zum Geltungs- und Wahrheitsanspruch jedes wirklichen Monotheismus gibt. Ludwig Wittgensteins grundsätzliche philosophische Feststellung trifft auch auf den biblisch bezeugten Gott zu: „Zu einer Antwort, die man nicht aussprechen kann, kann man auch die Frage nicht aussprechen.“ Die Gottesfrage liegt der Offenbarung nicht voraus, sondern wird erst durch sie in der angemessenen Weise provoziert. Andernfalls lässt sich nicht einmal die Frage nach Gott angemessen stellen.

Die Frage nach Gott kann heute nur gestellt werden, weil vor uns Menschen von Gott geredet und sein Wirken bezeugt haben. Die neutestamentlichen Texte aber tun dies so, dass sie zugleich von Jesus Christus sprechen. Wer verstehen will, welchen Sinn es hat, im christlichen Sinne von Gott zu reden, muss auch die Eigentümlichkeit der Sprachformen und Textsorten beachten, in denen dies geschieht. Die Rede von Gott und die Rede von Jesus als dem Christus bedingen einander wechselseitig. Auf diese Weise gewinnen die Rede von Gott und die Frage nach ihm ihr unverwechselbares christliches Profil. Weder kann von Gott unter Absehung von Christus gesprochen, noch von Jesus als dem Christus unter Absehung Gottes und seines Handelns durch und an ihm gesprochen werden. Andernfalls wird Gott mit einem metaphysischen Prinzip gleichgesetzt und die Christologie zur bloßen Anthropologie reduziert.

In diesem Sinne haben sich die Kirchen darum zu bemühen, das Profil des Christlichen zu schärfen. Christlicher Glaube unterscheidet sich von allen sonstigen Formen von Religion durch das Bekenntnis zu Jesus Christus als Heilsbringer. Eben darum wurden und werden die an ihn Glaubenden Christen genannt. Dieses Bekenntnis aber schließt den Glauben an den von Jesus verkündigten Gott ein, der wiederum der Gott Israels ist. Dennoch: Nicht eine vage Gottoffenheit, sondern das Christusbekenntnis ist der entscheidende „Marker“, an dem das Label „Christentum“ auf dem Markt der religiösen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten erkannt wird. Von hier aus ist die Identität von Glaube und Kirche zu bestimmen. Das erfordert freilich auch Redlichkeit, wenn es darum geht, die eigene Lage einzuschätzen – keine Schönfärberei. Auf die Anfänge des Verstehens zurückgeworfen, gilt es neu zu fragen: Was bedeutet Christus für diese Welt, und was heißt es, ein Christ zu sein?


Ulrich H. J. Körtner, Wien


(Eingangsvortrag in der Werkstatt Weltanschauungen: „Kommt die Religion oder geht die Religion?“, 31. Deutscher Evangelischer Kirchentag, Köln, 7. Juni 2007)