Nach hundert Jahren: Apologetik heute
Festvortrag zum Jubiläum der EZW
Vor 100 Jahren, im September 1921, wurde die Apologetische Centrale gegründet, die Vorgängerorganisation der EZW. Dieses Jubiläum feierte die EZW am 14. September 2021 mit einem Empfang in der Berliner Parochialkirche. Den Festvortrag hielt der EKD-Vorsitzende und bayerische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm.
1 Zum Verständnis des Begriffs „Apologetik“
Es ist ein sehr besonderes Jubiläum, das wir heute feiern. Dass die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen schon 100 Jahre alt ist, ist erstaunlich. Mich jedenfalls hat das überrascht, als ich erstmals darauf gestoßen bin. Denn die Fragestellung, der sie sich widmet, ist so hochmodern! Es geht ja nicht um das, was Außenstehende vielleicht zuerst damit assoziieren, wenn sie den Begriff „Apologetik“ hören, der für die Arbeit der EZW so wichtig ist und dessen Bedeutung zu erläutern mir heute aufgegeben ist. Wenn wir das Wort „apologetisch“ in der Alltagssprache gebrauchen, dann hat das oft einen defensiven Charakter. „Jetzt werde aber nicht apologetisch!“ Diese Mahnung richtet sich an einen Menschen, der in einem bestimmten Konflikt seine Sache mit Tunnelblick verteidigt, ohne die Argumente seiner Kontrahenten wirklich zu hören und in sein eigenes Denken einzubeziehen. In einem solchen Verständnis müsste man Apologetik und Diskurs in ein Gegensatzverhältnis setzen.
Der Begriff Apologetik war deswegen auch in der Theologie lange Zeit eher negativ konnotiert. Insbesondere Karl Barth kritisierte sie als Versuch einer Begründung und Rechtfertigung des Glaubens mithilfe von sachfremden, nichttheologischen und daher illegitimen Methoden.1 Und wenn man unter Apologetik ein unbelehrbares Festhalten an überlieferten Inhalten verstehen müsste, deren Plausibilität schlicht verdampft ist und weder erneuert werden kann noch sollte, dann kann man das ja nur unterstreichen. Genau besehen, heißt Apologetik aber etwas anderes. Der Begriff kommt in zwei Verweisungszusammenhängen vor: zum einen als Darstellung der Inhalte des christlichen Glaubens, als konsistente, zusammenhängende Beschreibung des Wesens des Christentums;2 zum anderen als begrifflich argumentierende, intersubjektiv nachvollziehbare Plausibilisierungdieser Inhalte des Glaubens.3 Beide Bemühungen sind dadurch bestimmt, dass sie jeweils vor einem externen Forum erfolgen.
Das christliche Verständnis der Wirklichkeit hat wesentlich auch Auswirkungen für das Handeln des Menschen in der Welt und seine praktische Lebensgestaltung. Neben theoretischen Gründen ist daher auch die praktisch-ethische Orientierungskraft des Glaubens für die Apologetik relevant. Apologetik kann sich deshalb nicht auf die Pflege der Tradition beschränken, sondern muss sich der Aufgabe stellen, die vorfindliche Wirklichkeit in der je eigenen Gegenwart im Licht der biblisch-christlichen Tradition eigenständig zu deuten und zu verstehen sowie angesichts von konkreten Herausforderungen zu selbstverantworteten Entscheidungen zu helfen.
Weil Gott die Wahrheit seines Evangeliums in jeder Gegenwart immer wieder neu zur Sprache und Wirkung bringt, hat Apologetik die Aufgabe, den Glauben im Kontext der Gegenwart für die Gegenwart zu plausibilisieren, das heißt, sowohl für das Herz als auch für den Verstand nachvollziehbar zu machen. Die Apologetik erfüllt deswegen heute noch viel mehr als vor 100 Jahren keine randständige, optionale Funktion, sondern ist eine wesentliche, unverzichtbare Aufgabe von Theologie und Kirche, will sie ihre Inhalte über die eigenen Blasen hinaus zugänglich machen.
