Mythos Mobilfunk. Kritik der strahlenden Vernunft
Werner Thiede, Mythos Mobilfunk. Kritik der strahlenden Vernunft, oekom-Verlag, München 2012, 300 Seiten, 19,95 Euro.
Der neuen Publikation Werner Thiedes gebührt außerordentliche Aufmerksamkeit. Mit großer Kompetenz und unglaublichem Fleiß breitet er die ganze Problematik des zu einem Pseudomythos gewordenen Mobilfunks aus. Dabei kommen alle diesbezüglich relevanten Fakten zur Sprache, untermauert durch nahezu 1000 Fußnoten. Über die für einen Geisteswissenschaftler erstaunlich kompetente Mobilfunk-Kritik hinaus beinhalten die hier entfalteten Erörterungen für den aufmerksamen Leser noch erheblich mehr, nämlich eine erhellende Gesellschafts- und Kulturkritik.
Was den Mobilfunk als Informationsträger betrifft, so sind dessen Wesen und Effizienz sowohl in naturwissenschaftlicher als auch in medizinischer Hinsicht im Grunde weithin geklärt. Bereits seit der Entdeckung der Röntgenstrahlen weiß man um die schädigende und auch Krebs erregende Wirkung von hochfrequenter elektromagnetischer Strahlung ionisierender Art, der viele der damaligen Pioniere dieser Entdeckung zum Opfer fielen. Deshalb ist heute eine Strahlentherapie mit hochfrequenten Strahlen nur mittels präziser Apparaturen möglich, die punktuell genau das zu eliminierende tumoröse Gewebe fokussieren. Heute ist allgemein bekannt, dass auch Sonnenlicht bei zu starker Exposition die Haut schädigt und unter anderem zu Hautkrebs führen kann. Die aus dem Kosmos kommende, unvermeidliche Strahlung wird nunmehr aber durch die nicht-ionisierende Strahlung der Mobilfunktechnik in bedrohlicher Weise vermehrt. Etwaige Bedenken hinsichtlich dieser Entwicklung werden von den Vertretern dieser Industrie mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zurückgewiesen und deren Produkte weltweit als unverzichtbarer Fortschritt der Menschheit angepriesen.
Bekanntlich reagiert jeder Mensch auf von außen kommende Einwirkungen unterschiedlich und kann mitunter auch Unverträglichkeitsreaktionen zeigen – mit unabsehbaren Folgen. Diese Tatsache gilt sowohl für die Zuführung chemischer, also materieller Substanzen als auch für elektromagnetische Strahlung. Während Ersteres nicht mehr geleugnet wird, soll das bei nicht-ionisierender Strahlung nicht gelten. Aus Unwissenheit, aber auch mit Absicht wird besonders strahlensensiblen Menschen nahegelegt, sich in psychiatrische Behandlung zu begeben, um ihre „Strahlenneurose“ behandeln zu lassen. Entschieden verweisen Vertreter der Mobilfunkindustrie auf multiple, oft von ihnen selbst in Auftrag gegebene und in ihrem Sinne lautende Gutachten, welche die Unschädlichkeit ihrer Produkte bestätigen. Allen anderslautenden Meinungen wird dagegen kategorisch widersprochen.
