Muslime distanzieren sich von Gewalt und Terror - Open Letter to Al-Baghdadi
Muslime in aller Welt haben den Terror und die brutale Gewalt des sogenannten „Islamischen Staates“ (IS) aufs Schärfste verurteilt und sich von der Ausrufung eines „Kalifats“ durch die Terrormiliz distanziert. Im Juli hatte die Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) die Praktiken des IS für unerträgliche Verbrechen erklärt. Ähnliches war zu hören von Gelehrten aus Ägypten, Indonesien, von führenden britischen Organisationen und 100 britischen Imamen, von den Großmuftis Ägyptens und Saudi-Arabiens und vielen anderen. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland hat sich mehrfach eindeutig und mit einem klaren Bekenntnis zum Existenzrecht der Christen und der anderen Minderheiten in den Krisengebieten geäußert. Zusammen mit den anderen im Koordinationsrat der Muslime organisierten Verbänden (DITIB, Islamrat, VIKZ) führte er im September 2014 die bundesweite Aktion „Muslime stehen auf gegen Hass und Unrecht“ durch. (In diesem Fall beklagte der Aufruf zur Demonstration gegen „Extremismus jeglicher Couleur“ allerdings vor allem die Angriffe auf Moscheen in Deutschland und forderte dazu auf, nicht zuzulassen, „dass extremistische Gruppen unser friedliches Zusammenleben stören“.) Anfang September haben sich sechs deutsche Wissenschaftler der universitären islamisch-theologischen Zentren in Deutschland und eine große Zahl Mitunterzeichner in aller Deutlichkeit gegen die Perversion des Islam durch Extremismus und Gewalt ausgesprochen. Zwar medienwirksam, aber weniger glaubwürdig waren Distanzierungsversuche wie der des Berliner Imams Abdul Adhim Kamouss in der Talksendung mit Günther Jauch Ende September.
Sehr häufig wurde im selben Atemzug mit der Distanzierung die Behauptung laut, der IS und seine Taten hätten nichts mit dem Islam zu tun. Hochrangige westliche Politiker wie Barack Obama und David Cameron stimmten ein. Der Migrationsforscher Klaus J. Bade gab in der Auseinandersetzung um Islamäußerungen des Kabarettisten Dieter Nuhr zu Protokoll: „Das hat in etwa so viel miteinander zu tun wie eine Kuh mit dem Klavierspiel.“1
Die bislang vielleicht gewichtigste und bedeutsamste Auseinandersetzung mit den Gräueltaten des IS erfolgte indes in einem „Offenen Brief“ vom 19. September 20142, der direkt an „Dr. Ibrahim Awwad Al-Badri“ alias Abu Bakr al-Baghdadi, den Anführer des „Islamischen Staates“ gerichtet ist. (Ibrahim al-Badri ist übrigens nach allem, was in Erfahrung zu bringen ist, promovierter Islamwissenschaftler.) Zu den Unterzeichnern gehören unter anderen der ägyptische Großmufti, hohe Vertreter der Azhar-Universität in Kairo, der jordanische Prinz Ghazi bin Muhammad sowie der frühere Großmufti von Bosnien-Herzegowina Mustafa Cerić und ein weiteres Dutzend europäischer Vertreter, aber auch viele Geistliche aus Nordafrika, Asien und den USA – insgesamt mehr als 120 islamische Gelehrte.
