Mystische Fantasie- und Abenteuerwelt
Der Kult um Rollenspiele
Seit Ende der 1980er Jahre sind in Deutschland neue und vielfältige Formen von Rollenspielen marktfähig geworden. Außer von Computer-Rollenspielen sind vor allem junge Erwachsene von sogenannten Live- und Tisch-Rollenspielen fasziniert. Sie treffen sich in privaten Räumlichkeiten und spielen in Kleingruppen fantasiereiche Abenteuer. Sie verwenden dafür vorgefertigte oder selbst erstellte Regelwerkbücher und Würfel. Oder sie laufen verkleidet und spielerisch bewaffnet als Druiden, Vampire, Ritter, Orks, Zauberer oder Elben durch die Straßen und Wälder und spielen in einer mystischen Abenteuerwelt. Bei diesen Live-Rollenspielen kommen teilweise bis zu 2000 Spieler zusammen, die von archaischen kleinen (Kunst-)Handwerksbetrieben unterstützt werden. Auch Jugendverbände und kommunale Jugendeinrichtungen haben diesen Kult wahrgenommen und bieten solche Spiele als Freizeitmaßnahmen an.Neben den Spielern, den verwunderten Anwohnern und Passanten und den Vertreibern gibt es noch die Kritiker, die ihre Sorge über den Spielekult äußern. Es sind vor allem Eltern und Initiativen von Eltern, die sich hilfesuchend an Ämter und Jugendbeauftragte wenden, um zu erfahren, ob diese Form des Spielens einen gefährlichen Kultcharakter hat und ob man das eigene Kind davor schützen sollte. Außerdem gibt es unter christlichen Gruppierungen die Extremposition, die diese Rollenspiele als okkult belastet deklariert.Von Kind an ist das Rollenspiel in uns angelegt – sei es das Cowboy- und Indianerspiel oder das Spielen mit Action- oder Barbiefiguren. Wir geben unseren Gedanken einen virtuellen Raum und interagieren mit Spielgeräten, die uns zur Verfügung stehen. Figuren bekommen Namen, das Kinderzimmer wird zum Abenteuerland.Die Fantasie veranlasst uns Menschen, auch im Jugend- und Erwachsenenalter weiterhin zu spielen. In einem Rollenspiel nehmen die Spieler fiktive Charakterrollen an, die sie selbst handelnd in Situationen bzw. Abenteuern in einer erdachten Welt erleben. In einigen Rollenspielen werden die Abenteuer physisch real erlebt. Für das Rollenspiel ist neben Fantasie ein Regelwerk nötig, um das Spiel zu strukturieren.
Computer-Rollenspiele
Seit Ende der 1980er Jahre haben sich Computer-Rollenspiele, „Computer Role Playing Games“ (CRPG), etabliert. Anhand eines vorgegebenen Regelwerks erstellt sich der Spieler einen Charakter, mit dem er an einem Handlungsstrang spielt und so sein Abenteuer erlebt. CRPG haben sich in verschiedene Richtungen entwickelt: Als „Tactic-“ und „War-Games“ hat der Spieler die Aufgabe, durch kriegerische Handlungen sein Ziel zu erreichen. Diese Spielsysteme (auch als „Ego-Shooter“ bekannt) sind seit den Amokläufen an Schulen verstärkt in die Kritik geraten. Seit „Counter Strike 1.6“ ist es möglich, Räume zu entwerfen und personifizierte Charaktere einzusetzen. Das führte dazu, dass Jugendliche ihre Schule grafisch darstellten und ihre eigenen Lehrer einsetzten, die dann virtuell mit Waffen eliminiert werden konnten.„Massive Multiplayer Online Roleplaying Games“ (MMORPG) dienen dazu, Dutzende bis Tausende von Usern auf einem Server in eine virtuelle Welt eintauchen und dort ein eigenes Leben führen zu lassen. Per Voicechat, Chat, Foren oder über E-Mail können die Spieler untereinander Kontakt aufnehmen. Anbieter und User gestalten dabei gemeinsam die virtuelle Welt. Die Spieler können ziellos umherstreifen, sich zufällig begegnen und bewusste Handlungen ausführen. Eines der bekannten Spiele ist „Second Life“. Das Spielen eines zweiten Lebens in einer virtuellen Welt hat bei vielen Usern eine Realitätsflucht und Computersucht ausgelöst. Die Möglichkeit, in dieser Welt Dinge zu tun, die man in der Realität nicht durchführen würde, führte auch dazu, sich in der virtuellen Welt in moralisch verwerfliche Situationen zu begeben.Computer-Rollenspiele begünstigen Live- und Tisch-Rollenspiele. Das vernetzte, gemeinsame Spielen und die herausragenden Grafiken verstärken die Bereitschaft zum Spielen in Fantasiewelten.
