Thomas P. Becker

Mythos Walpurgisnacht

Anmerkungen aus historischer Sicht

Die sagenumwitterte Walpurgisnacht gilt im öffentlichen Bewusstsein als das Hexenfest schlechthin. Die Nacht zum 1. Mai ruft stets regionale Veranstalter auf den Plan. Auf dem Brocken im Harz treffen sich alljährlich tausende Menschen in Hexen- und Teufelskostümen zu wildem Treiben. Woher stammt die Vorstellung von der Walpurgisnacht? Wie kommt es zur engen Verbindung mit Hexenvorstellungen? Gibt es Belege für einen vorchristlichen Fruchtbarkeitskultus, auf den sich neopagane Autoren gerne berufen? Wir haben den Experten Thomas P. Becker gebeten, die Entstehung und die historischen Hintergründe des Walpurgisnacht-Mythos zu erläutern, um gängige Klischees zu entkräften. (Die Red.)


Unter Walpurgisnacht versteht man die Nacht vom 30. April auf den 1. Mai, in der sich angeblich alle Hexen zum gemeinsamen Tanz auf dem Blocksberg versammeln sollen. Diese Nacht hat ihren Namen von der angelsächsischen Adeligen Walburga (auch Walpurga, Walburg, Waldburg) erhalten, die eine Nichte des heiligen Bonifatius war. Sie gilt als die Tochter König Richards des Angelsachsen und seiner Gemahlin Wuna, der Schwester des Bonifatius. Vermutlich um 710 wurde Walburga in Devonshire geboren. Sie wurde Nonne und trat vermutlich in das südenglische Kloster Wimborne ein. Wahrscheinlich von ihrem Bruder Wunibald, vielleicht aber auch von Bonifatius selbst, wurde sie zusammen mit ihrer Verwandten Lioba als Missionshelferin nach Germanien gerufen. Zuerst lebte sie bei Lioba im Kloster Tauberbischofsheim, später trat sie in das von ihren Brüdern Willibald (dem ersten Bischof von Eichstätt) und Wunibald errichtete Kloster Heidenheim ein. Es war ein Doppelkloster, d.h. es fasste ein Männer- und ein Frauenkloster zusammen. Nach Wunibalds Tod im Jahre 761 übernahm sie als Äbtissin die Leitung dieses Doppelklosters bis zu ihrem Tod. Wann sie starb, ist nicht genau überliefert, es muss aber nach 777 gewesen sein, da sie am 24. September 777 der Erhebung der Gebeine ihres 761 gestorbenen Bruders Wunibald beiwohnte, der in der Krypta der neu erbauten Klosterkirche von Heidenheim beigesetzt wurde. Nach Heidenheimer Tradition soll sie am 25. Februar, und zwar an einem Donnerstag, gestorben sein. Berechnet man diesen Wochentag nach Grotefend, kommt damit nur noch das Jahr 779 in Frage.

Walburga ist anscheinend nach ihrem Tod weitgehend in Vergessenheit geraten. Das Kloster Heidenheim fiel an ihren überlebenden Bruder Willibald von Eichstätt zurück. Sein Nachfolger im Bischofsamt wandelte es in ein Kanonikerstift um und verleibte einen Teil seiner Besitzungen der Eichstätter Bischofskirche ein. Das mag der Hintergrund für die Legende sein, nach welcher Walburga dem etwa 90 Jahre nach ihrem Tod amtierenden Eichstätter Bischof Otkar im Traum erschienen sein soll, um sich zu beklagen, dass sie „von den schmutzigen Füssen der Werksleute täglich getreten werde“, wie es in der um 895 verfassten Heiligenvita des Herriedener Mönchs Wolfhard heißt. Jedenfalls ließ der Eichstätter Bischof Otkar am 12. Oktober 870 ihre Gebeine in die Stadt Eichstätt überführen und in der nahe gelegenen Heilig-Kreuz-Kirche beisetzen. Eine solche Translation von Gebeinen kam in dieser Zeit einer Heiligsprechung gleich, die durch Papst Hadrian II. (792-872) auch tatsächlich offiziell vorgenommen wurde. Der Tag, der als ihr Festtag festgesetzt wurde, war der 1. Mai. An der Kreuzkirche wurde 879 ein Kanonissenstift errichtet, das 1035 in die Benediktinerinnen-Abtei St. Walburg umgewandelt wurde.

