Kai Funkschmidt

Naturspiritualität / Ökologismus

In jüngerer Zeit wird immer häufiger kritisch darauf hingewiesen, dass soziale Bewegungen zum Schutz der Umwelt teilweise religiöse Züge annähmen. In besonderem Maße betrifft das die Klimabewegung („Klimareligion“), die gelegentlich mit einer Endzeitsekte verglichen wird (Mohr). Entsprechende Kritik gibt es schon lange (vgl. Eilingsfeld). Sie bezieht sich auf irrationale Aspekte der betreffenden Bewegungen bzw. Maßnahmen, auf die moralisch-weltanschauliche Aufladung der Debatten und v. a. auf besonders radikale und apokalyptisch argumentierende Formen, die auch sprachlich in die Nähe eines religiösen Fundamentalismus gerückt werden („Ökologismus“, „Klimatismus“; vgl. aber englisch „environmentalism“ im Gegensatz zum „ecologism“ als extremer Unterform). Dabei geht es v. a. um die Markierung bestimmter ökologiebezogener Aktionsformen, Lebensweisen und Theoriebildungen, die weniger als politisch denn als parareligiös und wegen ihres Radikalismus als gefährlich wahrgenommen werden.

Neben solchen Außenbeschreibungen stehen seit langem Stimmen, die das eigene Umweltengagement aus der Innensicht in den Zusammenhang religiöser Vollzüge und Haltungen stellen. Hier steht hinter der eigenen Lebensweise, den Überzeugungen und dem Engagement eine bestimmte transzendenzbezogene Vorstellung von der Natur selbst („Naturspiritualität“, „Naturfrömmigkeit“). Diese weltanschaulich-religiösen Elemente in einem vordergründig säkularen, politischen Anliegen schließen sich an eine lange Tradition des Nachdenkens über das Verhältnis von Gott und Welt bzw. Gott und Natur an. Hierbei geht es auch um die Frage menschlicher Eigenmacht bzw. Verantwortung gegenüber der „Schöpfung“ sowie um den vergangenen Sündenfall (das verlorene Paradies) und die künftige Verheißung (Utopie einer ökologisch geheilten Welt).

Geschichte

Die naheliegende Assoziation des „Pantheismus“ ist insofern angemessen, als dieser – von der Religionswissenschaft wegen seiner Unschärfe kaum gebrauchte – Begriff erst zur Zeit der Aufklärung und nur in ihrem Kontext zur Bezeichnung eines neuen philosophischen Welt- und Naturverhältnisses auftaucht, das ältere, christliche Gottesbilder ebenso wie den aufklärerischen Absolutheitsanspruch der Vernunft infrage stellt. Die Aufklärung hatte zunächst ungeheuren Optimismus ausgelöst. Man konnte den Fall des Apfels und die Bewegung der Planeten berechnen und zeigen, dass beide von derselben Kraft bewegt werden. „Weißt du die Zeit, wann die Gemsen gebären, oder hast du aufgemerkt, wann die Hirschkühe kreißen?“, fragt Gott Hiob spöttisch (Hi 39,1). Moderne Menschen konnten es in Brehms Tierleben nachschlagen. Der englische Dichter Alexander Pope (1688 – 1744) hat dieses neue Naturbewusstsein mit Isaac Newton als dem Lichtbringer besungen: „Nature and Nature’s laws lay hid in night: / God said, Let Newton be! and all was light.“ Doch als die Physik eine Philosophie gebar, zerstörte sie ein Weltbild und reduzierte den Schöpfer zum Uhrmacher. Die Aufklärung führte zum Ultra-Rationalismus und der naturwissenschaftliche Fortschritt zur Industrialisierung. Hier liegen die Ursprünge der gegenwärtigen technischen Mittel, die neue Formen und Ausmaße menschlicher Umweltzerstörung erst ermöglichten.