Live-Rollenspiele
Neben den Computer-Rollenspielen blühte der Trend auf, Rollenspiele physisch, sozusagen live zu erleben. Live-Rollenspiele werden LARP genannt (Live Action Role Playing). Der Spieler kommt selbst als fiktive Charakterrolle physisch zum Einsatz. Er verkleidet und bewaffnet1 sich, verkörpert seinen Charakter und spielt in einer Fantasiewelt. Diese wird an besonderen Spielorten inszeniert, deren Ambiente der Spielhandlung entspricht. Die Anbieter bereiten die Örtlichkeiten, die Story und die Begegnungen mit anderen Charakterrollen vor. Dabei spielen sie selbst häufig verschiedene Charakterrollen, sogenannte „Nicht-Spieler-Charaktere“ (NSC), mit denen die Spieler ins Gespräch kommen oder auch in kontroverse Situationen geraten können. Live-Rollenspiele sind wie Improvisationstheater.Die teils mehrtägigen Spiele finden meist in Mittelalter-Szenarien statt und orientieren sich an Vorgaben wie Tolkiens „Herr der Ringe“ oder an Tisch-Rollenspielen wie „Das Schwarze Auge“ oder „Vampire“. Die Veranstaltungen werden als „Con“ (Convention) bezeichnet und von Privatleuten oder Vereinen organisiert. Zu den kleinen Veranstaltungen versammeln sich ca. 30 bis 50 Personen, zu den großen bis zu 5000 („Conquest of Mythodea“ auf dem Rittergut Brokeloh bei Nienburg oder das „Drachenfest“ in Diemelstadt bei Kassel). In Deutschland gibt es jährlich Hunderte öffentlich ausgeschriebene LARP-Veranstaltungen. Das reale Spielen virtueller Charakterrollen nimmt den Wunsch nach Erlebnissen auf. „Dann ‚hecheln einige Freaks als Cyber-Punk-Soldaten mit Laserwaffen durch die Frankfurter Innenstadt, andere treffen sich auf einem Münchner Friedhof zum Vampir-Wettbeißen’...“2
Mystisches Rollenspielen am Tisch
Das Tisch-Rollenspiel wird als „Pen-&-Paper-Rollenspiel“ bezeichnet. Es ist eines der beliebtesten und vielseitigsten Rollenspielsysteme und eine Mischung aus Gesellschaftsspiel, Erzählung und Schauspiel. Die Teilnehmer und ein „Spielmeister“ sitzen an einem Tisch und spielen fiktive Charaktere in einer fantasievollen Abenteuerwelt. Das Spiel funktioniert in Gesprächsform, dessen Ausgang immer unklar ist. Das System orientiert sich an einem umfangreichen Regelwerk. Erfolg und Misserfolg der fiktiven Handlungen werden mithilfe von Würfeln oder Karten simuliert. Der Spielmeister leitet ein Abenteuer an, das die Spieler mit ihren Charakterrollen erleben.Pen-&-Paper gibt es in ganz verschiedenen Genres, und je nach Spielsystem können die Spiele mythologische, mystische, magisch-okkulte oder Gewalt verherrlichende Akzente haben. Aus solchen Spielen resultiert gelegentlich, dass Jugendliche ein erstaunliches Wissen über reale Waffensysteme haben. Verlage wie „Pegasus-Spiele“, „Feder und Schwert“ oder „Ulisses-Spiele“ bringen für die Pen-&-Paper-Spiele fast wöchentlich neue Quellenbücher, Regelwerke und vorgefertigte Abenteuer heraus.Pen-&-Paper entstand wohl 1967 in Lake Geneva, Wisconsin. Dort fand das jährliche „Gen Con” statt, ein sogenanntes Wargame-Treffen. Dabei werden Spielfiguren auf erstellten Modellen in kriegerischen Manövern gezogen. Bei diesen Gen Cons trafen sich Gary Gygax und Dave Arneson. Angeregt durch Tolkien- und Conan-Romane entwickelten sie ihre Alternative: das erste Pen-&-Paper-Spiel „Dungeons & Dragons” (D&D). In diesem Spielsystem konzentrierten sie sich auf das Schicksal einzelner Helden und deren Abenteuer. 1974 erschien D&D in seiner ersten Auflage. Erst breitete sich das Konzept an amerikanischen Colleges aus. 1979 verschwand dann ein Student der Michigan University, der D&D gespielt hatte, spurlos. Obwohl er wieder auftauchte und sein Verschwinden nichts mit dem Spiel zu tun gehabt hatte, geriet das Spiel unter Okkultismus-Verdacht. Das machte den Vertrieb aber umso erfolgreicher.In Deutschland hingegen erschien 1978 als erstes Pen-&-Paper das Spiel „Magira”, das später in „Midgard“ umbenannt wurde. 