Neuheidnischer Ursprungsmythos

Heutzutage versuchen die so genannten „neuen Hexen“, die Walpurgisnacht mit dem keltischen Frühlingsfest Beltane in Verbindung zu bringen, bei dem ein Fruchtbarkeitskult den Frühling willkommen heißen sollte. Dabei wird von der These ausgegangen, die Vertreter der christlichen Lehre hätten versucht, die Erinnerung an dieses Fest durch Überlagerung mit eigenen Bräuchen und Kulten zu unterdrücken sowie durch das Erfinden von Gruselgeschichten über Hexen, die in dieser Nacht zum Hexensabbat und zur Teufelsanbetung zusammenkommen sollten, das keltische Erbe in die Nähe des Dämonischen und Abstoßenden zu rücken. Allen solchen Theorien zum Trotz gibt es aber nicht den geringsten quellenmäßigen Beleg dafür, dass ein irgendwie geartetes keltisches Frühlingsfest in Deutschland die Antike überdauert hat. Frühmittelalterliche Quellen wie das Sendgerichts-Handbuch des Abtes Regino von Prüm im 9. Jahrhundert (von dem ein Teil später als „canon“ mit dem Anfangswort „episcopi“ ins Kirchenrecht übernommen worden ist) kennen kein an Beltane erinnerndes Fruchtbarkeitsfest. Und dabei würde sich gerade das Sendhandbuch des Abtes Regino sehr gut als Zeugnis eignen, denn sein Ziel war es ja, noch vorhandenes heidnisches oder kultunabhängiges abergläubisches Verhalten zurückzudrängen. Regino kennt durchaus bestimmte Tage, an denen seine Mitmenschen noch heidnischen Bräuchen frönen. Aber was er als Termin herausgreift, ist das Neujahrsfest (Kal. Januarii) und nicht der 1. Mai oder ein anderes diesem Datum nahe stehendes Frühlingsfest. Und so ist, auch wenn es in seinem Text viel um Liebeszauber und um Schwangerschaft geht, nicht der geringste Anklang an Beltane festzustellen. Zudem ist zu bedenken, dass der Walburga-Kult sich zunächst sehr regional auf die Gegend um Eichstätt oder Heidenheim, also den Raum zwischen Ulm und Ingolstadt, beschränkte. Dies war in römischer Zeit einmal der Siedlungsraum der keltischen Vindeliker gewesen, aber genauso wie ihre südlichen keltischen Nachbarn, die Boier, waren sie im Zuge der Völkerwanderung von den Germanen überrollt und verdrängt worden, in diesem Fall von den Alemannen. Ein Überleben keltischer Bräuche ist hier nicht anzunehmen.

Das Bemerkenswerteste am Walburga-Kult ist seine verhältnismäßig schnelle Ausbreitung nach Norden, denn er hat im späteren Verlauf des Mittelalters Schweden und Finnland erreicht, wo er weit bedeutender wurde als in Deutschland. Auch das spricht gegen einen Zusammenhang mit dem Beltane-Fest, denn schon ab der norddeutschen Tiefebene ist es mit dem keltischen Einflussgebiet vorbei. Bei der Ausbreitung des Walburga-Kultes nach Westen an Mittel- und Niederrhein, wo in der Tat einmal Kelten gesiedelt haben, finden sich aber auch keinerlei Anklänge mehr an eine möglicherweise intendierte Unterdrückung heidnischer Bräuche. Im Jahre 1069 wurde auf Betreiben des Kölner Erzbischofs Anno die Hirnschale der Hl. Walburga in das Kloster Walberberg am Rhein (zwischen Köln und Bonn in der heutigen Stadt Bornheim) überführt. Im gleichen Jahrhundert schrieb der Bischof Burchard von Worms sein als „Corrector“ bekanntes Bußbuch. Und auch er sah keinen Grund, sich gegen abergläubische Praktiken und heidnische Bräuche am 1. Mai zu verwahren. Bis zum quellenmäßig abgesicherten Erweis des Gegenteils muss man also wohl davon ausgehen, dass die Verbindung von keltischem Beltane-Fest und Walpurgisnacht reinem Wunschdenken entspricht, aber keinerlei historische Wurzeln hat.