Die dahinterstehenden Philosophien waren bald umstritten. Die pantheistische Philosophie und die Romantik entstanden als Gegenbewegungen und Reaktion auf Aufklärung und Industrialisierung. Goethes Feier der „Allmutter Natur“ (Goethe, Toblersches Fragment 1783) wurde als Evangelium des Pantheismus wahrgenommen. Er selbst erklärte, er suche Gott „in herbis et lapidibus“ (Brief an Jacobi, 9.6.1785). Gleichzeitig wird die verfasste Religion zunehmend zu einer Sache des inneren Erlebens, was dem neuen gefühlsbasierten Zugang zur Natur ähnelte. Exemplarisch für diese Naturfrömmigkeit ist Eichendorffs Lyrik: „Wem Gott will rechte Gunst erweisen, / Den schickt er in die weite Welt, / Dem will er seine Wunder weisen / In Berg und Wald und Strom und Feld.“ Gotteserfahrung findet sich in Berg, Wald und Lerchen, nicht in Städten, Brücken und Kirchen. Wenn er fragt: „Wer hat dich, du schöner Wald, aufgebaut so hoch da droben?“, wird der Wald zum Tempel, hinter dem sein Erbauer völlig zurücktritt.

In Amerika etabliert Ralph Waldo Emerson (1803 – 1882) zur gleichen Zeit in seinem Buch „Nature“ (1833) als erster die Wildnis als Sehnsuchtsort und Projektionsfläche für das richtige Leben. Sie ist ihm „source of wisdom, refuge from society, and opening to reality“ (zit. Dunlap, 12). Die Vorstellung der Wildnis, der von Menschen unberührten, „guten“ Natur wurde schrittweise zum unbestrittenen Leitbild der Ökologiebewegung und der Naturspiritualität.

Gegenwart

In einer Sammlung von Interviews von Anne-Maria Apelt berichten viele Menschen von Gottes- und Wundererfahrungen in der Natur, die spontan oder im Zusammenhang von „naturritueller Arbeit“ (Apelt, 137), z. B. der sogenannten „Visionssuche“, auftreten. Für die meisten sind Spiritualität und Natur untrennbar verbunden, vielen ist die von Lebensenergie durchwehte Natur ausdrücklich nicht mehr von Gott unterscheidbar. Die Autorin selbst berichtet: „[Ich habe] zutiefst erfahren, dass es die heilige Lebenskraft ist, die Zeichen in der Natur für mich setzt … Ich habe mich verbunden gefühlt mit allen anderen Lebewesen.“ Explizit spricht sie in diesem Zusammenhang von einem „Wunder“.

Gegenüber der Frühphase der Naturromantik tritt heute etwas Neues hinzu: die Angst vor der Bedrohung der Natur. Dieser apokalyptische Zug begann in den USA. Hier hatte die Meeresbiologin Rachel Carson (1907 – 1964) mit „Silent Spring“ (1962, dt. 1963) die Öffentlichkeit aufgerüttelt (sie popularisierte u. a. den Begriff „environment“). Sie beschrieb darin nicht nur die Umweltzerstörung, sondern plädierte jenseits technischer Problemlösungen für ein neues Selbstverständnis des Menschen als Teil der Natur. Gegner wie Unterstützer Carsons erkannten sofort, dass hier zwei Weltanschauungen miteinander rangen. Der rationalistische Mensch, der die Natur „erobert und gestaltet“ versus den Menschen, der sich als „einfaches Mitglied der Lebensgemeinschaft“ in sie einfügt.

