Nach dem Amoklauf bei Jehovas Zeugen
Überlegungen zum Umgang mit geschlossenen religiösen Gruppen
Anfang März drang ein 35-jähriges ehemaliges Mitglied der Zeugen Jehovas am Ende einer Versammlung in ein Hamburger Gebäude der Religionsgemeinschaft ein und tötete wahllos sieben Gläubige, bevor der Attentäter sich selbst erschoss. Dank des schnellen Eingreifens der Polizei konnten etwa 30 weitere Anwesende, teilweise verletzt, überleben. Die Motive für diese schreckliche Tat sind nicht mehr aufzuklären. Einige Wochen vor der Tat hatte der Täter ein etwa 300 Seiten starkes Buch mit dem Titel „Wahrheit über Gott, Jesus Christus und Satan“ im Selbstverlag auf Englisch veröffentlicht. Ein Gutachten im Auftrag der Hamburger Polizei kam nach der Auswertung des Textes zu dem Schluss, dass der Hamburger Amokläufer offenbar aus religiösen Motiven gehandelt hat. Demnach ist Hass auf christliche Religionsgemeinschaften das plausibelste Motiv für die Tat. Der spätere Amoktäter sei ein „religiöser Fanatiker“ gewesen, der Wut darüber empfunden habe, dass Religionsgemeinschaften Gläubigen die Wahrheit vorenthielten. In dem Buch fänden sich zudem explizit antidemokratische Ansichten. Einem zweiten psychiatrischen Gutachten zufolge weist der Autor Züge einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung auf. Aus dem Buch lasse sich aber keine Gefährdung für die Allgemeinheit ableiten.
Aus den zahlreichen Berichten über die Tat ergibt sich das Bild eines offensichtlich psychisch erkrankten Menschen, der in seiner seelischen Not Unterstützung in der Religionsgemeinschaft gesucht hatte, bevor er die Gemeinschaft wieder verließ. Ob die Tat in einem Zusammenhang mit der Lehre und Praxis dieser Religionsgemeinschaft steht, lässt sich nicht mehr herausfinden.
Im Vergleich zu den Reaktionen auf andere Amokläufe in der jüngeren deutschen Vergangenheit verlief die öffentliche Trauer verhalten. Das Mitgefühl für die Opfer wurde teilweise überdeckt von Vorbehalten gegenüber dieser für Gewaltfreiheit und Pazifismus eintretenden Glaubensgemeinschaft mit exklusivem Heilsanspruch. Auch die Ablehnung von Jehovas Zeugen, sich an der großen öffentlichen christlich-ökumenischen Trauerveranstaltung in der Hamburger Hauptkirche St. Petri zu beteiligen, stieß bei manchen Menschen auf Unverständnis. Die Religionsgemeinschaft lehnt aber seit jeher jegliche ökumenische Zusammenarbeit aufgrund der großen Lehrunterschiede ab und zog es vor, eine Woche später eine eigene öffentliche Trauerfeier abzuhalten, bei der auch ein Grußwort des Bundespräsidenten verlesen wurde.
In der medialen Berichterstattung war schnell von einer gefährlichen „Sekte“ die Rede, die Konflikte hervorrufe und in der eine Zugehörigkeit im Extremfall in einem Gewaltausbruch enden könne. Es wurde die Frage gestellt, ob die Tat mit der Lehre der Religionsgemeinschaft in Verbindung stehen könnte. Die öffentliche Debatte war von Vorurteilen gegenüber der „Sekte“ geprägt, die solche Täter hervorrufe. Tatsache ist jedoch, dass in dem kurz zuvor veröffentlichten Buch des Täters Jehovas Zeugen überhaupt nicht vorkommen. Der schreckliche Amoklauf eines psychisch erkrankten Ex-Mitglieds hätte ebenso in einer Kirche, einer Moschee oder einer Freikirche stattfinden können. Doch vielleicht kann der tragische Amoklauf zu einem Umdenken veranlassen, sowohl aufseiten der Öffentlichkeit als auch aufseiten der Religionsgemeinschaft der Zeugen Jehovas selbst.