2 Apologetik als wesentliche Aufgabe von Theologie und Kirche
Die Notwendigkeit der Apologetik für Theologie und Kirche ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass der christliche Glaube einen inhaltlich bestimmtenGehalt hat, aus dem sich „Daseinsgewissheit“ (Michael Roth) begründen lässt. Das Evangelium erhebt einen Wahrheitsanspruch. Das Wirklichkeitsverständnis des Glaubens kann aus den praktischen Vollzügen des Glaubens nicht ausgeklammert werden, sondern muss expliziert werden, wenn der Glaube sich artikuliert. Zur Apologetik gehört deshalb nicht nur die Aufgabe darzustellen, in welchen Punkten die christliche Sicht mit anderen Religionen und Weltanschauungen Berührungspunkte findet, sondern auch, wodurch und in welchen Punkten sie sich von diesen unverwechselbar unterscheidet.
Dabei geht es nicht darum, das eigene Profil durch die Abwertung und dann häufig auch Verzerrung der anderen zu stärken. Ein solcher Weg ist immer ein Zeichen von innerer Schwäche. Denn er traut der eigenen Weltdeutung ja nicht wirklich zu, aus sich selbst heraus überzeugen zu können. Deswegen gehört zur Apologetik immer eine faire und kompetente Darstellung anderer weltanschaulicher Ansätze. Eine solche Darstellung ist auf Dialog angewiesen. Denn niemand kann das Verstehen einer Weltdeutung besser unterstützen als diejenigen, die sie selbst vertreten. Das schließt eine kritische Auseinandersetzung damit nicht aus, sondern ermöglicht sie überhaupt erst – jedenfalls in ihrer substanziellen Variante. Ich bin deswegen dankbar für die verschiedenen Dialoge, in denen die EZW steht, und freue mich, dass einige ihrer Dialogpartnerinnen und -partner heute anwesend sind.
Dass wir in unseren unterschiedlichen Weltdeutungen voneinander Notiz nehmen und – mehr als das – eben auch miteinander im Gespräch sind, ist wichtig. Denn der Glaube steht in der offenen, pluralistischen Gesellschaft faktisch in einer Kommunikationssituation, in der die Fähigkeit, das eigene Wirklichkeitsverständnis im Gespräch mit anderen zu erläutern, von zentraler Bedeutung ist. Will der Glaube keine Sondersemantik, Hermetik und Nischenexistenz pflegen, muss er sich dieser Kommunikation stellen. In einer religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft ist diese Aufgabe wichtiger denn je. Denn der gemeinsame Horizont christlicher Weltdeutung, der bei der Gründung der damaligen „Apologetischen Centrale“ und heutigen EZW noch weitgehend vorausgesetzt werden konnte, ist seitdem zunehmend diffundiert. Heute müssen wir Inhalte plausibel machen, die für viele Menschen entweder als geradezu absurd, in jedem Fall aber als weitgehend unverständlich erscheinen.