In die daraufhin aufknospende Umweltbewegung flossen zwei widerstreitende Gedanken ein. Einerseits verstand sie sich als aufgeklärt-wissenschaftlich („Follow the science“ heißt es bis heute). Andererseits glaubte man, dass aufgeklärte Vernunft und moderne Wissenschaft überhaupt erst zwei Dinge in die Welt gebracht hatten: (a) die Fähigkeit zur Zerstörung und (b) die Haltung, die diese Zerstörung umsetzte. 1967 konkretisierte der Historiker Lynn White (1907 – 1987) den Schuldvorwurf. Die Wurzeln der Umweltzerstörung sah er im abendländischen Christentum. Dieses habe durch die Trennung von Geist und Materie die Grundlagen der modernen Naturwahrnehmung gelegt. Diese These prägte jahrzehntelang die Umweltdebatte. Kirchliches Umweltengagement findet immer vor dem Hintergrund dieses antichristlichen Affekts an der Quelle der Bewegung statt. Als Gegenentwurf empfahl White die „östlichen Religionen“, welche Respekt für Mensch und Welt lehrten. Andere blickten mehr zu den sogenannten Naturvölkern, zu Schamanen, Indianern und Südseeinsulanern, zu Naturheilkunde und natürlicher Landwirtschaft. Dabei handelte es sich allerdings um Projektionen des „edlen Wilden“ (Rousseau). Es gibt zahlreiche Beispiele von Naturvölkern, die ihre eigenen ökologischen Grundlagen sehenden Auges vernichteten (vgl. Diamond). Dass sie es zwar nicht weniger gründlich, aber in kleinerem Maßstab taten als westliche Kulturen, lag eher an begrenzten technischen Mitteln als an ganzheitlicher Philosophie. Auch die Realität „östlicher“ Gesellschaften stützt Whites These nicht. Aber obgleich sie ein Kind des abendländischen Denkens im Industriezeitalter, nicht des Animismus von „Naturvölkern“ ist, liegt in diesen exotischen Fiktionen ein Ursprung der Naturspiritualität und damit der Religionsförmigkeit der modernen Ökologiebewegung.

Lehren und Ideen

Am 6. März 1972 erschien „Die Grenzen des Wachstums“ (Club of Rome). Das Buch hob ökologische Probleme von der lokalen auf die globale Ebene – nicht mehr nur der Fluss vor meiner Tür, sondern die Zukunft der Welt schien in Gefahr. Und verantwortlich war der Mensch – durch sein Verhalten, vor allem aber durch seine Einstellung, ja durch sein pures Vorhandensein (Paul Ehrlich: „Die Bevölkerungsbombe“, 1968). In diese politischen Reformanstöße traten die älteren naturspirituellen Ideen ein – es entstanden die Grundzüge der modernen Umweltbewegung(en).

Heute ist die Personifizierung von „Mutter Natur“ Mainstream, sodass wir kaum noch merken, wie selbstverständlich die Natur als personale Handlungsmacht auftritt. Was ordnen und ängstigen, segnen und strafen betrifft, hat sie Gott längst den Rang abgelaufen. Die Natur „schlägt zurück“ (Natur, Februar 2015), die Natur „sieht vor“, dass das Stillen funktioniert (helios-gesundheit, 10.5.2021), die Natur „sorgt dafür“, dass Eltern ihr Kind verstehen (kindergesundheit-info.de), die Natur „macht es vor“: Schwimmanzüge imitieren Haifischhaut (Tagblatt, 23.1.2013). Die Natur hat eigentlich alles wohlgeordnet. Aber während die Rede von einem eifernden, Seuchen schickenden Gott heute Anathema wäre, weiß man selbstverständlich: „Corona ist die Rache der Natur“ (Süddeutsche Zeitung, 5.12.2020), der Klimawandel ohnehin. Daraus leiten sich alternativlose Gebote ab („Die letzte Generation, die die Welt noch retten kann“).

