Friedmann Eißler

Nein zu jeder Gewalt!

Welche Koranauslegung gilt?

Die Mahnwache am Brandenburger Tor in Berlin am 13. Januar 2015 aus Anlass der Anschläge von Paris war ein starkes Zeichen der Solidarität mit den Opfern. Die vom Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und der Türkischen Gemeinde zu Berlin organisierte Veranstaltung unter dem Motto „Zusammenstehen – Gesicht zeigen“ richtete sich gegen islamistischen Terror. Zugleich haben die Teilnehmer ein weithin sichtbares Zeichen gesetzt für Toleranz, Meinungsfreiheit und ein friedliches Zusammenleben der Religionen – in den Worten des Berliner Bischofs Markus Dröge: „Juden, Christen und Muslime sagen gemeinsam Nein zu jeder Gewalt im Namen des Glaubens an Gott.“

Eröffnet wurde die Kundgebung mit einer Koranrezitation. Abdelhak Elkouani vom Fiqh-Rat des marokkanisch dominierten Deutsch-Islamischen Vereinsverbands Rhein-Main (Mitglied im ZMD) rezitierte Sure 5,32, was auch in den Zeitungen so wiedergegeben wurde: „Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne dass es einen Mord begangen oder auf der Erde Unheil gestiftet hat, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält.“

Häufig wird dieser Koranvers herangezogen, um zu belegen, dass der Islam gegen Gewalt sei und gar ein generelles Tötungsverbot kenne – daher könnten Verbrechen wie die in Paris nichts mit „dem Islam“ zu tun haben. Immerhin wurde diesmal nicht – wie sonst häufig – der einschränkende Halbsatz weggelassen, der den Hintergrund der Blutrache und die Bedingung für eine „rechtmäßige“ Tötung deutlich macht (vgl. Sure 18,74). Allerdings hat der Vers auch einen Anfang und eine Fortsetzung, die praktisch nie zitiert werden (obwohl sie inzwischen auch vielen Nichtmuslimen bekannt sind).

Es ist daher erneut daran zu erinnern, dass der Vers so beginnt: „Aus diesem Grunde haben wir (d. h. Gott) den Kindern Israels vorgeschrieben: ...“ – nachzulesen in der Mischna Sanhedrin IV,5 – und dass die Fortsetzung lautet: „Unsere Gesandten sind bereits mit klaren Beweisen zu ihnen (d. h. den Juden) gekommen. Danach aber sind viele von ihnen wahrlich maßlos ... geblieben.“ Vor allem aber wird direkt anschließend in Vers 33 sehr plastisch der Lohn derjenigen aufgelistet, „die Krieg führen gegen Allah und seinen Gesandten und sich bemühen, auf der Erde Unheil zu stiften“, nämlich: „dass sie allesamt getötet oder gekreuzigt werden, oder dass ihnen die Hände und Füße wechselseitig abgehackt werden, oder dass sie aus dem Land verbannt werden.“

Es ist also nach dem Korantext klar: „... tötet nicht die Seele, die Allah verboten hat zu töten, außer aus einem rechtmäßigen Grund!“ (Sure 6,151, vgl. 17,33; 25,68; 7,33). Der rechtmäßige Grund nach dem Koran lautet an dieser Stelle Kriegführen (muhāraba) gegen Gott und seinen Propheten sowie „Unheilstiften“ (fasād/ifsād). Unheilstiften ist keine Kleinigkeit, sondern die vorsätzliche Störung der von Gott gestifteten und bleibend gültigen Ordnung durch gottlose Übeltäter (Sure 2,6-15; z. B. der Juden, Sure 5,64). Das Unheil und den Aufruhr (fitna) der Ungläubigen muss man bekämpfen (Sure 2,190-194; 8,73).

Ein besonders großes Unheil ist der Abfall vom Glauben. Dazu gehört auch die Schmähung eines Propheten. Diese Art von Beleidigung wird in Schariawerken im Kapitel „Apostasie“ verhandelt. Wer den Namen eines Propheten verächtlich macht oder einem Propheten einen Mangel vorwirft, ist ein Abtrünniger. Die Rechtsschulen des Islam sind sich einig, dass der Apostat mit dem Tod zu bestrafen ist.1 „Ebenso verhält es sich mit dem, der einen Propheten ... beleidigt. Er wird ohne Aufforderung zur Buße getötet.“ – „Wer den Gesandten Gottes (d. i. Muhammad) schmäht oder beleidigt, oder einen anderen der Gesandten, die im Koran vorkommen, oder wer den Gesandten Gottes in seiner Einladung (zum Islam) für einen Lügner erklärt, wird in Vollzug der Strafe für die Übertretung der von Gott gesetzten Grenze (hadd) getötet.“2

Nein zu jeder Gewalt? „Gewalt gegen Unschuldige ist durch nichts zu rechtfertigen“, erklären die Islamvertreter. Und gegen „Schuldige“ im Sinne der Tradition? Angesichts der Lehre von der unabänderlichen und universalen Gültigkeit des Korans und der Sunna stellt sich die dringliche Frage, wie die Muslime in den Moscheegemeinden und allen voran die Vertreter der Islamverbände diese Zusammenhänge verstehen und interpretieren.