Walpurgisnacht, auch wenn damit dem Begriff nach die Nacht nach der Vigil des Walburgafestes gemeint ist, hat in der heute dafür üblichen Bedeutung nichts mehr mit der Schwester von Wunibald und Willibald zu tun, sondern mit dem Umherfliegen und Tanzen der Hexen. Walburga war zwar als Nothelferin im Mittelalter sehr beliebt, aber sie galt als Pestheilige und daneben als Patronin der Augenleidenden und der Menschen mit Unterleibsschmerzen, doch Querverbindungen von hier zu den Hexentänzen der Walpurgisnacht entbehren jeder historischen Grundlage. Es wird also Zeit, sich dem Hexengeschehen selber zuzuwenden, da die Geschichte der Nonne Walburga zum Mythos der Walpurgisnacht nichts beizutragen hat.

Walpurgisnacht und Hexenvorstellung

Wie kommt es nun zu der Verbindung von Walpurgisnacht und Hexenlehre? Eine genaue Datierung für den Beginn dieser Verbindung wird es wohl nicht geben. Schriftlich greifbar wird sie, wie Ines Köhler-Zülch herausgefunden hat, zum ersten Mal im 16. Jahrhundert in einem Hexenprozess im Harzort Elbingerode1. Dort gesteht 1540 die Angeklagte Grete Wroist, sie sei mit anderen in einer „Rotte“ durch die Luft zum Teufelstanz auf den Brocken geflogen, und zwar in der Walpurgisnacht. Aber es ist keineswegs so, dass in allen Hexenprozessen im Harz der Brocken als Tanzplatz herhalten musste. Die Aussagen blieben vereinzelt, doch sie wiederholten sich. Es handelt sich also nicht um eine Einzelaussage der armen Grete Wroist, sondern allem Anschein nach um eine lokale Erzähltradition, deren Anfang sich nicht mehr feststellen lässt.

Eine Generation später fand diese lokale Hexengeschichte Eingang in die Literatur. 1580 erschien von dem Greifswalder Medizinprofessor und Begründer der Ratsapotheke Franz Joel das Buch „De morbis hyperphysicis“. Darin abgedruckt befand sich auch ein Anhang „über die Spiele der Hexen auf dem Brocken, welchen man Blocksberg nennt“2. Viel Aufsehen erregte das Buch nicht. Schon einflussreicher war das Werk des Rostocker Juristen Johann Georg Gödelmann. Der Gegner der Hexenverfolgung veröffentlichte 1592 ein lateinisches Buch, das 1606 unter dem Titel „Von Zäuberern / Hexen und Unholden / Warhafftiger und Wolgegründter Bericht Herrn Georgii Gödelmanni“ erschien. Er ereiferte sich darin über die unsinnige Behauptung, dass die Hexen „in der Walpernacht / oder den ersten May / auff dem Blocksberg oder Hewberg“ erschienen.3 Heinrich Kornmanns 1614 erschienenes Buch „Mons Veneris“, eine nicht mehr als trockenes Sachbuch, sondern zur gelehrten Unterhaltung geschriebene Sammlung kurioser und reißerischer Themen, tat ein Übriges, denn es enthielt ein Gedicht, in dem vom Tanzen der Hexen „Nachtes zu Walpurg Zeit“ die Rede ist. Etwas vorsichtiger spricht Martin Zeillers „Teutsches Reyßbuch“ von 1632 „vom Brocksberg […] darauff die Zauberer ihren Sabbath halten sollen“. In der Zeit also, in der sich die europäische Hexenverfolgung ihrem Höhepunkt näherte, hatte sich vom Harz aus über Norddeutschland der Topos vom Hexentanz auf dem Brocken in der Walpurgisnacht seinen Weg über wissenschaftliche Werke in die Unterhaltungs- und Reiseliteratur gebahnt. Man sollte also meinen, dass er über die grausame Wirklichkeit der tausendfachen Hexenprozesse schnell ins allgemeine Bewusstsein gedrungen sei. Aber das Gegenteil ist der Fall.