In diesem Zusammenhang stellt sich eine grundsätzliche Frage, die kurz zu beantworten ist: Welchen prinzipiellen Wahrheitsgehalt haben von wissenschaftlichen Kommissionen erstellte Grenzwerte hinsichtlich zulässiger Toleranz? Gemeint ist: Welche Strahlungsdauer und -intensität zeitigt keinerlei schädliche oder irritierende Wirkung? Diese Fragestellung gilt generell, also auch für die Zuführung materieller Substanzen, sei es durch Medikamente, Inhalte von Trinkwasser oder dergleichen. Da in den Biosystemen und damit auch im menschlichen Organismus erwiesenermaßen pro Sekunde millionenfach ineinander vernetzte Stoffwechselvorgänge stattfinden, sind die wirklichen Konsequenzen hinsichtlich der Verabreichung von Substanzen, aber auch von Strahlung unabsehbar. Denn einerseits sind die stattfindenden Vorgänge zu zahlreich, um überschaut zu werden; andererseits ist der Mensch nur in der Lage, linear-kausal zu denken, weshalb er kausale Vernetzungen nicht zu durchschauen vermag – was sich deutlich bei vom Menschen selbst errichteten Systemen etwa im Bank- und Wirtschaftswesen zeigt. Verbindliche sogenannte Grenzwerte erweisen sich insofern als bloße Meinungen. Über die Folgen von Wirkungen externer Einflüsse auf den menschlichen Organismus kann in letzter Konsequenz selbst ein wissenschaftliches Gremium nicht abschließend entscheiden. Feststellungen des Quantums an Toleranz sind also auch hinsichtlich der Strahlenbelastung letztlich auf Vermutungen angewiesen. All das lässt sich mit Blick auf die elektromagnetische Trägersubstanz des Mobilfunks sicher sagen.
Was die Informationen betrifft, die die Betreiber des Mobilfunks aussenden, so ist dazu Folgendes festzustellen: Da die permanent ausgesendete Strahlung unsichtbar ist und von der Mehrzahl der Menschen nicht verspürt wird, sondern auf bequeme Weise Informationsaustausch sowie Unterhaltung bietet und auch in manch praktischer Hinsicht Erleichterungen mit sich bringt, seit das Internet „mobil“ geworden ist, die Schädlichkeit der Strahlung hingegen systematisch verschwiegen wird, ist es den Betreibern dieser Technik gelungen, den Mobilfunk zu einer Art Mythos hochzustilisieren. Dies ist freilich ein Pseudomythos, da wirkliche Mythen stets auch über die Welt hinausweisen. Möglich wurde dieser von Thiede analysierte Vorgang, weil die meisten Menschen in einer Welt des sinnlich vordergründigen Meinens verbleiben und zu wenig kritisch hinterfragen. Das gilt nicht zuletzt für eine Großzahl von Politikern, ja sogar für einseitig gebildete Wissenschaftler, die es versäumt haben, die menschlichen Erkenntnismöglichkeiten kritisch zu hinterfragen. Viele von ihnen haben für die Einflüsterungen der Industrie ein offenes Ohr.
Weltweit ist eine materialistisch-atheistische Weltanschauung auf dem Vormarsch, und der Mobilfunk ist eines seiner wirkungsvollsten Instrumente – als Teil einer von Profit und Kapital geleiteten Gesellschaft. Alles, was verkäuflich ist, soll auch produziert und angeboten werden. Stets steht finanzieller Profit im Vordergrund, ohne dass auf die beschränkten Ressourcen unseres Planeten, geschweige denn auf die dadurch verursachten Leiden von Menschen Rücksicht genommen wird. Fortlaufend wird um des materiellen Gewinnes willen ein stetiges Wirtschaftswachstum gefordert. Hierdurch entsteht allmählich eine andersartige Ethik – ausgerichtet auf eine habgierige, materialistisch-atheistisch orientierte Gesellschaft, die in Anlehnung an den Darwinismus das Recht des Stärkeren betont.
Wie aber – so fragt man sich – wurde eine solche Entwicklung möglich? Die Antwort lautet: Die unverzichtbare ethisch-religiöse Entwicklung hat mit der naturwissenschaftlich-technischen Entwicklung, die sich vermarkten lässt, nicht Schritt gehalten. Theologie und Kirche stehen umso mehr vor der Herausforderung, hier Stellung zu nehmen, zu mahnen, ethisch und spirituell aufzuklären, wie Thiede zeigt. Angesichts der laufenden Entwicklung bleibt nur noch wenig Zeit, sich den pathologisch um sich greifenden Sichtweisen entgegenzustellen. Thiedes Buch warnt nicht nur vor bestimmten verderblichen Exzessen des Mobilfunks, die auf ein verträgliches Maß reduziert werden müssen, sondern provoziert auch ein grundsätzlicheres Nachdenken über unsere heutige bedrohliche Situation. Deshalb ist es äußerst lesenswert.
Erich J. Heindl, Tegernheim