1984 eroberte „Das Schwarze Auge“ (DSA) den deutschen Markt. Es wurde vor allem von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gespielt. Inzwischen gibt es diverse private Anbieter eigener Rollenspiele und Kleinverlage, die sich eher auf einen kleinen Kreis Interessierter konzentrieren. Die großen Spieleanbieter vermarkten hingegen ihre Rollenspiele erfolgreich.3 Die Zahl der Tisch-Rollenspieler wird in Deutschland auf über 300 000 geschätzt.4 Jährlich treffen sich Hunderte von Interessierten bei der Spielemesse in Essen oder auf der „NordCon“ in Hamburg.Spiele wie Midgard, D&D und DSA erschienen in Deutschland in den frühen 1990er Jahren. Sie haben mythische, teils auch mystische Inhalte. Die Götterfiguren können von den Charakteren der Spieler angebetet werden, sie können diese beschenken oder retten oder Schicksalsschläge austeilen. Dennoch spielen die Götter nur eine untergeordnete Rolle. Sie dienen als Hintergrund, als Erklärhilfe der Spielwelten. Die Spieler haben außerdem die Möglichkeit, verschiedene Arkandisziplinen und magische Fähigkeiten zu erlernen. Einige neuere Pen-&-Paper-Spiele haben hingegen magisch-okkulte Inhalte zu ihrem Hauptbestand gemacht. Die folgenden vier Beispiele verdeutlichen das:• Dämonen und Engel: Das Pen-&-Paper-Rollenspiel „In Nomine Satanis / Magna Veritas“ (INS/MV)5 stammt aus Frankreich und erschien 1994 in Deutschland. Die Spieler übernehmen die Rollen von Dämonen oder Engeln, die in menschlichen Körpern umherlaufen und von normalen Menschen nicht enttarnt werden dürfen. Die Engel dienen den Erzengeln, die Dämonen den Dämonenprinzen. Dementsprechend sind die Charaktere der Spieler verschieden klassifiziert. Dabei kann es jedoch auch vorkommen, dass islamische Engel mit christlichen nicht einer Meinung sind. Bei INS/MV gibt es die Vorstellung des einen Gottes, der verschiedene Engel zu verschiedenen Zeiten geschaffen hat. Luzifer ist ein Engel, aber der Engel, der Gott herausfordert, heißt Samael. Er wollte Engel mit Menschen kreuzen, was den Zorn Gottes heraufbeschwor. Gott gilt als experimentierfreudig und die Engel als äußerst eigenständig. Jesus gilt als Engel, der sich als Mensch inkarnierte, um Gottes Wort zu bringen.• Technik und Magie: Bei „Shadowrun“ befinden sich die Spieler im Jahr 2072. Es handelt sich um ein futuristisches Spiel mit vielen technischen, aber auch magischen Möglichkeiten. Das Spiel ist weltweit verbreitet, die Fangemeinde beteiligt sich an seiner Weiterentwicklung; sie erstellt neue Quellenbücher und Vorlagen für die Fantasywelt und gestaltet die Internetseite „shadowhelix.de“ mit. Dazu gehört auch, dass ein religiöser Hintergrund aufgebaut wurde. Es gibt in dieser Welt immer noch den Einfluss der Kirchen, aber ebenso der germanischen Götter. Ein Prozent der Personen wird als „Erwachte“ bezeichnet. Die Magie dient ihnen als Pfad und Möglichkeit für Manipulation. Karmapunkte spielen als Erfahrungspunkte eine Rolle, mit denen die Charaktere im Laufe der Spiele aufgewertet werden können.• Vampirismus und Mythologie: Das Pen-&-Paper-Spiel „Vampire – Die Maskerade“ übte in Deutschland eine große Faszination aus. Erstmals wurde ein Rollenspiel mit Begeisterung mehrheitlich von jungen Frauen gespielt. Bei diesem Spiel geht es um verschiedene Vampirclans, die verborgen in unserer Welt leben. Der Spieler kann die Rolle eines Vampirs einnehmen.Für das Rollenspiel gibt es das Quellenbuch „Das Buch NOD“. Der Autor „de Laurent“ schreibt zu Beginn, „dass dieser Teil des Buchs NOD nicht völlig mit dem biblischen Standardkanon übereinstimmt“.6 „Nicht völlig“ ist jedoch untertrieben: In dem Buch gilt Kain als Stammvater der Vampire. Aus Liebe zu Gott hat er seinen Bruder geopfert. „Er konnte den Tod nicht kennen, da er geboren wurde, ehe der Tod Teil des menschlichen Erfahrungsschatzes wurde.