Teufelstanz und Hexensabbat

In den Zeiten der großen europäischen Hexenverfolgung, die sich vom späten 15. bis zum frühen 18. Jahrhundert hinzog und ihren Höhepunkt im Dreißigjährigen Krieg hatte, waren in den Folterkellern der Hexengerichte die Fragen nach Zusammenkünften der Hexen bei so genannten „Teufelstänzen“ für die Hexenrichter von besonderem Interesse. Der heute gebräuchliche Name „Hexensabbat“ ist in den Prozessakten nur sehr selten zu finden, vielleicht, weil dieser Tag dann der Logik nach auf einen Samstag oder zumindest auf einen Freitagnachmittag hätte fallen müssen, was mit den „Geständnissen“ der gefolterten Opfer nicht übereinstimmte. In der dämonologischen Literatur allerdings ist der „Sabbat“ durchaus zu finden. Schon sehr früh werden antijüdische Vorstellungen zum Vorbild für die Formulierung der neuen Hexenlehre genommen. Aus den spätmittelalterlichen Verschwörungstheorien über die Juden wird der Begriff „Ketzersabbat“ entlehnt, der schließlich zum Begriff „Hexensabbat“ wird. Doch scheint diese Vorstellung eher in der dämonologischen Literatur als in der Verfolgungswirklichkeit ihren Platz gehabt zu haben. Und selbst bei einem Kompilator der gängigen Theorien zum Hexenwesen wie Heinrich Institoris, in dessen „Hexenhammer“ immer wieder von den Versammlungen der Hexen die Rede ist, taucht der „Hexensabbat“ als fester Wochentag nicht auf. Erst später, als sich die Hexenverfolgung schon fest etabliert hat, verfestigt sich der Begriff in der dämonologischen Literatur, etwa bei Del Rio, de Lancre oder auch in Spees „cautio criminalis“. Aber es wird hier weniger an einen bestimmten Wochentag gedacht als an eine bestimmte Form der Zusammenkunft. „Hexensabbat“ kann an jedem beliebigen Tag sein.

Sowohl nach dem Ort dieses angeblichen Geschehens als auch nach den Personen, die daran teilgenommen haben sollen, wurden die Angeklagten immer wieder gefragt. Aber auch unter den schrecklichsten Folterqualen gaben die unglücklichen Opfer in aller Regel weder die Walpurgisnacht noch den Brocken im Harz als Zeitpunkt und Ort ihrer Hexentänze an. Stattdessen finden sich in den (selbstverständlich unter der Tortur erfundenen) Bekenntnissen der Hexenprozessprotokolle Angaben über sehr viel häufigere, fast wöchentlich stattfindende Zusammenkünfte. Die Wochentage und die Tageszeiten, an denen die Hexen zusammengekommen sein sollen, variierten dabei beständig. Jede Tages- oder Nachtzeit, jeder beliebige Ort inner- oder außerhalb der Stadtmauern kommt in den erhaltenen Quellen vor. Vor allem aber wurde es so dargestellt, dass die vermeintlichen Hexen sich nicht nur einmal im Jahr, sondern in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen an zahlreichen Terminen im Jahr treffen sollten. Eine gewisse Tendenz zur Bevorzugung des Donnerstages als Wochentag, der Dunkelheit als Zeitpunkt und der freien Natur als Treffpunkt lässt sich allerdings feststellen. So muss im Jahre 1589 Clara Kortzen aus Longuich bekennen: „Mosen gemeiniglich donnerstags in den fronfasten uff Hetzeratter Heiden zusamen kommen unnd sonsten inerhalb donnerstags uff iren anderen dantz platzen“.4 

