Mose- und Josefsgeschichte in Bibel und Koran
„Christentum und Islam, das ist Nähe und Ferne zugleich“, schreibt Udo Tworuschka zutreffend in seinem „Handbuch der Religionen“1. Dieser allgemeinen Erkenntnis werden viele zustimmen. „Keine andere Religion gibt es, in der Jüdisches und Christliches, wenngleich in islamischer Rezeption, eine so bedeutende Rolle spielt.“ Ulrich Dehn hat im „Materialdienst“ vor einiger Zeit2 eine klärende Gegenüberstellung des Bildes verschiedener gemeinsamer Gestalten von Bibel und Koran vorgelegt. Was „islamische Rezeption“ heißen kann und worin „Nähe und Ferne“ besteht, wird so sehr anschaulich und konkret. Weil mich diese Form des „Bildvergleichs“ nicht zuletzt aus didaktischen Gründen überzeugt, setze ich sie im Folgenden ein wenig fort.
Mose: Gottes Prophet, auch Gottes Freund?
Betrachten wir die Mosegestalt in der Bibel nicht historisch, sondern als Gesamtbild, wie es als Ergebnis eines hochkomplexen Überlieferungsprozesses vor uns steht, so können wir darin doch leicht verschiedene Grundelemente erkennen. Mose erscheint als Gesetzgeber, als Prophet und Volksführer. Auch im Koran wird er in diesen Rollen gezeichnet.
Wie keine andere Figur der Bibel begegnet Mose – wie in wieder anderer Weise Jesus – in der Bibel als der, der in einer eigentümlichen, großen und fast intimen Nähe zu Gott gezeichnet wird. So wird von ihm erzählt, dass er im lang andauernden Gespräch mit Gott ist (2. Mose 24,12ff). Wird in der Bibel immer wieder betont, dass niemand Gott sehen und ihm nahen kann, so kreisen verschiedene biblische Überlieferungen um die besondere – fast möchte man sagen leibliche – Nähe Moses zu Gott.
„Und der HERR sprach zu Mose: Komm herauf zu mir auf den Berg und bleib daselbst, dass ich dir gebe die steinernen Tafeln … Als nun Mose auf den Berg kam, bedeckte die Wolke den Berg, und die Herrlichkeit des HERRN ließ sich nieder auf dem Berg Sinai, und die Wolke bedeckte ihn sechs Tage; und am siebenten Tage erging der Ruf des HERRN an Mose aus der Wolke. Und die Herrlichkeit des HERRN war anzusehen wie ein verzehrendes Feuer auf dem Gipfel des Berges vor den Israeliten. Und Mose ging mitten in die Wolke hinein und stieg auf den Berg und blieb auf dem Berge vierzig Tage und vierzig Nächte.“
Diese Nähe zwischen Gott und Mose gipfelt in einer Aussage in 2. Mose 33,11, die sentenzenartig eine Notiz über den priesterlichen Weissagungsdienst des Mose für das Volk zusammenfasst: „Der HERR aber redete mit Mose von Angesicht zu Angesicht, wie ein Mann mit seinem Freunde redet ...“
Als sei das zu viel, wird unmittelbar im Anschluss daran berichtet, dass Mose verwehrt wird, die Herrlichkeit und das Angesicht Gottes zu schauen (2. Mose 33,12ff). In einer Situation der Unsicherheit und Anfechtung, ob Gott es denn wirklich mit seinem Plan, das Volk in das verheißene Land zu bringen, ernst meint, kommt es zu einem Dialog mit Gott, in dem Mose immer weitere Bitten vorbringt, die bis auf die letzte erfüllt werden: „Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen! Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des HERRN: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich. Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.“
Nun überliefert auch der Koran diese Szene, in der Mose auf dem Sinai Gottes Herrlichkeit schauen will. Im Koran lautet sie in charakteristischer Weise anders als in der Bibel. „Mose sagte: Herr! Lass mich dich sehen, damit ich dich anschaue! Gott sagte: Du wirst mich nicht sehen. Aber schau den Berg an! Falls er bei meinem Erscheinen fest auf seiner Stelle bleibt, wirst du mich sehen. Als nun sein Herr dem Berg erschien, ließ er ihn (durch seine bloße Gegenwart) zu Staub zerfallen. Und Mose fiel wie vom Blitzschlag getroffen zu Boden. Als er wieder zu sich gekommen war, sagte er: Gepriesen seist du! (Wie konnte ich danach verlangen, dich anzuschauen!) Ich wende mich (reumütig) dir wieder zu und bin der erste von denen, die (an dich) glauben.“ (Sure 7,143)3 Damit ist für den Koran die Schilderung der Episode beendet.