“7 Die Dämonin Lilith – ebenfalls aus dem Paradies verstoßen – kümmerte sich um Kain und brachte ihm magische Erkenntnisse bei. Die späteren „Kainsleute“ beteten die Mondgöttin an und die „Abelsleute“ den Sonnengott. Vom Sonnengott wurden die Kainsleute verflucht, weil diese die Abelsippe töteten. „Sie betrachten Kain als ihren Urvater, den ersten Vampir, der, der von Gott verflucht wurde, auf ewig nachts zu wandeln. Kain wandte sich zur ersten Frau Adams, Lilith, und erhielt von ihr das magische Blut, welches ihm übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten verlieh. Mit diesem Blut macht er aus Menschen Kreaturen seinesgleichen und diese erschufen wiederum Kinder.“8Neben dem Pen-&-Paper gibt es das Live-Rollenspiel „Vampire-Live“ und ein Computer-Rollenspiel. Bei Vampire-Live wird die Vampirrolle in der realen Welt gespielt. Im Landkreis Vechta gibt es beispielsweise eine kommunale Freizeiteinrichtung, in der junge Menschen zum Jugendleiter ausgebildet werden, um diese Vampire-Rollenspielgruppen zu leiten. Hin und wieder spielen sie das Live-Rollenspiel und laufen nachts verkleidet durch die benachbarte Stadt. Der Anbieter und die Szene bleiben da durchaus im spielerischen Bereich, sodass hier zunächst kein Grund zur Sorge besteht. Fraglich ist nur, ob die Leser und Spieler ebenfalls immer verstehen, wo die Grenze zur Realität liegt. Bewusst merken die Autoren von „Vampire“ an: „Beim LARP sind Sie das Requisit, und deshalb ist es unbedingt nötig, dass Sie mit sich und anderen äußerst behutsam, würde- und respektvoll umgehen. Bei diesem Spiel geht es ausdrücklich nicht um „echtes“ Bluttrinken, um echte Jagden, Kämpfe oder erotische Aktivitäten. Sie sind kein Vampir, Sie spielen nur einen.“9• Horror und Okkultismus: „Call of Cthulhu“, kurz Cthulhu, ist ein Pen-&-Paper-Rollenspiel aus dem Genre Horror. Es erschien in Deutschland erstmals 1986, aber erst die aktuelle Version von 2007 lässt sich gut vermarkten. Es basiert auf Romanen u. a. von Howard Phillips Lovecraft. In Cthulhu bemühen sich die Spieler darum, gruselige Geheimnisse zu lüften. Der Spielleiter nimmt die Rolle des Bewahrers des arkanen Wissens ein. Die Spieler versuchen Dämonen zu überlisten und Geister loszuwerden. Dabei dient der Okkultismus im Spiel dazu, „okkulte Codes zu knacken“10. Dem Spiel liegt eine Mythologie zugrunde, nach der das Universum von „äußeren Göttern“ beherrscht wird, die in Form von Naturgewalten auftreten können. „Der Cthulhu Mythos verdankt seinen Namen einem gottähnlichen Wesen – Cthulhu (‚Kuh-Tuu-Luu’ ...). Es wird immer wieder prophezeit, dass eines Tages, ‚wenn die Sterne richtig stehen’, viele Große Alte, insbesondere auch Cthulhu selbst, wieder erwachen werden, um die Welt mit Vernichtung und Tod zu überziehen.