Blocksberg und Brocken

Was für den Zeitpunkt gilt, gilt auch für den Ort. In den erfolterten Geständnissen der Menschen, die in die Mühlen der Hexenprozesse gerieten, tauchten, wie oben erwähnt, alle möglichen Orte auf. Darunter waren durchaus auch Berge, und manche von ihnen erhielten die Bezeichnung „Blocksberg“. Schon seit dem 1956 erschienenen Artikel „Blocksberg“ von Willerich Peuckert ist klar, dass unter dieser Bezeichnung nicht nur ein einziger Berg zu verstehen ist. Am bekanntesten davon sind zwei, einmal natürlich der Brocken im Harz, zum anderen aber auch ein Berg im Schwarzwald, der Kandel. Darüber hinaus gab es noch einen weiteren „Hexenberg“, der von regionaler Bedeutung als Versammlungsort der Hexen war: der „Heuberg“. Auch hier ist die Bezeichnung nicht ganz eindeutig, denn in Süddeutschland und Österreich sind etliche „Heuberge“ zu verzeichnen, darunter auch eine ganze Region in der Schwäbischen Alb. Die zeitgenössische Literatur suchte den Heuberg meistens in Schwaben. Aber wie wir weiter oben schon gesehen haben, waren für den Rostocker Juristen Gödelmann Blocksberg und Heuberg sogar ein Synonym. Und das sind sie ja auch, denn eigentlich meint beides nichts weiter als „Hexentreffpunkt“. In den Verhörprotokollen Süddeutschlands und der Schweiz tauchte der schwäbische Heuberg öfter auf5, während der Brocken als Treffpunkt hier keinerlei Bedeutung hatte. In anderen Regionen Deutschlands bleibt eine so klare Zuweisung aus. In den Regionen mit hoher Verfolgungsdichte an Rhein und Mosel war die Vorstellung vom Brocken wohl ebenso unbekannt wie die vom Heuberg. Wenn einmal ein „Blocksberg“ vorkam, so konnte das durchaus ein Berg in der Nähe sein. So erklärte eine wegen Hexerei angeklagte Frau in Köln im Jahre 1653, der Teufel selbst habe sie durch die Luft auf den „Blocksberg“ getragen. Von allen in Köln im 16. und 17. Jahrhundert wegen Hexerei verhörten Personen war dies jedoch die einzige, die nicht einen Ort in der Stadt selbst oder in der näheren Umgebung als Hexentanzplatz angab.

So vermochte sich also weder die Vorstellung von der Walpurgisnacht noch die vom Brocken oder einem anderen „Blocksberg“ als zentralem Versammlungsort in der Zeit der Hexenverfolgungen Ende des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts durchzusetzen. Und trotz der Übernahme der lokalen Walpurgisnacht- und Blocksbergthematik im Harz durch die oben genannten verschiedenen Gelehrten und Schriftsteller war der Walpurgisnacht-Topos noch immer nicht zum Allgemeingut des gelehrten Deutschland geworden. Das zeigt sich auch in der schönen Literatur, wo die Hexenlehre nun nicht mehr theoretisch reflektiert, sondern als Hintergrund für die Handlung ganz selbstverständlich übernommen wird: In dem im Jahre 1668 publizierten „Abenteuerlichen Simplicissimus“ des Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen etwa ist nichts von der Walpurgisnacht zu lesen. Dort gibt es zwar eine eingehende Schilderung eines Hexentanzes (2. Buch, 17. Kapitel), aber dieser findet „zu End des Mai“ statt und nicht an seinem Anfang, und der Ort befindet sich irgendwo in einem Wald, von dem wir nicht erfahren, ob er im Flachland oder in den Bergen ist. Doch der Durchbruch der Walpurgisnacht-Vorstellung bahnte sich schon an.