Dabei ist mit Blick auf die besonderen Herausforderungen in unserer Gegenwart bzw. der Moderne zu bedenken, dass nicht nur einzelne Aussagen in Zweifel gezogen werden, die dem empirischen Bewusstsein und dem naturwissenschaftlichen Denken anstößig sind (z. B. Erschaffung der Welt, das leere Grab, Jungfrauengeburt), sondern das Gesamtverständnis von Wirklichkeit in der Perspektive des Glaubens überhaupt. Häufig steht dahinter eine Perspektive, die sich aufgeklärt gibt, die aber, ohne es zu merken, ihre eigene Perspektive totalisiert. Besonders häufig ist das der Fall, wenn naturwissenschaftliche Weltwahrnehmung und die empirischen Messinstrumente, auf denen sie basiert, zum entscheidenden Maßstab der Wirklichkeitswahrnehmung werden. Die Devise lautet dann: „Ich glaube nur, was ich sehe.“
Gegen solche naturwissenschaftlichen Totalitätsansprüche hat der amerikanische Theologe H. Richard Niebuhr – sehr zu Unrecht weniger bekannt als sein Bruder Reinhold Niebuhr – in seinem Buch „The Meaning of Revelation“4 eine wichtige Unterscheidung eingeführt – die Unterscheidung zwischen „internal“ und „external history“. „Internal history“ ist von ihrem Charakter her persönlich5 und betrachtet das, was mit uns geschieht, durch unsere eigenen Augen. „External history“ betrachtet dagegen die Geschichte von Menschen aus der Perspektive eines externen Beobachters. Von einem Blinden, der sehend wird, könnten zwei Geschichten geschrieben werden: Die „external history“ würde beschreiben, was mit seinem Sehnerv geschehen ist, welche Technik der Operateur benutzte oder durch welches Medikament der Patient geheilt wurde. Die „internal history“ dagegen würde diese Dinge vielleicht überhaupt nicht erwähnen, sondern erzählen, was einem Menschen, der bisher in Dunkelheit gelebt hat, widerfährt, wenn er erstmals wieder Bäume und den Sonnenaufgang, die Gesichter von Kindern und die Augen eines Freundes sieht.6
Beide Formen von „history“ sind im Hinblick auf die Interpretation religiöser Phänomene klar voneinander zu unterscheiden. Eine objektive historische Untersuchung des Lebens Jesu („external history“) führt nicht direkt in das Bekenntnis zu Jesus als dem Christus („internal history“). Nur eine Umkehr, eine eigene Glaubensentscheidung, kann von der beobachteten zur gelebten Geschichte („from observed to lived history“) führen.7 Dennoch kann auch die „external history“ zum inneren Leben einer Gemeinschaft beitragen. Kritiker des Christentums etwa haben die Kirche gerade durch ihre Kritik immer wieder an ihre eigene Sache erinnert.8 Weil das wichtig ist, muss Apologetik immer ein selbstreflexives und damit auch selbstkritisches Element haben. Sie muss Einwegkommunikation überwinden und wirklich dialogisch sein.
Die Apologetik hat die Aufgabe, die Botschaft des Glaubens als öffentlicheWahrheit zur Sprache zu bringen und sie damit auch ohne Vorbehalte dem öffentlichen Diskurs auszusetzen. In säkularisierten Gesellschaften ist es nahezu selbstverständlich geworden, Glauben und Religion als Privatsache zu betrachten und als solche auch zu behandeln. Jeder kann heutzutage glauben, was er will, und sich der Illusion hingeben, in Fragen des Glaubens allein sich selbst verantwortlich zu sein. Dass jemand begründet Auskunft geben kann, warum er sich religiös wozu bekennt, wird nicht erwartet. Dies wiederum befördert eine Mentalität des religiösen Subjektivismus, der vornehmlich an der eigenen emotionalen Befriedigung ausgerichtet ist. Dies hat weitreichende Folgen gerade für die verfasste Kirche, denn die Privatisierung und Subjektivierung der Religion verkennt die grundlegende Einsicht, dass der christliche Glaube keine Sache individueller Gestimmtheit oder Bedürftigkeit ist, sondern eben einen universalen Wahrheitsanspruch erhebt. Die Wahrheit des Evangeliums erschließt sich Menschen als Grund ihrer Daseinsgewissheit und Lebenshoffnung. Der Glaube hat deshalb konstitutiv eine persönlicheDimension, er ist jedoch keine Privatsache.