“11 Es gibt in dem Spiel das „Necronomicon“, ein fiktives Buch aus dem 8. Jahrhundert, in dem Zauber, Geheimnisse und geheimnisvolle Orte beschrieben sind. Wenn die Figuren im Spiel aus diesem Buch lernen, können sie davon wahnsinnig werden. Neben dem natürlichen Tod stellt der Wahnsinn das Ende eines Charakters dar.H. P. Lovecraft (1890-1937) war ein amerikanischer Schriftsteller. Nachdem sein Vater gestorben war, beeinflusste sein Großvater die Erziehung und vermittelte ihm fantastische Märchen- und Horrorerzählungen.12 Nach dessen Tod verarmte die Familie und musste ihr Haus verlassen. Lovecraft litt unter der Situation und hegte Selbstmordgedanken. Kurz vor Beendigung der High School hatte er einen Nervenzusammenbruch, sodass er keinen Abschluss erwarb. Er wurde Autor. In seinen Werken mischte er Science-Fiction, Horror und soziale Utopie. Der größte Teil seines Lebens war von Fehlschlägen und finanzieller Not geprägt. Er entwickelte einen Fremdenhass, der in einigen Werken zum Ausdruck kommt.Lovecraft vertrat angeblich selbst die Ansicht, dass jenseits des Wissenshorizonts eine Unendlichkeit mit anderen Realitäten existiere. Die dortigen gigantischen Mächte und Rassen drängen in unsere Welt ein und verhielten sich manchmal aktiv feindselig. Das Universum ist laut Lovecraft voller irrationaler Ereignisse, unheiliger Wut und unablässiger Anarchie. Der Blick in diese Wahrheit würde wahnsinnig machen oder zum Selbstmord führen.13Aufgrund von Lovecrafts Kurzgeschichten entstand 1981 das Pen-&-Paper, dem der Cthulhu-Mythos zugrunde liegt. Das Spiel war dann die Grundlage für das gleichnamige Brett- und Kartenspiel, das Brettspiel „Arkham Horror“ und das Computerspiel „Call of Cthulhu – Dark Corners of the Earth“. 2005 hat die „HP Lovecraft Historical Society“ den Schwarz-Weiß-Stummfilm „The Call of Cthulhu“ im Stil der 1920er-Jahre verfilmt. Das Pen-&-Paper verbreitet sich indessen durch freie Autoren auch ohne den direkten Einfluss des Pegasus-Verlags.
Habitualisierung und Realitätsflucht
Ein einzelnes Spiel oder eine Lektüre können kaum der Grund dafür sein, dass ein Mensch mystische und okkulte Vorstellungen in sein reales Leben einbezieht. Jedoch scheint es möglich, dass der Konsum den Menschen auf Dauer beeinflusst. Die Medienpsychologie hat den Begriff „Habitualisierungsthese“ geprägt. Diese geht davon aus, dass der stetige Konsum von Gewaltfilmen beim Rezipienten aggressionssteigerndes Verhalten bewirkt, nach dauerndem Konsum von aggressiven Filmen mit wiederkehrendem Muster jedoch ein Gewöhnungseffekt auftritt, der die emotionale Erregung mindert. Das hat ein Abstumpfen gegenüber realer Gewalt zur Folge. Rezipienten mit niedrigem Konsum oder Einsteiger weisen eine stärkere emotionale Reaktion auf.14 Die Habitualisierungsthese lässt sich auf Rollenspiele übertragen, besonders auf Computer-Rollenspiele.Untersuchungen über Online- und Computersucht verwenden die Begriffe Realitätsverlust oder Eskapismus. In oder durch die Virtualität kann es zum Realitätsverlust kommen. Der Süchtige vermischt Realität mit Virtualität.15 Er steigert sich in die virtuelle Welt hinein und flüchtet sozusagen in die Virtualität. In gewissem Maße kann dieser Zustand auch durch dauerndes Rollenspiel ausgelöst werden. Bei vielen Pen-&-Paper-Rollenspielen treffen sich die Spieler am Wochenende und spielen ein bis zwei Tage durch. Die aktivierte Fantasie und die Müdigkeit haben zur Folge, dass vielen Spielern der folgende reale Tag als unlieb und unreal erscheint. Das „Kino im Kopf“ wirkt noch lange nach. Nach angeregten Spielstunden stehen die Spieler wieder in der Realität, aber träumen der virtuellen Fantasiewelt hinterher.Die Identifikation mit den Rollenspielwelten führt in einigen Fällen dazu, dass sich Menschen intensiver mit der fantastischen virtuellen Welt auseinandersetzen. Sie recherchieren im Internet über mögliche reale Verschwörungen, erweitern ihr Wissen über Waffengattungen, kaufen sich Utensilien, z. B. ein Necronomicon-Buch, suchen nach magischen Sätzen, interessieren sich für die Geschichten von Göttern und Dämonen oder die Vorstellungen von magischen Astralleibern.