1 Abkehr von der Diskriminierung einer religiösen Minderheit
Jehovas Zeugen sind immer wieder öffentlichen Diskriminierungen ausgesetzt. In Russland wurde die Religionsgemeinschaft 2017 verboten. Hunderte Zeugen Jehovas wurden in Untersuchungshaft genommen oder aufgrund von Extremismus-Vorwürfen zu Freiheitsstrafen verurteilt, aktuell befinden sich noch über einhundert Zeugen Jehovas in Haft. Im Nationalsozialismus wurden Jehovas Zeugen unterdrückt und verfolgt. 1933 wurden sie verboten und gehörten zu den ersten Opfern des NS-Regimes, über tausend Mitglieder wurden getötet. Obwohl die Religionsgemeinschaft in Deutschland seit vielen Jahren als Körperschaft des öffentlichen Rechts anerkannt ist, hat sie einen schlechten Ruf. Dabei stellt das Grundgesetz die Religionsfreiheit unter besonderen Schutz. Dazu zählt auch das Recht, einer kleinen, exklusiven Religionsgemeinschaft wie Jehovas Zeugen anzugehören oder religionslos leben zu wollen. Zugleich eröffnet das Recht auf freie Meinungsäußerung die Möglichkeit, fundamentalistische Gruppenstrukturen zu kritisieren und die Wahrung von Grundrechten ihrer Mitglieder einzufordern. Doch muss sich die notwendige Kritik an fundamentalistischen Tendenzen gleich welcher Gruppierung zugleich deutlich abgrenzen von religionsbezogener Diskriminierung.
2 Kooperation von seelsorglicher und psychotherapeutischer Beratung
Religionsgemeinschaften liefern ihren Mitgliedern in Krisenzeiten Halt und Unterstützung. Damit bieten sie eine wertvolle Ergänzung des psychosozialen Gesundheitssystems, das angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Krisenlage an seiner Belastungsgrenze steht. Allerdings stoßen Seelsorge-Angebote bei Ratsuchenden mit manifesten psychischen Erkrankungen schnell an ihre Grenzen, weil eine Krankheit primär eine fachliche Behandlung erforderlich macht. Deshalb ist für die Seelsorge die Zusammenarbeit mit professionellen Hilfsangeboten unbedingt nötig. Keinesfalls dürfen falsche Hoffnungen auf schnelle oder gar übernatürliche Heilung geschürt werden.
Eine derartige Vernetzung mit dem Gesundheitssystem ist bei Jehovas Zeugen undenkbar. Aufgrund ihres dualistischen Weltbilds sollen die weltlichen Hilfsangebote nur im Ausnahmefall in Anspruch genommen werden. In Nummer 1/2023 des „Wachtturms“ wird erläutert, wie die Bibel zu einer gesunden Psyche verhelfen kann. Immerhin wird die weltweite Zunahme psychischer Erkrankungen nicht geleugnet, und es wird sogar zugestanden: „Eine passende medizinische Behandlung kann Betroffenen helfen, ihre Symptome zu reduzieren und ein aktives und erfülltes Leben zu führen.“1 Allerdings stellt ein weiterer Beitrag dieser Ausgabe in Aussicht, dass Gott als Folge einer Mitgliedschaft bei Jehovas Zeugen eine „vollkommen gesunde Psyche“ schaffe. Das ist sowohl psychologisch als auch theologisch nicht haltbar – man denke nur an den chronisch kranken Apostel Paulus!2 Für depressive Patienten oder Angstpatienten bedeuten derartige Versprechen über ihre Erkrankung hinaus eine zusätzliche Belastung, wenn die Krankheit trotz intensiver religiöser Bemühungen nicht verschwindet.
Wenn eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwischen Religionsgemeinschaften und professionellen Gesundheitsanbietern besteht, bieten sich viele Möglichkeiten. Hier nur zwei Beispiele: In einem Modellprojekt in den Jahren 2010 bis 2012 wurden in Kooperation zwischen dem evangelischen Kirchenbezirk Tübingen, regionalen Gesundheitsanbietern und Volkshochschulen Predigtreihen und Bibelgespräche zum Thema „Umgang mit Depressionen“ durchgeführt und von der Universität Heidelberg evaluiert.3 Ein aktuelles Handbuch4 liefert Seelsorgenden umfassendes psychiatrisches Grundlagenwissen über das Spektrum psychischer Erkrankungen und will damit die regionale Zusammenarbeit zwischen pastoralen und professionellen Hilfsangeboten unterstützen. Der Amoklauf von Hamburg könnte für Jehovas Zeugen ein Anlass sein, in Bezug auf ihre Einstellung gegenüber professioneller Therapie umzudenken.