3 Die Rolle der Apologetik in der und für die pluralistische Kultur
Moderne Gesellschaften sind durch eine Vielfalt von Lebensstilen, Wertvorstellungen und Weltanschauungen geprägt. Damit stellt sich die Frage, wie die Gesellschaft mit dieser Pluralität umgehen will. Michael Welker unterscheidet zwischen kraftvollen und stärkenden Formen von Pluralismus und zerrüttenden und schwächenden Formen von Vielfalt, die inhaltlich nicht näher qualifiziert ist.9 Während für einen zerrüttenden, babylonischen Pluralismus die pauschale Hochschätzung der Differenz charakteristisch ist, geht der Pluralismus des Geistes mit der Differenz differenziert um: „Der Geist Gottes bewirkt ein vielstelliges, für Differenzen sensibles Kraftfeld, in dem die Freude an geschöpflichen, stärkenden Differenzen gepflegt wird und in dem ungerechte, schwächende Differenzen in Liebe, Erbarmen und Sanftmut abgebaut werden.“ Was solche stärkenden Differenzen sind, wird anhand eines dreifachen biblisch begründeten Kriteriums präzisiert: Stärkende Differenzen sind solche Differenzen, die sich dem Recht, dem Erbarmen und der Gotteserkenntnis nicht widersetzen. „In der differenzierten, für Differenzen sensiblen Gemeinschaft, in der stetig die sich dem Recht, dem Erbarmen und der Gotteserkenntnis widersetzenden Differenzen abgebaut werden“, so Welker, „ist der verheißene Geist Gottes wirksam“.10
Welker erläutert das anhand der Pfingstgeschichte und anderer biblischer Zeugnisse, die deutlich machen, dass der Heilige Geist Menschen verbindet, ohne die kulturellen, sprachlichen und anderen Differenzen zwischen ihnen aufzuheben.
Apologetik hat deswegen die Aufgabe, die Wahrheitsansprüche des christlichen Glaubens zu formulieren, sie plausibel zu formulieren und sie so zu formulieren, dass sie zu einem wirklich qualifizierten Pluralismus beiträgt, anstatt profillos eine diffuse Vielfalt zu befördern. Die Kirche steht daher heute wie seinerzeit Paulus „auf dem Markt“. Die Rede des Paulus auf dem Areopag (Apg 17) lässt sich als Muster verstehen und stellt Parameter bereit, die für das Verständnis und den Vollzug christlicher Rechenschaft in der pluralistischen Gesellschaft entscheidend sind. Zur Akzeptanz der vorfindlichen Situation des Marktes gehört auch die Akzeptanz der Situation der Konkurrenz zu anderen, nichtchristlichen und nichtreligiösen Verständnissen der Wirklichkeit. Zur Zeugenschaft der Kirche – das hat Eilert Herms zu Recht betont – gehört wesentlich die Bereitschaft und Fähigkeit, diese Konkurrenz auszuhalten und der Versuchung zu widerstehen, weltanschauliche Differenzen unter den Teppich zu kehren und Spannungen auf einer vermeintlich höheren Ebene auszugleichen oder sogar zu harmonisieren.
Die Konkurrenz weltanschaulicher Wahrheits- und Geltungsansprüche setzt Theologie und Kirche dem argumentativen Diskurs aus, an dem sie sich aktiv beteiligen muss. Eine pluralismusfähige Kirche ist herausgefordert, ihre apologetische Kompetenz in gesellschaftlichen und politischen Fragen selbstbewusst und offensiv in den öffentlichen Debatten einzubringen in dem Wissen, nur durch begrifflich begründete und profilierte Argumentation überzeugend wirken zu können. Welker zufolge leistet die Kirche damit zugleich einen essenziellen Beitrag zur Versachlichung und inhaltlichen Vertiefung der Diskurskultur, die für eine pluralistische Gesellschaft unverzichtbar ist. Das sollte einer evangelischen Kirche, die den konstruktiven Streit um das rechte Verständnis der Schrift unter gleichberechtigten Interpreten systematisch pflegt, nicht wesensfremd sein. Wie muss ein geeigneter Rahmen aussehen, der solche Prozesse nicht hemmt, sondern befördert?