Chaosmagie und realer Vampirismus
Real-magische Vorstellungen und Fantasy-Literatur oder -Rollenspiele können sich gegenseitig bedingen. Zum einen greifen die Hersteller der Rollenspiele vorhandene mythische, mystische, magische, spiritistische oder okkulte Vorstellungen auf, zum anderen beeinflussen die Fantasy-Produkte diejenigen, die diese real-magischen Vorstellungen als Wirklichkeit verstehen.Die Tischmanöverspiele „Warhammer Fantasy“ und „Warhammer 40.000“ (Herausgeber: Games Workshop) greifen die sogenannte Chaosmagie auf. In den Spielen werden die „Anhänger des Chaos“ als schlecht dargestellt. Sie tragen den Chaosstern, ein populäres Symbol der realen Chaosmagier, auf ihren Rüstungen. Es stammt ursprünglich aus den Fantasy-Romanen von Michael Moorcock16. Chaosmagier glauben, durch verschiedene Techniken das wache Bewusstsein überwinden und die Wirklichkeit magisch beeinflussen zu können. Der Okkultist Peter Carroll17 nimmt die Vorstellung der Chaosmagie in seinem Buch „Liber Null“ auf. Er erklärt den Chaosstern als Zeichen des Ordens der Illuminaten und bezeichnet Chaos, im gnostischen Sinne, als magisch universale Kraft, die es anstelle eines Gottes gebe.18Seit einigen Jahren baut sich ein großes Netzwerk auf, in dem sich Menschen als „Vampire“ oder „Vampyre“ bezeichnen. „Heute umfasst die sogenannte Vampir-Szene in Deutschland einen großen Personenkreis, der sowohl real als auch virtuell verknüpft ist, v. a. durch Vereine, Homepages, Stammtische, Rollenspiele, Vampirfilmfestivals, Lesungen aus Vampirromanen.“19 Die einschlägigen Internetseiten geben ein vielfältiges Bild dieser Szenen wieder. Die Seiten sind in den meisten Fällen miteinander verlinkt, sodass ein reger Austausch stattfindet. Auf den Seiten finden sich dadurch die einfachen Anhänger von Vampirspielen, Liebhaber der Dark-Wave-Szene, aber auch die sogenannten „Vampyre“, die sich als echte Blutsauger verstehen.20In extremen Vampyr-Szenegruppen werden esoterische Vorstellungen mit sexuell-magischen und erotischen Praktiken vermischt. Der Biss und das Bluttrinken üben dabei eine Machtwirkung aus. Emotionen und Fähigkeiten sollen auf den Bluttrinker übergehen. In privaten Vampyr-Veranstaltungen finden sich kleine Personengruppen zusammen, die Blut miteinander tauschen oder in denen sich Personen zum Blutverzehr anbieten. Um Infektionen und schwere Verletzungen zu vermeiden, werden häufig Injektionsnadeln und Messer verwendet.Die Internet-Fanseite der Dortmunder Vampire-Rollenspiel-Szene „nachtvolk.de“ stellt ihre skurrilen Texte und die Fotos der letzten LARP-Treffen ins Netz. Je tiefer man in diese Szene gerät, desto stärker verschwimmt die Grenze zwischen Realität und Virtualität.
