Mormonische künstlerische Vielfalt
(Letzter Bericht: 1/2017, 32f) Mormonen (Latter-day Saints, LDS) pflegen normalerweise einen unverkennbaren und weltweit einheitlichen Stil in ihrer religiösen Kunst. Großformatig in Tempeln und Gemeindehäusern ebenso wie in den zentral publizierten und in verschiedene Sprachen übersetzten Publikationen herrscht eine unverwechselbare, kaum variierende Bildsprache. In ästhetisch schlichten Illustrationen von Szenen aus der Bibel, dem Buch Mormon oder der mormonischen Kirchengeschichte ist die Hand individueller Künstler nur selten erkennbar. Es dominieren gut aussehende, groß gewachsene, hellhäutige Menschen in idealen Landschaften. Das Personal ist übersichtlich angeordnet und das Geschehen klar zu überblicken. Die keineswegs seltenen Abbildungen göttlicher Personen in weißen Gewändern entsprechen klischeehaft kindlichen Vorstellungen. Gottvater als lichtumwebter, würdig silberhaariger Herr, gerne halbhoch über dem Boden schwebend, Jesus als junger, milde blickender Adonis mit halblangem, welligem Haar, Männer in der Regel mit gepflegten Vollbärten von der Art, wie sie derzeit wieder in Mode sind.
Dabei sind die Maler selbst keineswegs immer Mormonen. Einer der beliebtesten war Harry Anderson (1906 – 1996), der zwar im mormonischen Auftrag stets Engel ohne Flügel malte, aber gerne mit den LDS-Kirchenleitern darüber diskutierte – denn nach seiner Ansicht als überzeugter Siebenten-Tags-Adventist müssen Engel der Bibel zufolge Flügel tragen. Zweideutiges, Dunkles oder Unklares, Stilbrüche, interpretationsbedürftige Symbole und abstrakte Kunst, wie man sie aus anderen religiösen Traditionen kennt, fehlen in offiziellen mormonischen Kontexten völlig. Bei der Dekoration kirchlicher Gebäude haben die Ortsgemeinden aus einem festen Kanon von Bildern zu wählen, der von der Kirchenleitung festgelegt wird. Der führende mormonische Apologet und Geschichtsprofessor Hugh Nibley (1910 – 2005) fällte über diese in seiner Kirche dominierende Kunst einmal das Urteil: „Coca-Cola ads that are very folksy, very down to earth [… possessing] no artistic value whatsoever.“1
Leicht zu übersehen ist, dass es daneben aber auch andere mormonische Kunst gibt. Seit 1987 veranstaltet die Kirche einen Internationalen Kunstwettbewerb, über dessen zehnte Auflage die Mitgliederzeitschrift Liahona im Dezemberheft 2016 berichtet.2 Fast tausend Werke waren eingereicht worden. Außer häuslicher Handwerkskunst, die von der Stickerei bis zu Quilts reichte, waren dies Plastiken, Fotografien und Gemälde. Im Museum für mormonische Kirchengeschichte in Salt Lake City wurden 98 Werke aus 40 Ländern ausgestellt. Darunter sind Bilder im Stil östlicher Ikonen und frühkirchlich-orientalischer, indischer und kubistischer Malerei. Auch Modernes und Abstraktes, das man sonst nie in mormonischen Zusammenhängen sieht, findet sich. Gerade die abstrakteren und für mormonische Verhältnisse ungewöhnlicheren Exponate allerdings gibt es nur auf der Museumswebseite zu sehen – im Liahona-Heft entfernte man sich denn doch lieber nicht allzu weit vom Üblichen, sondern gerade genug, um eine sonst in Kirchenkreisen unbekannte artistische Vielfalt anzudeuten.
An eine Verbreitung anderer Kunststile über das mormonische Kirchengeschichtsmuseum hinaus, etwa in Kultstätten und Publikationen hinein, oder an eine stärker inkulturierte, an regionalen Besonderheiten ausgerichtete Religionsästhetik ist allerdings nicht gedacht: „The purposes of the international art competitions are, first, to discover and showcase the breadth of Latter-day Saint artists, and second, to help develop the Church History Museum art collection.“3 Das allerdings klingt, als sei Individualität im künstlerischen Ausdruck mormonischer Frömmigkeit zwar nicht gerade verpönt, aber doch am sichersten im Museum der Kirchenleitung aufgehoben.
Kai Funkschmidt
Anmerkungen
- Hugh Nibley, Teachings of the Book of Mormon – Semester 3, American Fork 2004, 297.
- Vgl. Liahona Dezember 2016, 21-27. Die 98 ausgewählten Werke sind vollständig unter lds.org/go/10art zu sehen.
- https://history.lds.org/article/international-art-competitions?lang=eng . Dort sind auch die Bilder früherer Wettbewerbe zu sehen.