Muslimische Apokalyptik im Internet - „The Arrivals“
Apokalypse ist ein modernes Thema. Nicht nur Filme wie „The Day After Tomorrow” oder „2012” (vgl. oben S. 263ff) machen es salonfähig. Auch Schlagzeilen wie „Die Aschewolke beschwört die Apokalypse herauf“ (www.welt.de) zeigen, dass apokalyptisches Gedankengut nicht fremd, sondern vielmehr allgegenwärtig ist.
Durch die Offenbarung des Johannes als Genre bekannt geworden, zieht sich die Apokalyptik durch viele Kulturkreise und ließ Traditionen und damit Literatur entstehen, die sich mit dem Ende der Welt beschäftigen.
Auch im Islam lässt sich das erkennen. Im Gegensatz zum Koran finden sich in den gesammelten Reden und Taten des Propheten Mohammed (Hadith) eine Vielzahl an konkreten Hinweisen auf eine apokalyptische Tradition. In der islamischen Welt vollzieht sich nun eine Assimilation zwischen Tradition und Moderne, die sich anhand der „modernen apokalyptischen Literatur“ (vgl. David Cook, Contemporary Muslim Apocalyptic Literature, Syracuse 2005) Ausdruck verleiht. Sie nutzt Versatzstücke der traditionellen Literatur und vermischt diese mit zeitgenössischen Themen, um so den Menschen ein Instrument an die Hand zu geben, die Welt zu verstehen.
Neben der literarischen Form spielt heutzutage auch das Internet als Verbreitungs- und Kommunikationsmedium eine immer größere Rolle. Ein Beispiel dieser modernen Apokalyptik im Internet ist die Dokumentationsreihe „The Arrivals“, die auf der Seite des sogenannten „Wake up Projects“ (www.wakeupproject.com) veröffentlicht wird. Es handelt sich um eine ca. achtstündige Serie, die 48 Teile umfasst und deren Ziel es ist, den Zuschauer „aufzuwecken“, ihn vom „System“ loszulösen und ihm deutlich zu machen, dass der „Dajjal“, der muslimische Antichrist, bereits auf der Erde weilt. Der Dajjal ist in der muslimischen Tradition eine durchweg böse Gestalt, die am Ende der Zeit als „falscher Messias“ auf die Erde kommen wird, um die Menschen irrezuführen. Er stellt ein Zeichen der nahenden Apokalypse dar. Sein Ende findet der Dajjal in einem Kampf mit Jesus, dem endgültigen Kampf zwischen Christus und dem Antichristen – zwischen Gut und Böse.
Neben religiösen Aspekten ist bei „The Arrivals“ allerdings der Rahmen, in den diese eingebettet werden, von großer Wichtigkeit. Das „System“ des Dajjal wird anhand von Verschwörungstheorien konstruiert; von den Pharaonen über die Freimaurer und Illuminati bis zu UFO-Theorien wird alles in einen linearen historischen Verlauf eingegliedert. Die Produzenten gehen hierbei davon aus, dass die „Blutlinie“ der Pharaonen bis in die heutige Zeit erhalten geblieben sei. Die Pharaonen seien der Ursprung des Bösen auf der Erde und ihre Nachfahren hätten sich, nach der Auswanderung aus Ägypten, zunächst in Europa niedergelassen und seien dann in die „Neue Welt“ (USA) aufgebrochen, von wo aus sie bis heute die Welt, d. h. in diesem Sinne das „System“, regieren würden. Besonders wird das Symbol der Pyramide hervorgehoben, das sich überall wiederfinden ließe (Louvre, Dollar-Note, Kinder-Cartoons, Musikvideos etc.). Vielfach geht es um eine Kritik an der Macht der Medien und der Politik, die Beeinflussung der Kinder durch die Film- und Musikindustrie und die dadurch erzeugte Bewusstseinskontrolle („mind control“), die über die Menschheit ausgeübt werde.
Als die Mächtigen im Hintergrund werden stets die Zionisten als ausführendes Organ und Satan bzw. der Dajjal als lenkende Kraft genannt. Die Produzenten versuchen hierbei jedoch deutlich zu machen, dass sie keine antijüdische Haltung verfolgen, sondern vielmehr versuchen wollen, die Machenschaften des Bösen aufzudecken, die sich unter dem Deckmantel der Religion versteckt hätten. Die „wahre“ Religion werde von modernen/säkularen Tendenzen infiltriert, sodass Muslime, Christen und Juden durch die Gier nach Macht und Geld gelenkt würden.