Einschätzung
Für Rollenspieler steht im Allgemeinen zunächst kein reales religiöses Weltbild hinter dem Spiel. Die Spieler verstehen sich nicht als religiöse Vereinigung und haben nicht die Absicht, ein religiöses Anliegen zu vermitteln. Der mythologische, mystische, magische oder auch okkulte Hintergrund in den Regelwerken sorgte aber immer wieder für Aufsehen, vor allem in christlich-fundamentalistischen Kreisen.Die Amerikanerin Patricia A. Pulling, Mitglied der Anti-Rollenspielgruppe BADD (Bothered about Dungeons and Dragons), schrieb das Buch „Das Teufelsnetz – Sie wollen unsere Kinder; und wenn wir uns nicht wehren, ist es zu spät“. Sie schildert, dass sich ihr Sohn, der sich das Leben nahm, in ein okkultes Netzwerk verstrickt hatte. Die Schuldfrage wird in dem Buch einfach gelöst: Der Schuldige ist Satan, und Rollenspiele gehören zu seinen Rekrutierungsmethoden. Aus dem deutschen Klappentext: „Dieser Report zeigt auf, wie Satan nach unseren Kindern greift. Fernsehserien, die Gewalt verherrlichen, Black Metal Music und ‚Trash’-Videos sind nur einige Maschen des Netzes, das sich immer enger zieht. Nur wenn wir die Strategie des Bösen kennen, können wir gegen sie angehen.“ Auch in Rollenspiel-Communities melden sich Leute zu Wort, die die Rollenspieler warnen wollen, z. B.: „In dieser Hinsicht sind Rollenspiele viel schlimmer als die Killerspiele vom PC, denn sie untergraben unseren Glauben an Gott. Anstatt christlichen Werten wird heidnische Magie angewandt und diese ist definitiv des Teufels. Die Kirche sollte sich einschalten, der Papst sollte mal was gegen diese Rollenspiele sagen, denn sie sind das Werk Satans. Sie verderben die Seelen unserer Jugend. Ich fordere ein Verbot von Rollenspielen jeglicher Art!“21Dem dualistischen Denken, das den Teufel so personifiziert und ihn für die Rollenspiele verantwortlich macht, muss eine deutliche Absage erteilt werden. Derartige Einstellungen führen lediglich dazu, dass christlicher Glaube nicht ernst genommen wird. In der apologetischen Auseinandersetzung ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich viele Regelsysteme magisch-okkulter Inhalte bedienen, um das Spiel reizvoll zu machen, und dass solche Inhalte von vielen Spielern unreflektiert angenommen werden. Der gesellschaftliche Trend zur Mystifizierung (siehe Mystery-Serien oder Fantasy-Trivialliteratur) wirkt in die Spielewelt hinein, und es gibt eine Vermischung zwischen dem Gespielten und populären okkulten Szenen, vor allem durch vernetzte Internetkontakte.Für psychisch labile Menschen besteht die Gefahr, dass sich die virtuelle und reale Welt vermischen und die Grenzen zwischen Spielen, Denken und schließlich Handeln aufweichen können – mit entsprechend negativen Folgen bei gewalthaltigen Charakterdarstellungen. Das Rollenspiel kann aber auch heilsam wirken. Der zeitweilige Rückzug aus der Alltagswelt kann zu neuer Fantasie, Kreativität und Produktivität führen. Das Spielen bietet viele positive pädagogische Ansätze. In der spielerischen Auseinandersetzung mit dunklen Mächten und Gewalten können sogar Ängste und Ohnmachtgefühle kompensiert werden. Das Testen von Charakterzügen kann sich positiv auswirken.Hinter dem Rollenspiel steckt zunächst ein einfacher Wunsch nach Erlebnissen und Spielen. Der Wunsch, in Live-Spielen Abenteuer zu erleben und spirituelle Erfahrungen zu machen, ist eine Reaktion auf eine Gesellschaft, die von Leistungsdruck, permanenten rein virtuellen Aktivitäten und wenig beeinflussbaren Strukturen und Ritualisierungen geprägt ist. Die Menschen sehnen sich nach ein wenig Verzauberung in ihrem Alltag, und kirchliche Angebote können diesem Wunsch nachkommen, indem sie spielerische Erlebnisräume schaffen. So können auch die zunächst scheinbar skurrilen mythologischen Fragen und Inhalte aufgegriffen werden, mit denen sich die Spieler beschäftigen. Wenn Jugendliche fragen, wer Beliar oder Lilith ist, sollten diese Fragen nicht einfach als mythologischer Unsinn abgetan werden. Wenn die Erfahrungswelt christlichen Glaubens auf einer Ebene mit mythologischen Fantasiewelten erscheint, sind die kirchlichen Mitarbeiter gefordert, sich theologisch damit auseinanderzusetzen. Alternative Vampyr-Szenen geben auf solche Fragen nämlich gerne ihre eigenen Antworten.Einige kirchliche Anbieter haben schon früh auf die Beliebtheit von Rollenspielen reagiert: Bibliolog und Bibliodrama sind Beispiele, wie das Rollenspiel im Gemeindealltag Anwendung finden konnte. Auch einige Anbieter der evangelischen Jugendarbeit haben eigene Rollenspiele entworfen, z. B. zum Thema „Landnahme Israels“. Für die Gemeinde- und Jugendarbeit bedeutet die Popularisierung der Rollenspiele, die Thematik als pädagogische und weltanschauliche Herausforderung in den Blick zu nehmen und für inhaltliche Fragen und in der Seelsorge kompetent zur Verfügung zu stehen.22
Jens Schultzki
Anmerkungen
1 Es handelt sich immer um gepolsterte Waffen. Schwerter werden beispielsweise aus einem Fiberglasstab hergestellt, der mit Schaumstoff ummantelt wird. Durch Latex und Farbe erhält das Schwert sein Aussehen.