4 Recht als übergreifender Konsens
Aufgrund der weltanschaulichen Pluralität gibt es in offenen Gesellschaften auch keinen öffentlich konsentierten Orientierungsrahmen, der das individual- und sozialethische Handeln Einzelner und gesellschaftlicher Gruppen und Akteure normieren könnte. Die für alle geltende und alle verbindende Grundlage gesellschaftlicher Orientierung und gesellschaftlichen Handelns bildet vielmehr das Recht. Die rechtsstaatliche Freiheitsordnung bildet einen institutionalisierten Rahmen, der Menschen dazu verpflichtet, die Freiheit ihrer Mitmenschen, anders zu denken, einem anderen Glauben oder einer anderen Weltanschauung anzuhängen, als ein Grundrecht zu akzeptieren.
Die Grundlage für ein Zusammenleben, das sowohl leidenschaftliche Wahrheitsansprüche verträgt als auch Pluralismus nicht als Verfallserscheinung, sondern als humanitäre Errungenschaft sieht, ist für mich die Idee eines übergreifenden Konsenses in einer demokratischen Gesellschaft, wie sie v. a. von John Rawls formuliert worden ist.11 In einer solchen Gesellschaft – so der Grundgedanke – kann von einer großen Vielfalt verschiedener Konzeptionen des guten Lebens ausgegangen werden, darunter religiöse und nichtreligiöse. Die Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Konzeptionen bringen ihre Ideen und Werte in die gesellschaftliche Gemeinschaft ein, indem sie öffentlich dafür eintreten. Keine dieser allgemeinen und umfassenden Konzeptionen des Guten kann sich selbst zur einzig legitimen erklären oder sie gar gesetzlich verbindlich machen. Alle Konzeptionen teilen aber ein Minimum an fundamentalen Werten. Diese Werte sind in unterschiedlicher Weise in den religiösen, moralischen oder philosophischen Traditionen der jeweiligen Konzeptionen des Guten gegründet. Alle überschneiden sich aber im Hinblick auf bestimmte Grundannahmen über die Bedeutung des Menschseins, auch wenn die Interpretationen dieser Grundannahmen sich unterscheiden mögen. Die Menschenrechte haben sich als weltweit kodifizierte Form eines solchen übergreifenden Konsenses herausgebildet.
Die verschiedenen speziellen Konzeptionen des Guten dürfen nicht ausschließlich in den Raum der jeweiligen Binnengemeinschaft verbannt werden, sie müssen vielmehr als Quelle leidenschaftlicher Beiträge zur öffentlichen Kommunikation gedacht werden. Die Aufrechterhaltung und die lebendige Weiterentwicklung eines übergreifenden Konsenses bedürfen des öffentlichen Engagements der verschiedenen religiösen und weltanschaulichen Gemeinschaften, die eine pluralistische Gesellschaft prägen.
Das ist der sozialtheoretische und rechtliche Rahmen, in dem sich Apologetik als öffentliche Theologie in den öffentlichen Diskurs einbringt. Sie wird damit ihrer Aufgabe gerecht, neben der Plausibilisierung der Grundzüge der christlichen Sicht auf die Weltwirklichkeit auch eine reflektierte Sicht auf die faktische Koexistenz divergenter Sichtweisen und auf den bewussten Umgang mit dieser Koexistenz zu entwickeln. Damit verbinden sich die Einsicht und die Bereitschaft, den eigenen Wahrheitsanspruch nur unter Anerkennung der Unvermeidbarkeit konkurrierender Perspektiven und ihrer Existenzberechtigung artikulieren zu können.
Zur Apologetik gehört deshalb immer auch das Bewusstsein der eigenen Kontingenz. Mit Habermas zu reden: Die Zumutung der Toleranz besteht nicht in der Einschränkung der eigenen Wahrheitsansprüche, sondern in der faktischen Einschränkung ihrer praktischen Wirksamkeit. Oder anders gesagt: Nicht leidenschaftliche Wahrheitsansprüche schwächen die Pluralismusfähigkeit von Gemeinschaften, ob religiös oder nichtreligiös, sondern eine mangelnde Bereitschaft, auch die leidenschaftlichen Wahrheitsansprüche anderer zu respektieren. Wenn Einigkeit über diesen Rahmen besteht, dann spricht nicht nur nichts gegen offensive Plausibilisierungsbemühungen der christlichen Kirchen auch in der Öffentlichkeit, sondern ein liberaler Staat, der „von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde), ist geradezu darauf angewiesen.