Anliegen der Produzenten sei es, die verschiedenen (monotheistischen) Religionen einander näher zu bringen und ihre Gemeinsamkeiten in den Vordergrund zu rücken. Dies geschieht jedoch aus einer deutlich muslimischen Perspektive. So werden der Talmud und die Bibel als verfälscht bezeichnet, nur der Koran stelle Gottes „reine“ Botschaft dar. Herauszufinden, wer die Produzenten sind, ist nicht möglich, da nur ihre Namen erwähnt werden, aber weder etwas über ihre Herkunft noch über ihren beruflichen Werdegang oder religiösen Hintergrund preisgegeben wird.
Im Allgemeinen sind die Inhalte dieser Serie komplex, verworren und zum Teil vollkommen abstrus. Jedoch verfolgt die Art der Darstellung ein klares Ziel, das dem Zuschauer immer wieder vor Augen geführt wird: ihn vom System zu lösen und ihn somit aus den Fängen des Antichristen zu befreien. Hierbei wird auf unterschiedliche Mittel zurückgegriffen. So erscheinen z. B. Texte im Bild, die direkt an den Zuschauer appellieren, die „Wahrheit“ zu erkennen. Somit wird der vermeintliche Prozess der Selbsterkenntnis vorangetrieben, der in verschiedenen Stufen stattfindet. Angelehnt an den Film „Matrix“, der in Filmausschnitten immer wieder gezeigt wird, ist man bereits nach der 24. Folge „completely unplugged“ und kann nun beginnen, sein Leben anhand der Anregungen der Serie zu ändern. Durch den ständigen Wechsel der Medien und Darstellungsarten (Text, Film, Interview, Lesung, Bilder etc.) ist es dem Zuschauer beinahe unmöglich, seinen Blick vom Bildschirm zu wenden. Zusätzlich werden die Szenen mit Musik untermalt, die – je nach Inhalt – eine bestimmte Stimmung hervorrufen. Die Produzenten versuchen also nicht nur durch die Inhalte Einfluss auf ihr Publikum auszuüben, sondern auch durch Musik und Bilder passende Stimmungen zu erzeugen.
Wie lässt sich ein solcher Internetauftritt einordnen? Feststellen lässt sich, dass die Internet-Communities, die sich mit „The Arrivals“ und dem „Wake Up Project“ beschäftigen, sehr aktiv sind. Es gibt zahlreiche Gruppen auf Onlineplattformen wie Facebook oder Myspace, die entweder direkt auf Initiative der Produzenten entstanden sind oder von Fans gegründet wurden. Des Weiteren wird auch das auf der eigenen Internetseite bereitgestellte Forum intensiv angenommen und hat inzwischen 18 509 angemeldete Nutzer. Anhand einer Gruppe bei Facebook lässt sich die Popularität der Serie besonders gut zeigen. Hatte die Gruppe „The Arrivals“ Anfang März 2010 noch 52 580 Mitglieder, so sind es knappe zwei Monate später bereits 70 716. Die rasante Steigerung zeugt davon, dass die Produzenten mit ihren Themen einen Nerv der Zeit treffen und die Zuschauer darauf reagieren.
Apokalyptik kann in vielerlei Hinsicht als Kontingenzbewältigung aufgefasst werden, also als eine Möglichkeit, mit bestehenden Problemen umzugehen – seien sie gesellschaftlicher oder privater Natur. Dies scheint vielen der Nutzer ein Bedürfnis zu sein, das sich durch „The Arrivals“ erfüllt. Sie versuchen den komplexen Problemen der Welt zu entfliehen, indem sie die Welt in eine klares Schwarz-Weiß-Muster einordnen und den Problemen eine einfache Lösung entgegensetzen: den Glauben an Gott und die Verteuflung des Systems, das die Welt regiert.
Jedoch dürfen die Inhalte der Serie dabei nicht aus dem Blick geraten. Die Informationen werden unreflektiert und einseitig dargestellt und nicht in den politischen oder geschichtlichen Kontext eingeordnet. Des Weiteren versuchen die Produzenten, alle ihre Themen in einen linearen Verlauf einzugliedern. Dieser scheint auf den ersten Blick recht stimmig, was dem Zuschauer die Einschätzung der dargestellten Inhalte erschwert. Mit ihrer Art der Darstellung und dem gesonderten Herausstellen unreflektierter Informationen begehen die Produzenten die gleichen Fehler, die sie selbst an den Medien kritisieren und die ihrer Meinung nach fester Bestandteil der „mind control“ sind. Man kann nur hoffen, dass viele Zuschauer wenigstens dann anfangen den Kopf zu schütteln, wenn der Walt-Disney-Zeichentrickfilm „Dumbo“ als satanistischer Film abgestempelt wird, und beginnen, die plumpe Manipulation zu durchschauen.
Nora Meyer, Emden