2 Bernd Harder, In Nomine Satanis, www.gwup.org/infos/themen-nach-gebiet/88-okkultismus/762-verfuehren-fantasy-rollenspiele-und-computer-games-zu-magie-und-okkultismus (5.1.2012). Harder zitiert eine Rollenspielerin namens Amelie Stein.
3 Midgard (Pegasus Spiele), Dungeons and Dragons (Verlag: Feder und Schwert), Das Schwarze Auge (Ulisses Spiele), Call of Cthulhu (Pegasus Spiele), Shadowrun (Pegasus Spiele), Vampire – Die Maskerade (Feder und Schwert).
4 Vgl. www.nexus-berlin.de/Abgetippter_Artikel_aus_der_Zeit (5.1.2012); nimmt Bezug auf einen Artikel aus der „Zeit“ vom 25.7.1997.
5 Mario Truant Verlag, Mainz. Das Spiel wurde von 1989 bis 2006 veröffentlicht.
6 Sam Chupp/Andrew Greenberg, Das Buch NOD, Mannheim 1993, 16.
7 Ebd.
8 Rainer Fromm, Schwarze Geister, Neue Nazis – Jugendliche im Visier totalitärer Bewegungen, München 2008, 198.
9 Justin Achilli u. a., Vampire – Die Maskerade, Mannheim 1993, 25.
10 Sandy und Willis Petersen, Cthulhu. Rollenspiel-Basis-Buch, deutsche Ausgabe Friedberg 1999, 16.
11 Ebd., 9.
12 Vgl. Lyon Sprague de Camp, Lovecraft. Eine Biographie, deutsche Übersetzung von Rainer Schmidt (gekürzte Ausgabe), Frankfurt a. M. 1989, 18.
13 Vgl. Sandy und Willis Petersen, Cthulhu, a.a.O., 68 und 101.
14 Vgl. Michael Kunczik/Astrid Zipfel, Gewalt und Medien. Ein Studienhandbuch, Köln 2006, 113, 305.
15 Vgl. Catherine Bouchon, Macht das Internet einsam? Seminararbeit, München 2005, 32.
16 Britischer Science-Fiction- und Fantasy-Schriftsteller, geb. 18.12.1939.
17 Geb. 8.1.53, Begründer des Ordens Illuminaten von Thanateros und Mitbegründer der Chaosmagie.
18 Vgl. Peter Carroll, Liber Null, York Beach, ME, 1987, 28.
19 Rainer Fromm, Schwarze Geister, a.a.O., 182.
20 Zur Vampyr-Szene vgl. Rainer Fromm, Schwarze Geister, a.a.O., 183: „Innerhalb der Szene differenziert man die ‚Vampyre’ in den zahlreichen Communities zwischen ‚Nighttimers’, ‚Classicals’ und ‚Inheriters’. Es handelt sich dabei um die Unterscheidung zwischen ‚geborenen’ Vampyren, also denen, die angeblich schon immer welche gewesen sind und irgendwann ihre wahre Natur entdeckt haben (‚Awakening’) und sogenannten ‚gemachten’ Vampyren, die irgendwann von Dritten durch ‚Übertragung’ oder ‚Blutaustausch’ ihre Vampyrexistenz eingehaucht bekamen. Dazu existiert eine dritte Gruppe sogenannter ‚Zwischenwesen’.“
21 Aus der Google Group zum Thema „Rollenspiele sind okkulte Hexerei wider den christlichen Glauben“, vom 30.12.2008.
22 Weitere Literatur:
Bob Larson / Isolde Steigemann, Geht unsere Jugend zum Teufel?, Neuhausen 1990;
Martina Hübner, Das Fantasy-Rollenspiel – ein kreatives Medium zur Gewaltprävention? Informationen – Pro & Contra – Projektbericht – Perspektiven, hg. von der Aktion Jugendschutz, Landesarbeitsstelle Bayern, Bayerisches Staatsministerium für Sozialordnung, Familie, Frauen und Gesundheit, München 1995;
Patricia A. Pulling, Das Teufelsnetz – Sie wollen unsere Kinder; und wenn wir uns nicht wehren, ist es zu spät, Marburg 1990 (Orig.: The Devil’s Web, 1989);
Jeannette Schmid, Fantasy-Rollenspiel: Gefahren und Chancen, Vortrag am 4.5.1995, www.rpgstudies.net/schmid/vortrag.html (5.1.2012).