3 Verbesserung der Beratungsangebote für ausstiegswillige Zeugen Jehovas
In den ersten Tagen nach dem Amoklauf wurde gemutmaßt, die grausame Tat könne aus Wut gegen die engen Regeln der Religionsgemeinschaft geschehen sein. Heute wissen wir, dass der Täter eine psychiatrische Vorgeschichte hatte und dass er nicht aus der Versammlung ausgeschlossen wurde, sondern die Gemeinschaft freiwillig verließ. Aktuelle empirische Studien aus Europa und den USA belegen, dass die psychische Belastung nach einem Ausstieg bei Jehovas Zeugen hoch ist und nicht selten mit seelischen Störungen einhergeht, unabhängig von den Umständen des Ausstiegs (Studien aus der Schweiz/Deutschland5, Norwegen6, Italien7, Großbritannien8, den USA9). Im Fokus der Forschung steht dabei die Frage, wie die Betroffenen ihre soziale Ächtung und Isolation nach ihrem Ausschluss oder Austritt verarbeiten. Aus psychotherapeutischer Sicht wurde festgestellt, dass es an professionellen Hilfsangeboten für religiös Traumatisierte bislang mangelt.10 Hilfesuchende aus geschlossenen religiösen oder spirituellen Gruppen benötigen mehr Beratungs- und Unterstützungsangebote.
Michael Utsch, 15.04.2023
Anmerkungen
- https://www.jw.org/de/bibliothek/zeitschriften/wachtturm-nr1-2023/psychische-erkrankungen-globales-problem (Abruf: 12.4.2023)
- Vgl. Hans-Heinrich Stricker: Mensch in Schwachheit, Apostel in Kraft. Krankheit und Heil bei Paulus im Urteil des Arztes, Münster 2008.
- Birgit Weyel/Annette Haußmann/Beate Jakob/Stefanie Koch: Menschen mit Depression. Orientierungen und Impulse für die Praxis in Kirchengemeinden, Gütersloh 2014.
- Jochen Sautermeister/Tobias Skuban (Hg.): Handbuch psychiatrisches Grundwissen für die Seelsorge, Freiburg i. Br. 2018.
- Myriam V. Thoma/Shauna L. Rohner/Eva Heim et al.: Identifying Well-being Profiles and Resilience Characteristics in Ex-members of Fundamentalist Christian Faith Communities, in: Stress and Health 38 (2022), 1058–1069.
- Hege K. Ringnes/Sarah Demmrich/Harald Hegstad et al.: End Time and Emotions. Emotion Regulation Functions of Eschatological Expectations among Jehovah’s Witnesses in Norway, in: Journal of Empirical Theology 32 (2019), 105–137.
- Ines Testoni/Kirk Bingaman/Giulia Gengarelli et al.: Self-Appropriation between Social Mourning and Individuation. A Qualitative Study on Psychosocial Transition among Jehovah’s Witnesses, in: Pastoral Psychology 68 (2019), 687–703.
- Heather J. Ransom/Rebecca L. Monk/Derek Heim: Grieving the Living. The Social Death of Former Jehovah’s Witnesses, in: Journal of Religion and Health 61 (2022), 2458–2480.
- Rosie Luther: What Happens to Those Who Exit Jehovah’s Witnesses. An Investigation of the Impact of Shunning, Pastoral Psychology 72 (2023), 105–120.
- Alyson M. Stone: Thou Shalt Not. Treating Religious Trauma and Spiritual Harm with Combined Therapy, in: Group 37 (2013), 323–337; Michael Utsch/Ulrike Anderssen-Reuster/Eckhard Frick et al.: Empfehlungen zum Umgang mit Religiosität und Spiritualität in Psychiatrie und Psychotherapie. Positionspapier der DGPPN, in: Spiritual Care 6 (2017), 141–146.