Auch die Verheißungen der Natur für ein gelingendes Leben erscheinen plausibler und unmittelbarer als traditionell-religiöse Pendants. Der Begriff „natürlich“ ist zu einem Synonym für „gut“ geworden. „Natürlich“ ist das richtige Leben und Korrektiv für alles, was in unserer Zivilisation „krank“ ist. „Natur“ ist der „Metamythos“ unseres Weltverständnisses (Levinovitz, 13). Nahrung, Erziehungsmethoden, Heilverfahren, Medikamente, Kosmetika u. v. a. m. werden mit dem Attribut „natürlich“ beworben. Natürlich heißt „gesund“, „nachhaltig“, „rein“, „authentisch“ usw. Wie leicht das zur Ideologie wird, zeigt das Beispiel der „natürlichen Geburt“. Heute wird auf Schwangere in Geburtsvorbereitungskursen oft ein Erwartungsdruck für eine „natürliche Geburt“ aufgebaut. Sie soll „spontan, sanft und schmerzfrei“ sein, bewusst, das heißt v. a. ohne Schmerzmittel erlebt werden. Misslingt das Vorhaben, steht am Ende das Gefühl des Scheiterns. Natur gilt als inhärent freundlich. Die Wirklichkeit sieht anders aus: Natürliche Geburt heißt bei jenen „naturnahen“ Völkern, die keine Wahl haben, Todesraten für Mütter und Kinder von bis zu 15 %.

Folgende konstitutiven Elemente gehören zur Naturspiritualität: a) Christlicher Glaube und Theologie sind (mit)verantwortlich für die ökologische Krise. b) Apokalyptische Angst: Wir sind von Katastrophen bedroht, die sofortiges Handeln verlangen. c) Die Katastrophe abzuwenden, ist nicht primär eine Aufgabe von Verhaltensänderungen und Umweltethik, schon gar nicht von pragmatischen, technischen Lösungen, sondern eine Frage des neuen „ganzheitlichen“ Selbstverständnisses der Menschheit und des Einzelnen mitsamt dazugehöriger spiritueller Praxis. d) Der Dualismus von Geist und Materie, Gott und Welt ist abzulegen. e) Das pessimistische Menschenbild der Bibel ist zu überwinden. Der Mensch steht unter dem großen Ja, der Mensch ist gut. Nicht die Abwendung von Gott ist die Ur-Sünde, sondern das fehlende Bewusstsein der eigenen wesenhaften Einheit und Verbundenheit mit der Welt und der Natur.

Ökologismus

Die spirituelle Aufladung des Naturerlebnisses wurde in den sozialen Umbrüchen der 1960er Jahre zum Massenphänomen. Dass 50 Jahre später die „Naturspiritualität im Begriff [ist], zu einer neuen Weltreligion zu werden“ (Henke), liegt wesentlich an der ökologischen Krise und der Technisierung der Lebenswelt, die damals ins Bewusstsein rückten. Bei der Bildung politischer Umweltbewegungen verband sich die esoterische Naturspiritualität mit Untergangsängsten und Gefühlen der Sinn- und Erfahrungsleere. Sie trat als esoterisch grundierter Flügel, der auf ein neues Selbstverständnis des Menschen zielte, in diese Bewegungen ein. Er blieb danach (bis heute) erhalten, z. B. bei Gründung der Partei „Die Grünen“ 1980. Für die Bundestagsabgeordnete Karin Zeitler war Politik nur der „gesellschaftliche Aspekt einer spirituellen Weltanschauung“, und ähnlich predigte Petra Kelly, sie seien „nicht nur eine politische, sondern eine politisch-spirituelle Bewegung“ (Der Spiegel, 3.4.1988, https://tinyurl.com/mr423n5j). Auch die Anthroposophie übte erheblichen Einfluss in diesem Sinne aus (vgl. Simon, McKanan).

Der drohende Untergang wurde anschließend jahrzehntelang in immer neuen Bedrohungsszenarien konkretisiert: Atomkrieg, Kernkraft, Waldsterben, Insektensterben, Klima. Zwischen Richard Nixons Warnung 1970: „It is literally now or never!“ und Boris Johnsons Ruf: „It is one minute to midnight” (Weltklimagipfel Glasgow 2021) liegt eine Fülle offizieller „Last-Minute“-Warnungen, deren Zeithorizonte zum Teil schon Jahre hinter uns liegen. Angst wurde in Deutschland und hier besonders unter Grünen-Anhängern in den 1980er Jahren zur dominierenden Emotion (Biess, Vondung).