5 Apologetik als öffentliche Theologie
Ich will zum Schluss anhand von zwei zentralen christlichen Inhalten beispielhaft deutlich machen, warum christliche Apologetik im richtig verstandenen Sinne auch für die Gesellschaft insgesamt ein wichtiger Dienst ist, indem sie zu Resilienz, Selbstreflexion und Lebenszufriedenheit verhelfen kann.
5.1 Der Geschenkcharakter allen Daseins
Die Kirche spricht von dem Geschenkcharakter allen Daseins, indem sie von Gott als dem Schöpfer und der Welt als von Gott geschaffener Welt erzählt. Die Bedeutung dieses Glaubensguts für die moderne Gesellschaft ist kaum zu überschätzen. Denn schon die Glücksforschung, die ja ihre empirischen Daten von Menschen ganz unterschiedlicher weltanschaulicher Überzeugungen gewinnt, hat die große Bedeutung der Dankbarkeit für die Lebenszufriedenheit herausgearbeitet.
Ein in seiner Wirkung kaum zu überschätzender Weg, sich Dankbarkeit für die eigene Lebensperspektive und Lebenswelt anzueignen, ist die religiöse Praxis, die praxis pietatis. Wer die Welt als Schöpfung Gottes versteht, der wird das, was ihm gegeben ist, als Geschenk Gottes verstehen, also nicht als etwas, worauf er oder sie einen Anspruch hat, sondern als etwas, wofür jeden Tag von Neuem danke gesagt werden kann. Eine Einübung in diese Haltung erfahren alle, die am Sonntag Gottesdienst feiern und im Dankgebet explizit darauf reflektieren und exemplarisch ganz konkrete Dinge nennen, die sie als von Gott geschenkt verstehen.
Man darf sich die Frage durchaus einmal erlauben, wie unsere Gesellschaft aussehen würde, wenn sie solchermaßen aus der Dankbarkeit für das erfahrene Gute leben würde, also aus einem Bewusstsein der Fülle, anstatt aus einer Angst vor Knappheit und aus dem Gefühl, zu kurz zu kommen. Es würde unserer Gesellschaft guttun. Es ergibt Sinn, sein Leben in dieser Perspektive zu leben.
5.2 Die Aktualität des Redens von Sünde und Vergebung – Kultur der kritischen Selbstprüfung
Wer heute von Sünde und Vergebung spricht, stößt bei vielen zunächst auf wenig Verständnis. Wir neigen dazu, den Begriff der Sünde zu banalisieren oder zu moralisieren. Der ursprünglich religiöse Gehalt des Begriffs „Sünde“ ist weithin verloren gegangen. Dabei haben die Menschen – davon bin ich überzeugt – in ihrer Seele eine sehr genaue Ahnung von dem, was dieser Begriff religiös bezeichnet. Das „Verkrümmtsein in sich selbst“, das Martin Luther als eingängiges Bild für das Phänomen der Sünde gefunden hat, ist uns allen höchst vertraut. Hinter den öffentlichen Klagen über Egoismus, Gier und Verlust an sozialem Zusammenhalt steckt genau dieses Bewusstsein oder jedenfalls die Ahnung davon.
Wer mithilfe der biblischen Inhalte eine Sprache dafür findet, der bekommt auch einen Weg aus dieser Selbstisolierung heraus gewiesen. Die Kultur der nüchternen Selbstwahrnehmung, die die Rede von der menschlichen Sünde ermöglicht, ist der erste Schritt zur Überwindung der damit verbundenen Selbstisolierung. Nur wo Sünde beim Namen genannt wird, kann auch die befreiende Kraft der Vergebung erfahren werden.