Im selben Jahr nämlich, in dem Grimmelshausen seinen Schelmenroman veröffentlichte, erschien auch das Buch „Blockes-Berges Verrichtung“ von Johann Praetorius. Dies war zwar ein Hexenbuch, aber kein dämonologischer Traktat im eigentlichen Sinne mehr, denn Praetorius wollte mit seinem Buch weder zur Verfolgung der vermeintlichen Hexen aufrufen noch davor als Versündigung gegen die Gerechtigkeit warnen. Seine Sammlung von landschaftlichen Schilderungen, Hexengeschichten und Hexenmythen war, mit einem modernen Terminus ausgedrückt, eher ein reißerisch aufgemachtes Sachbuch: „Blockes=Berges Verrichtung / Oder Ausführlicher Geographischer Bericht / von den hohen trefflich alt=und berühmten Blockes=Berge: ingleichen von der Hexenfahrt / und Zauber-Sabbathe / so auff solchen Berge die Unholden aus gantz Teutschland/ Jährlich den 1. Maij in Sanct-Walpurgis Nachte anstellen sollen“. Der Autor, der 1630 als Hans Schultze in dem Dorf Zethlingen in der sächsischen Altmark zur Welt gekommen war, wurde 1655 von der Artistenfakultät der Universität Leipzig zum Magister promoviert. Neben einigen Vorlesungen zur Geographie und auch über Chiromantie und Astrologie beschäftigte er sich in über 40 Schriften mit zahlreichen okkulten Themen (darunter 1662 eine „Daemonologia Rubinzalii silesii“ als erstes Buch einer dreiteiligen Rübezahl-Dichtung). Da er sich nicht an der Universität halten konnte, lebte er wohl vom Ertrag seiner zahlreichen Bücher, auf deren gute Verbreitung er angewiesen war. Reißerische Themen kamen ihm daher sehr gelegen. Praetorius gelang mit seinem Buch offensichtlich der Durchbruch. Was andere vor ihm nicht geschafft hatten, die Popularisierung und allgemeine Verbreitung des Walpurgisnacht-Mythos, das geschah nun durch sein Sammelsurium verschiedenster Hexengeschichten, von denen nur ein ganz kleiner Teil sich überhaupt mit dem Brocken und nur ein einziges Kapitel6 mit der Walpurgisnacht beschäftigte.

Literarische Wirkungsgeschichte

Aufgenommen wurde die Walpurgisnacht-Vorstellung (übrigens zusammen mit der Bezeichnung „Sabbat“ für den Hexentanz) schon wenige Jahre später durch verschiedene Dissertationen an der protestantischen Universität Wittenberg. Einmal erschien dort 1675 im Druck das Buch „De conventu sagarum in monte Bructerorum nocte ante Calendas Maij disputatio“ des Johannes Müller und im Jahre 1678 die Präsidendissertation „De conventu sagarum ad sua sabbata“, die Gottfried Voigt zur Promotion von Philipp David Fuhrmann verfasste. Die von Praetorius popularisierte Vorstellung hatte also ihre Interessenten im akademischen Raum gefunden. Der Brocken im Harz profitierte davon, denn mit dem Abflauen der Hexenverfolgungen kam anscheinend recht schnell eine gewisse schaudernde Neugier für alles auf, was mit Hexen zu tun hatte. So heißt es 1703 in einem Harz-Reiseführer von Georg Henning Behrens über den Brocken, dass er in ganz Deutschland sehr berühmt sei, unter anderem „weil auch die Kinder davon zu sagen wissen: wie nemlich alle Jahr darauff die Hexen aus Teutsch-Land in der Walpurgis Nacht […] sich versammleten, und daselbst mit denen bösen Geistern durch einen Schmaus und Tantz lustig macheten“7.

Der Brocken wurde künftig mehr und mehr „der“ Hexen-Berg in Deutschland. Doch die Skepsis blieb. Zedlers Universallexikon (erschienen 1732-1754) jedenfalls äußerte sich im Artikel „Hexe“ sehr zurückhaltend: „endlich was den Hexen=Tantz auf Walpurgis anbelanget, so erfordert dieses einen langen Beweis, unerachtet Vogt in Disput. de conventu sagarum ad sua Sabbatha Vittenb. 1667. [sic] die Wahrheit dieser Spatzierfart nach allen Kräfften zu behaupten gesucht hat.“ Der Eintrag „Walpurgis-Nacht“ bemerkt lapidar: „Walpurgis-Nacht gehöret mit unter die besonderen abergläubischen Zeiten.“

