Mormon Tabernacle Choir auf Europa-Tournee
(Letzter Bericht: 9/2015, 352f) Der „Tabernacle-Choir“ der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) veranstaltet gemeinsam mit dem „Orchester am Temple Square“ vom 27. Juni bis zum 16. Juli 2016 eine Konzertreise durch Europa. Der Chor ist ob seiner Qualität weltberühmt und ein öffentliches Aushängeschild der Heiligen der Letzten Tage. Er ist allsonntäglich weltweit in Live-Ausstrahlungen von „Music and the Spoken Word“ zu hören. Die halbstündige, seit 1929 laufende und damit älteste kontinuierliche Radiosendung der USA kombiniert Chorgesang mit einer kurzen Besinnung zu religiösen und philosophischen Fragen. Deren Inhalte unterscheiden sich wohltuend von den seichten Produktionen mancher amerikanischer „Televangelists“ (Fernsehprediger) und enthalten oft gar keinen expliziten Bezug auf christliche oder gar spezifisch mormonische Glaubensvorstellungen, sondern einfache, praktische Erwägungen zu lebenspraktischen Sinn- und Alltagsfragen.
Der Chor tritt trotz der starken gegen Mormonen gerichteten traditionellen Vorbehalte der evangelikalen Kirchen Amerikas regelmäßig bei hochkarätigen staatlichen Anlässen auf, z. B. sang er schon bei mehreren Präsidenten-Inaugurationen.
Die 360 Chormitglieder und das Orchester sind, so wie fast alle Inhaber geistlicher Ämter der Mormonen, hier ehrenamtlich tätig, darunter auch eine ganze Reihe von Profi-Musikern im Orchester. Die Anforderungen sind nicht allein musikalisch hoch, denn die Sänger und Musiker müssen sich nicht nur durch gesangliche Exzellenz auszeichnen, sondern sich außerdem als Botschafter ihrer Kirche mit selbiger „in good standing“ befinden. Das heißt, sie müssen die hohen Anforderungen an eine ethisch einwandfreie Lebensführung im mormonischen Sinne kultischer Reinheit erfüllen oder mit anderen Worten: einen „Tempelschein“ besitzen, der es ihnen erlaubt, an den Tempelritualen ihrer Gemeinschaft teilzunehmen. Benannt ist der Chor nach dem „Tabernakel“, einem 1867 errichteten Versammlungsgebäude am Temple Square von Salt Lake City, von dem aus die genannten Radioübertragungen in der Regel stattfinden.
Der 1847, wenige Tage nach der Stadtgründung Salt Lake Citys gegründete Chor geht zwar ungefähr alle zwei Jahre auf Tournee, kommt aber erst zum sechsten Mal seit seiner Europapremiere 1955 auf den alten Kontinent. Zuletzt war er hier vor 18 Jahren zu sehen. Diesmal stehen Auftritte in Berlin, Frankfurt, Nürnberg, Wien, Zürich, Brüssel, Rotterdam, und Paris an.
Das musikalische Programm – derzeit spielt der Chor den kompletten Messias von Händel auf CD ein – umfasst eine breite musikalische Palette von klassischen Chorälen bis hin zu amerikanischem Folk, klassischen Gospels sowie aus Musicals und Filmen bekannten Hits mit erbaulicher Botschaft. Es ist also kaum oder gar nicht durch speziell aus der mormonischen Tradition stammendes Liedgut gekennzeichnet, sondern stützt sich auf Musik, wie sie in vielen Kirchen der Welt gesungen werden könnte.
Nach eigener Aussage haben die Chortourneen keine missionarischen Absichten, sondern wollen den Menschen „Hoffnung schenken und sie für die christliche Botschaft begeistern“. Mormonen verstehen sich selbst als Christen, auch wenn diese Einschätzung von den Kirchen der ökumenischen Christenheit nicht geteilt wird. Obgleich man diese Chortournee, abgesehen von einem positiven Imagegewinn, tatsächlich kaum als unmittelbar mormonisch-missionarisches Unterfangen bezeichnen kann, fällt doch auf, dass die Präsentation des Chores im Tourneeprogramm und in der Sendung „Music and the Spoken Word“ zu der öffentlichen Selbstdarstellung der Mormonen passt, die seit Jahren erkennbar ist. Man betont vor allem das, was man mit den anderen Kirchen gemeinsam hat. Aufgrund der christlichen Ursprünge ist das nicht wenig (auch wenn bisweilen bei näherem Hinsehen gleiche Begriffe Unterschiedliches meinen). Die zahlreichen Sonderlehren, die die Abgrenzung der ökumenischen Kirchen von den Mormonen begründen, treten demgegenüber in der öffentlichen Kommunikation in den Hintergrund. Man muss das nicht unbedingt kritisch als unaufrichtiges Versteckspiel bewerten. Es entspricht dem mormonischen Selbstverständnis. Und immerhin ist Kirchenmusik, sind christliche Gospels und Choräle auch aus sich selbst heraus Verkündigungsgeschehen.
Im Jahr 2014 überraschte der Chor seine Fans auf humorvolle Weise. Beim traditionellen Weihnachtskonzert, in dem man mit jährlich wechselnden prominenten Künstlern (meist Nicht-Mormonen) auftritt, stand plötzlich die gesamte Besetzung der Muppet-Show als Gastsänger auf der Bühne – der Tabernacle Choir ist nicht nur eine religiös-mormonische, sondern vor allem auch eine kulturell-amerikanische Institution.
Kai Funkschmidt