In der Folge lud sich das Umweltengagement selbst spirituell und sinnstiftend auf, sodass Kritiker seit langem darauf hinweisen, es handele sich hierbei um ein parareligiöses Phänomen (Eilingsfeldt, Möller, Joffe, Shellenberger, Rønnow).

Gemeint sind dabei konkrete Merkmale: die Warnung vor dem Untergang; der Glaube an eine vergangene paradiesische Zeit; das Ausmachen von Schuldigen; die Aussicht auf Rettung durch Verzicht (Askese bis hin zur Kinderlosigkeit); das Auftreten charismatischer Führergestalten (Greta Thunberg wurde von mehreren einflussreichen kirchlichen Persönlichkeiten, u. a. von Erzbischof Heiner Koch und von Margot Käßmann, als Prophetin bezeichnet oder mit Jesus verglichen); die Existenz radikaler, kompromissloser Flügel, die teilweise als Vorbild dienen; die moralische Aufladung, welche die Problemlösung von einer Diskussion über „richtig(er) und falsch(er)“ zu einem Kampf „gut gegen böse“ verwandelt.

So erscheint Widerspruch nicht mehr als Teil der gemeinsamen Wahrheitsfindung, sondern mutiert zur verwerflich-böswilligen Verweigerung der offensichtlichen Wahrheit („Klimaleugner“; zur schuldhaft-vorsätzlichen Wahrheitsleugnung des Gottesleugners, vulgo Ketzers, in der Kirchengeschichte vgl. Frenschkowski). Wahrheitsquelle ist dabei heute „die“ Wissenschaft, nicht mehr die biblische Offenbarung (beide sind in Wirklichkeit vielstimmig).

Diese Kritik wird häufig auch von engagierten Umweltschützern vorgebracht, die keineswegs für ein Laissez-faire plädieren, sondern mehr Nüchternheit fordern, weil sie die teilweise hysterische Übersteigerung der Debatte für kontraproduktiv halten (Nordhaus / Shellenberger).

Einschätzung

Naturspiritualität leitet sich subjektiv oft von der Religiosität der „Naturvölker“ ab. Religionswissenschaftler sehen eher eine genuin westliche Denkungsart, die nur im Kontext der Aufklärungsphilosophie verstanden werden könne. Tatsächlich idealisieren die meisten Anhänger der Naturspiritualität mit ihren Bezügen auf Indianer, Eskimos und Aborigines nicht nur deren traditionelle Lebensform, sondern projizieren typisch westliche Wünsche auf exotische Sehnsuchtsorte („Rede des Häuptlings Seattle“).

Der – vor allem unter Städtern verbreiteten – Naturspiritualität liegt zudem eine idealisierte, realitätsferne Vorstellung der „Natur“ und eine regressive Sehnsucht nach „einer guten alten Zeit“ zugrunde. Diese wird meist vor der industriellen Revolution gesehen (wie z. B. im Ziel eines atmosphärischen CO2-Gehalts „wie vor der Industrialisierung“). Das setzt ein statisches Verständnis von Welt und Natur „im natürlichen Gleichgewicht“ voraus. In Wirklichkeit sind alle wichtigen planetarischen Parameter ständig im Fluss und schwanken stark. Die Angst vor Veränderungen führt zur Vorstellung, der Mensch könne globale Prozesse steuern, sozusagen eine Art Wiederherstellung der Schöpfung bewerkstelligen. Hier sind Hybris, Überforderung und letztlich Verzweiflung vorprogrammiert.