In der hebräischen Bibel endet die Szene nicht mit einer Absage, geschweige denn mit der Demonstration der Macht Gottes, die Berge zu Staub zerfallen lassen kann. Der Erzähler schildert eine geradezu zarte Szene. Die Herrlichkeit Gottes, also Gott selbst, zieht an Mose vorüber. Mose wird von Gott selbst zu seinem Schutz in eine Felsspalte gestellt, und Gott hält die Hand über ihn: „Und der Herr sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“ Mose bleibt das „Nachsehen“, er kann die Spuren Gottes erkennen.
Wie zurückgenommen und charakteristisch „bildlos“ klingt es, wenn der Koran versichert, Gott habe mit Mose geredet (4,164). Es unterscheidet die Bibel vom Koran, dass in der Bibel die Schilderung der Nähe zwischen Gott und Mose ein konstitutiver Aspekt ist. Entsprechende Aussagen im Koran würden die besondere Rolle Mohammeds nivellieren, könnte man meinen. Im Koran wird diese Rolle Mohammeds ja dadurch ausgedrückt, dass er „der Gesandte Gottes und das Siegel der Propheten (d.h. der Beglaubiger der früheren Propheten, oder der letzte Prophet)“ genannt wird (Sure 33,40). Die Rücksicht auf Mohammed erklärt aber nicht alles. Offensichtlich würden die biblischen Aussagen Größe und Erhabenheit Allahs verletzen. Man könnte mit Sure 4,171 formulieren: So wie er darüber erhaben ist, „ein Kind zu haben“, so ist er auch darüber erhaben, von Angesicht zu Angesicht wie ein Mann mit seinem
Freund zu reden.
Dass jemand als Freund Gottes herausgehoben sein kann, ist aber nun von kaum zu unterschätzender Bedeutung für das Profil biblischer und christlicher Frömmigkeit. Die Bezeichnungen „Freund und Vater“ (vgl. Paul Gerhardt, EG 351,2) als Rede von Gott sind für das Christentum konstitutiv. Die bildreiche – oder eben nicht bildreiche – Rede von Gott bestimmt die Gestalt, in der sich Glaube äußert. Man kann die Wirkung der gezeigten Differenzen auf die Frömmigkeit kaum überschätzen. Metaphern, die menschliche Gottesbilder hervorrufen wollen, prägen die christliche Frömmigkeit. Von der Gottesbeziehung kann und muss in der Sprache der Liebe geredet werden. Die Erhabenheit Gottes widerspricht dem nicht, sie bekommt dadurch ihr Profil. Das erlaubt auch Gefühle wie Zorn, Wut und Anklage: „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,1)
Joseph oder der Wahres verheißende oder der in Wahrheit rettende Gott?
Der Koran erzählt in Sure 12 von Joseph und seinen Brüdern. Anschauliche Ergänzungen gegenüber der Bibel berichtet der Koran von Josephs Ergehen im Haus des Potiphar. Letzterer heißt im Koran bloß der Ägypter. Aufgrund der Position des Risses in Josephs Gewand wird entdeckt, dass die Frau des Ägypters den Joseph zu Unrecht der Vergewaltigung beschuldigt. „Das ist (wieder einmal) eine List von euch (Weibern). Ihr seid voller List und Tücke... Und (du, Frau) bitte Gott um Vergebung für deine Schuld“ (Sure 12, 28). Allerdings enthält der Koran auch die hübsche Episode, dass die Freundinnen der Frau, als sie den anmutigen Joseph vorgeführt bekommen, sich vor Schreck über die Schönheit des Jünglings mit ihrem Obstmesser schneiden.
Gravierender sind freilich die Differenzen in der Zielrichtung und Abzweckung der Geschichte. Die biblische Erzählung enthält ihre Deutung in der längeren und kürzeren Rede Josephs vor seinen Brüdern: „Und er sprach: Ich bin Josef, euer Bruder, den ihr nach Ägypten verkauft habt. Und nun bekümmert euch nicht und denkt nicht, dass ich darum zürne, dass ihr mich hierher verkauft habt; denn um eures Lebens willen hat mich Gott vor euch hergesandt. Denn es sind nun zwei Jahre, dass Hungersnot im Lande ist, und sind noch fünf Jahre, dass weder Pflügen noch Ernten sein wird. Aber Gott hat mich vor euch hergesandt, dass er euch übrig lasse auf Erden und euer Leben erhalte zu einer großen Errettung“ (1. Mose 45,4ff). Die Josephsgeschichte der Bibel schildert Bewahrung und Rettung auf verschlungenen Wegen.