Der – im Original arabische – Offene Brief an al-Baghdadi hat in der englischen Version 17 Seiten und beinhaltet neben einer Zusammenfassung eine gründliche islamisch-theologische Zurückweisung des IS-Dschihads, die Punkt für Punkt die als relevant erachteten religionsgesetzlichen Aspekte durchgeht und die IS-Ideologie mit einer Fülle von Zitaten aus Koran und Sunna zu widerlegen sucht. Schon die Überschrift macht indes klar, dass es sich um eine Ermahnung zur Wahrheit unter Glaubensbrüdern handelt, wie das erste Zitat Sure 103,1-3 belegt. Denn dies ist neben der ausführlichen Darlegung der recht verstandenen Regeln des Dschihad ein zentraler Aspekt des Briefes: Ohne spezifische Gründe, die zu etablieren hohe Ansprüche stellt, könne einem Muslim (der sich selbst als solcher bezeichnet) das Muslimsein nicht abgesprochen werden (takfir). Den IS-Kämpfern wird daher jegliche Legitimation etwa zur Ermordung von Muslimen bestritten, ihr Muslimsein jedoch – in Einklang mit der sunnitisch-murdschi’itischen Mainstreamtheologie – zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt. In ähnlicher Weise werden auch das Töten von Unschuldigen, von Emissären (was auf Journalisten angewandt wird) und von Yeziden (die aufgrund von Sure 22,17 zu den Dhimmis gerechnet werden), die Versklavung und unrechtmäßige Demütigung von Frauen, die falsche Anwendung der („fraglos verpflichtenden“) Hudud-Strafen (Todesstrafe für Apostasie und Ehebruch u. a.), Folter und Verstümmelung sowie weitere andere Verbrechen verurteilt. Das Kalifat – das als grundsätzliche Verpflichtung für die Muslime betrachtet wird – könne nicht von einer einzelnen Gruppe ohne Autorität ausgerufen werden. Der IS habe eine „verdrehte Theologie“, fasste einer der Mitunterzeichner zusammen, die den Islam missverstehe und falsch interpretiere. Denn der Prophet sei „als Barmherzigkeit für die Welt“ gekommen (Sure 21,107), so auch der Islam insgesamt. Am Ende werden die IS-Kämpfer aufgefordert, Buße zu tun und zur Religion der Barmherzigkeit zurückzukehren.
Der Brief ist keine offizielle Verlautbarung – die es in der Form, wie sie christlicherseits von kirchenleitenden Gremien bekannt ist, gar nicht gibt. Es handelt sich auch nicht um eine Fatwa, was man sich als religionsgesetzlich verbindliche(re) Äußerung hätte vorstellen können. Im Grunde wird hier eine – wohlbegründete und fachkundig vorgetragene – Meinung formuliert. Der gesamte Duktus zeigt, dass diese Meinung im Prinzip die Augenhöhe mit dem Gegner sucht und auch so geäußert wird. Es wird kaum etwas grundsätzlich infrage gestellt, sondern die eigene, orthodox verstandene Auslegung der Auslegung in den Reihen des IS entgegengestellt. Der (gemeinsame!) Rahmen traditioneller Schariaregelungen wird indessen nicht tangiert, sondern durchgehend bekräftigt. Das Denkmuster ist hier wie dort dasselbe.
Der Brief bestätigt mit hoher islamischer Autorität zumindest eines: Der durchgehende Tenor praktisch aller distanzierenden Äußerungen, der IS-Terror habe mit „dem Islam“ nichts zu tun, ist haltlos. Laut SPIEGEL-Informationen führte die Tageszeitung „al-Hayat“ im August eine Umfrage in Saudi-Arabien durch, der zufolge 92 Prozent der Befragten der Ansicht sind, dass der IS mit den Werten des Islam und der Scharia übereinstimme. Hier die „friedliche Religion des Islam“, dort die „Extremisten“ kann deshalb auch hierzulande kaum ein erfolgversprechender Ansatz zur Verhinderung weiterer Radikalisierungsbiografien sein, weil die dringend notwendige innerislamische Auseinandersetzung über den Geltungsbereich und die Geltungsweise des traditionellen Schariarahmens damit geradezu unterbunden wird.
Die Reaktionen und Distanzierungen vieler Musliminnen und Muslime sind zu begrüßen und enorm wichtige Signale. Sie müssen auch von der Gesellschaft ernsthafter wahrgenommen werden. Wirklich hoffnungsvoll stimmt die weithin verfolgte Strategie jedoch nicht, solange Tötungen von Ungläubigen eben nur auf die richtige Weise geschehen und den Frauen „ihre Rechte“ mit den bekannten Einschränkungen der islamischen Tradition „nicht vorenthalten“ werden sollen.
Friedmann Eißler
Anmerkungen
1 www.welt.de/politik/deutschland/article133641173/Nuhr-verwechselt-Islam-mit-dem-Islamischen-Staat.html.
2 http://lettertobaghdadi.com .