Durch die gefühlsbetonte spirituelle Anreicherung des eigenen Naturbezuges wurde die Umweltbewegung teilweise gegen rationale Güter- und Risikoabwägungen sowie gegen technische, kompromissbehaftete, also lebenspraktische Lösungen anstehender Probleme resistent. In der Folge wurde sie anfällig dafür, selbst religionsartige Züge mit Absolutheitsansprüchen und totalen Zielen (CO2-Neutralität) anzunehmen.

Durch die damit einhergehende Moralisierung wird es immer schwieriger, die ökologischen Herausforderungen sachlich zu besprechen. Es gilt bereits als anstößig, die Problemstellungen anders als üblich zu definieren und das Vorhandensein alternativer Lösungen zu behaupten. Viele Fragen werden binär kodiert, es geht dann nicht mehr um präzise oder unpräzise bekannte Fakten, nicht mehr um Prognoseungenauigkeiten, um bessere versus schlechtere Lösungen und um Güterabwägungen, sondern um gute und böse Einstellungen.

Die dem Ökologismus innewohnenden handlungsleitenden Utopien und Absolutheiten sind als Politikstil gefährlich und demokratiegefährdend. Jeder Versuch, einen Idealzustand in der realen Welt zu errichten (bzw. wiederherzustellen), ist anfällig für Totalitarismus, wenn sich der real existierende Mensch in seinem So-Sein nicht ins Ideal fügt. Zum einen ist kein Ideal je allgemein anerkannt. Zum anderen bewirkt die Regel vom abnehmenden Grenznutzen, dass mit fortschreitender Annäherung immer drastischere Maßnahmen nötig sind, um auch noch den letzten Rest des Weges zu bewältigen. Anders als klassische Religiosität ist die weltliche Utopie nie an einen eschatologischen Vorbehalt gebunden, der sie menschlicher Umsetzung entzieht. Sie wird dabei von einem Richtungshinweis zum totalen Gebot. Sie neigt zur Intoleranz, v. a. in Verbindung mit Angst.

Die Kirche hat sich seit langem mit der Umweltbewegung verbunden. Ausgangspunkt war dabei meist das Gericht, nicht das Evangelium: die Angst vor dem Untergang. „In fact, it is the threats to life, rather than the celebration of it, that stimulated the ecumenical theology and culture of life initiative in the first place“ (Rasmussen, 8) Sie hat häufig die Botschaft der Angst verstärkt. Die Distanz zwischen Volksfrömmigkeit und Theologie ist hier besonders groß. Naturfrömmigkeit ist demokratisch und basisorientiert, wird unabhängig von pastoraler Vermittlung ausgeübt. Daran ändert kirchliches Umweltengagement nichts. Der Unterschied: Aus evangelischer Perspektive führt der Zugang zum Schöpfer über einen Umweg. Nicht unmittelbar aus der Welt bzw. Natur ist er ablesbar, sondern nur durch Christus hindurch (Kol 1,15-20). Nur weil der Blick auf die Schöpfung durch ein Prisma außerhalb der Welt gelenkt wird, hat er weltverändernde Kraft, durchbricht er die Schranken der Immanenz. Diese Botschaft impliziert dann die bereits erfolgte Rettung der Welt – und die Befreiung von der Angst zum Handeln im Bewusstsein, dass es nicht mehr ums Letzte geht. Deswegen sind Drohungen mit säkularen Apokalypseszenarien wie auch Verheißungen und Gebote zur Weltrettung nicht nur wissenschaftlich, sondern auch theologisch unangebracht. Alle unsere irdischen Anstrengungen stehen unter dem Vorbehalt der Vorläufigkeit, der Kompromissbedürftigkeit und der nie endenden Unvollkommenheit. Darum ist immer daran zu erinnern, dass der Mensch – ungeachtet der Verantwortung und Verpflichtung gegenüber unseren Mitmenschen und unserer Umwelt – die Welt nicht retten kann und nicht retten muss, denn sie ist es schon.


Kai Funkschmidt, 13.05.2022

 

Literatur

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