Als Jakob gestorben ist, wird noch einmal eine Begegnung Josephs mit seinen Brüdern erzählt. Die Brüder haben Angst, dass Joseph sich nach des Vaters Tod an ihnen rächen wird. Sie bitten ihn um Vergebung. Josephs Reaktion zeigt, dass sie sich umsonst Sorgen gemacht haben. Der Erzähler legt Joseph noch einmal ein Resümee der Geschichte in den Mund: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk“ (50,19). Das Ziel der Geschichte ist zu erzählen, wie Gott durch die böse Tat der Brüder die Nachkommen Abrahams gerade gerettet hat.
Dieser Aspekt der Rettung und Bewahrung auf dem Weg über gegenteilige Erfahrungen wird in Martin Luthers Deutung der Josephserzählung verallgemeinert: „Wo man meynet, es sey der teufel und tod, da ist er (Gott) am nehisten, Er (Joseph) meynet, er sey verlassen von Gott und der welt, so wartet sein Gott und hat ein Auge auff yhn, lest yhn wol verkaufft unf gefangen werden, als sey kein Gott bey yhm, Aber da die zeit kömpt, setzt er yhn zun hohisten ehren ... Also das dis exempel ein recht furbild und grosse reitzung ist zum glauben, wo ich hyn kome, yns vaters hause odder yns elend und frmbde land, das ich wisse, Gott sey au da daheymme, sonderlich, wo ich keinen trost und zuversicht zun leuten haben kann und gantz verlassen bin“ (WA 24, 632f, Predigten zum 1. Buch Mose). Gottes Führung bewahrt Menschen nicht vor Schuld und Not, wie das Beispiel Josephs zeigt, aber sie bewahrt sie letztlich in Schicksalsschlägen und führt sie zu einem guten Ende. Die Geschichte will so das Lebensvertrauen von Menschen provozieren und stärken.
Interessanterweise hat dieser Aspekt der Josephsgeschichte, dass sie zu Vertrauen und Hoffnung in Not und Leid reizen will, in der Fassung, die die Josephsgeschichte im Koran (Sure 12) hat, kaum – oder nur höchst indirekt – Raum. In Sure 12 wird die Josephsgeschichte auf die Erfüllung einer Weissagung hin fokussiert. Als die Brüder vor ihm niederfallen, sagt Joseph: „Das ist die Deutung meines Traumgesichts. Mein Herr hat es wahr werden lassen“ (Sure 12,100). Die Träume des Joseph vom Anfang erweisen sich am Ende als zutreffende Voraussagen, wie es der alte Jakob gleich erkannt hat und auch seinen Sohn vor seinen Brüdern warnt (12,4-6): „Dein Herr weiß Bescheid und ist weise.“ Nicht Not und Hilfe, sondern Wahrheit und Unwahrheit, nicht Gefahr und Rettung, sondern richtige oder falsche Voraussage ist die Spannung, in der sich die Geschichte im Koran abspielt. (Natürlich muss man sehen, dass die Wahrheit der Voraussage auch Vertrauen ermöglicht.) Auch diese Differenz ist erheblich und gibt den Fassungen der Geschichte eine ganz unterschiedliche Klangfarbe.
Wenn sich im Detail das Ganze spiegelt, so wäre detaillierter und tiefer, als es hier geschehen kann, zu prüfen, ob in den gezeigten Beispielen Hinweise auf die Differenz der Religionen überhaupt gesehen werden können, für die die hebräische Bibel oder der Koran das Heilige Buch sind. Charakteristische Differenzen zeigen sich in aller Regel dort, wo die Verwandtschaft am größten scheint. Gefällige Gemeinplätze wie die Rede von der Verwandtschaft der Buchreligionen oder dem gemeinsamen Erbe der abrahamitischen Religionen verdunkeln das jeweilige Profil eher, als dass sie zu wirklichen Klärungen beitragen. Es ist immer besser, in die jeweiligen Bücher auch hineinzuschauen.
Michael Nüchtern, Karlsruhe
Anmerkungen
1 Michael Klöcker / Udo Tworuschka, Handbuch der Religionen, EL 2002, IV-3,6, 3.
2 MD 2/2005, 43ff.
3 Der Koran, Übersetzung von Rudi Paret, Stuttgart 82001.