Dies änderte sich grundlegend ab dem Jahre 1808, als Johann Wolfgang von Goethe den ersten Teil seines „Faust“ veröffentlichte. Goethes Schilderung des Hexensabbats in der Walpurgisnacht basierte unter anderem auf dem Buch von Praetorius, dessen Eingrenzung der angeblichen Hexentänze auf die Nacht zum 1. Mai durch die Aufnahme in das deutsche Nationalepos nunmehr sakrosankt wurde. „Die Hexen zu dem Brocken ziehn, / Die Stoppel ist gelb, die Saat ist grün. / Dort sammelt sich der große Hauf, / Herr Urian sitzt oben auf. / So geht es über Stein und Stock, / Es farzt die Hexe, es stinkt der Bock.“

Im 20. Jahrhundert dann eroberte die Vorstellung von der Walpurgisnacht als Zeitpunkt des Hexentanzes durch Ottfried Preußlers bezaubernde Geschichte von der kleinen Hexe die Kinderzimmer, so dass heute die Verbindung Hexe-Walpurgisnacht zum Gemeingut geworden ist.


Thomas P. Becker


Anmerkungen

1 Köhler-Zülch 2004, 161.
2 De ludis lamiarum in monte Bructerorum, quem Blocksberg vocant.
3 Ebd.
4 Quelle: Biesel, 295.
5 Behringer, 110.
6 „Das VII. Capitell. Von der Zeit / wann die Hexen ihre Blocksberges-Fahrt zunehmen pflegen“.
7 Köhler-Zülch 1993, 50.


Literatur

Becker, Thomas: Art. „Walpurgis (Walpurigs) Night”, in: Encyclopedia of Witchcraft. The Western Tradition, Vol. IV, ed. by Richard Golden, Santa Barbara 2006, 1178-1179

Behringer, Wolfgang: Chonrad Stoecklin und die Nachtschar. Eine Geschichte aus der frühen Neuzeit, München / Zürich 1994

Biesel, Elisabeth: „Die Pfeiffer seint alle uff den baumen gesessen“. Der Hexensabbat in der Vorstellungswelt der ländlichen Bevölkerung, in: Franz, Gunter / Irsigler, Franz: Methoden und Konzepte der historischen Hexenforschung, Trier 1998, 289-302

Dülmen, Richard von: Imaginationen des Teuflischen. Nächtliche Zusammenkünfte, Hexentänze, Teufelssabbate, in: van Dülmen, Richard (Hg.): Hexenwelten. Magie und Imagination vom 16.-20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1987, 94-130

Ginzburg, Carlo: Hexensabbat. Entzifferung einer nächtlichen Geschichte, Frankfurt a. M. 1997
Klaniczay, Gábor: Der Hexensabbat im Spiegel von Zeugenaussagen in Hexen-Prozessen, in: kea, Zeitschrift für Kulturwissenschaften 5/1993, 31-54

Köhler-Zülch, Ines: Hexen und Walpurgisnacht im Harz. Realisierte Imaginationen, in: Schwibbe, Gudrun / Bendix, Regina (Hg.): Nachts – Wege in andere Welten, Göttingen 2004, 157-174

Dies.: Zur Phänomenologie der Hexe im Tourismus. Souvenir – Sage – Fest, in: Pezold, Leander / de Rachewiltz, Siegfried / Streng, Petra (Hg.): Studien zur Stoff- und Motivgeschichte der Volkserzählung. Bericht und Referate des 8. bis 10. Symposions zur Volkserzählung, Brunnenburg/Südtirol 1993-1995, Frankfurt a. M. u.a. 1995, 275-319

Dies.: Die Hexenkarriere eines Berges. Brocken alias Blocksberg. Ein Beitrag zur Sagen-, Hexen- und Reiseliteratur, in: Narodna Umjetnost 30/1993, 47-80

Steinruck, Josef: Zauberei, Hexen- und Dämonenglaube im Sendhandbuch des Regino von Prüm, in: Franz, Gunter / Irsigler, Franz (Hg.): Hexenglaube und Hexenprozesse im Raum Rhein-Mosel-Saar, Trier 1995, 3-18