Der christliche Glaube, insbesondere die Theologie des Paulus, bietet dafür ein Deutungsangebot, das ich nach wie vor faszinierend finde. Kurz gesagt lautet es so: Du weißt, was du Gott und deinem Mitmenschen schuldig geblieben bist. Daran gibt es auch nichts zu beschönigen. Und es hat Konsequenzen. Aber nicht du selbst musst die Konsequenzen tragen, sondern Christus hat sie für dich getragen. Wo du das glaubst und in deine Seele hereinlässt, erfährst du eine neue Freiheit zum Leben. Diese Freiheit ist so tragfähig, weil sie das Ja zu dir selbst nicht mit der Verdrängung deiner dunklen Seiten erkauft, sondern dieses Ja zu dir selbst genau durch die nüchterne Selbsterkenntnis deiner selbst hindurch seine besondere Kraft bekommt.
Sich auf ein solches Deutungsangebot zum Umgang mit einem jenseits aller weltanschaulichen Unterschiede objektiv bestehenden Problem einzulassen, ist alles andere als irrational. Es ist höchst plausibel. Welche Heilung würde unsere Gesellschaft erfahren, wenn eine Dynamik sich Raum schaffen würde, in der die Bereitschaft zur Selbstkritik an die Stelle von Selbstrechtfertigung und Schuldzuweisung treten würde? Die Kultur der Beschuldigung, Abwertung und Anprangerung der anderen, die sich im Internet, insbesondere in den sozialen Medien, breitgemacht hat, könnte einer Kultur der Nachdenklichkeit und kritischen Selbstprüfung weichen und so die zunehmend unsozial werdenden Medien tatsächlich wieder zu „sozialen Medien“ machen. Auch die politische Kultur könnte sich verändern. Kleinkarierte parteipolitische Debatten, deren erste Zielrichtung nicht die sachlich besten Lösungen sind, sondern die Bestätigung des eigenen politischen Lagers, könnten zur gemeinsamen Erkenntnissuche werden. Öffentliche Personen könnten ohne Angst Fehler freiherzig einräumen und dadurch die Grundlage für Lernprozesse in der Zukunft legen.
Wo das Wissen um Sünde und Vergebung neu entdeckt wird, kann die Zivilgesellschaft zu einer Kultur der Fehlerfreundlichkeit finden, von der am Ende alle profitieren. Auch das könnte ein wichtiger Impuls von Kirche in der Zivilgesellschaft sein.
6 Schluss
Ich hoffe, dass anhand der Beispiele deutlich geworden ist, dass die Kirchen auch in der religiös und weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft Gewichtiges zur öffentlichen Kultur und zum öffentlichen Diskurs beizutragen haben. Sie brauchen die Apologetik, um sich immer wieder von Neuem ihres Profils zu vergewissern, in seiner Plausibilisierung geschult zu werden und so die Relevanz des Glaubens in einer pluralistischen Gesellschaft deutlich machen zu können. Dafür, dass die EZW diesen Dienst tut, danke ich herzlich und sage herzliche Glückwünsche zum 100. Geburtstag!
Heinrich Bedford-Strohm, 01.11.2021
Anmerkungen
1 Vgl. KD I/2, 365; KD II/2, 577ff; KD III/3, 467; KD IV/3, 1002.
2 Vgl. Friedrich Schleiermacher: Kurze Darstellung des theologischen Studiums, §§ 43-53, und Der christliche Glaube, §§ 11-14.
3 Hier wäre etwa Wolfhart Pannenbergs Versuch zu nennen, den christlichen Glauben im Rahmen einer Theologie der Religionen zu plausibilisieren.
4 H. Richard Niebuhr: The Meaning of Revelation, New York 1941.
5 Vgl. ebd., 47.
6 Vgl. ebd., 44.
7 Ebd., 61.
8 Vgl. ebd., 63.
9 Vgl. Michael Welker: Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 34.
10 Ebd., 33.
11 Siehe insbesondere John Rawls: Der Gedanke eines übergreifenden Konsenses, in: ders.: Die Idee des politischen Liberalismus. Aufsätze 1978 – 1989, Frankfurt a. M. 1992, 293 – 332.