Der Zentralratsvorsitzende Aiman Mazyek fordert, „differenzierter zu diskutieren“, und beklagt „eine fehlende Trennschärfe zwischen Religion und Extremismus“.3 Da kann man ihm nur beipflichten, gerade auch im Blick auf seine eigenen Reihen, in denen sich etliche der islamistischen Muslimbruderschaft nahestehende Vereine sowie der türkische ATİB-Verband befinden, eine Abspaltung der Auslandsorganisation der rechtsextremen Grauen Wölfe. Vieles von dem, was sie vertreten, passt nicht zu dem, was der Vorsitzende nicht müde wird in die Kameras zu verkünden. Kein Wunder, dass auch Muslime verunsichert sind. Was gilt denn nun – das Fernsehen oder der Koran?

In Interviews wie jüngst in der Herder Korrespondenz wischt Mazyek die Gewalt im Namen des Islam als „Missbrauch von Religion“ beiseite. Man könne sich nur von etwas distanzieren, „wo vorher eine gewisse Nähe war“. Er erklärt: „Koran und die Aussprüche des Propheten sind klare Bekenntnisse für Frieden, Gerechtigkeit und Versöhnung zwischen den Völkern und Religionen.“4 Nachgerade beunruhigen muss seine Feststellung: „Die Fragen von Krieg und Frieden sind in der über 1000 Jahre alten Auslegungspraxis eindeutig geklärt worden.“ Wenn dem so ist, besteht in Sachen Koranverständnis kein Klärungsbedarf. Nur „zwei, drei Verse“ seien in aller Munde und würden falsch interpretiert. Diese ausdrückliche Ablehnung der Notwendigkeit, innerislamisch die Koranauslegung intensiver zu diskutieren, kann im Klartext nur bedeuten, dass es aus Sicht des ZMD an den Vorgaben der islamischen Tradition, zuerst Koran und Sunna, nichts zu deuteln gibt. Eine (den Namen verdienende) historische und hermeneutische Auslegung gibt es nicht, und wo es sie ansatzweise gibt, wird der warnende Zeigefinger des Schariaislam erhoben. So etwa Richtung Münster, wo Mouhanad Khorchide den Anspruch der Scharia abweichend zu interpretieren versucht. Khorchide war jetzt neben Bülent Ucar (Osnabrück) einer der wenigen, die mit klaren Worten den Zusammenhang von Islam und Islamismus anerkannt und eine Auslegung des Korans „im historischen Kontext“ gefordert haben.

Dass das geht und in der Geschichte des Islam genügend Anknüpfungspunkte für neue Wege in der Koranauslegung vorhanden sind, zeigen in ganz unterschiedlicher Weise Intellektuelle und Universitätslehrer, die „den Islam neu denken“5.

Die allermeisten Musliminnen und Muslime leben friedlich und ohne Gesetzeskonflikte in unserer Mitte, viele ohne großes Interesse an Einzelheiten der Scharia. Der ZMD vertritt in 24 Mitgliedsvereinen höchstens 0,5 Prozent der Muslime in Deutschland. Doch eine Instanz, die verhindern kann, dass sich Einzelne die Durchsetzung des „von Gott gesetzten Rechtes“ anmaßen, gibt es nicht. Wer sich konsequent der weit verbreiteten Lehre verschreibt, das Vorbild des Propheten Muhammad und die Weisungen des Korans seien unmittelbar verpflichtend (Sure 33,21; 62,2; 72,23), hat gegen Gewaltgebrauch praktisch nichts in der Hand. Solange für Muslime auch nur die Möglichkeit besteht, davon auszugehen, dass Gott zwar selbstverständlich Gewalt und Terror verbiete (siehe die Slogans), das Schicksal unzähliger Terroropfer jedoch die (gerechte) Folge ihres unheilstiftenden Tuns sei – solange wird die Gesellschaft berechtigtes Misstrauen hegen und weiterhin hilflos Distanzierungsbekundungen fordern.

Lamya Kaddor, Vorsitzende des Liberal-Islamischen Bundes, hat es als Unverschämtheit bezeichnet, von Muslimen Distanzierung zu fordern. Richtig ist, dass wir mehr als Distanzierung brauchen: Wir brauchen Erklärungen, und zwar gemeindeübergreifende und von den islamischen Verbänden verbindlich getragene Erklärungen, dass die aus Koran und Sunna abgeleiteten Regelungen, die mit der freiheitlich-demokratischen Werteordnung nicht vereinbar sind, hier und heute keine Geltung haben können. Das beinhaltet freilich nicht mehr und nicht weniger, als neue und zeitgemäße Wege der Koranauslegung zu beschreiten.

Die zu erwartenden Reflexe sind klar: Es gibt kein islamisches „Lehramt“, nicht „die“ Auslegung von Koranversen, es droht die Essenzialismusgefahr usw. Das ist alles richtig, insbesondere können Nichtmuslime schlecht Ratschläge zur Koraninterpretation geben und dürfen gerade Nichtmuslime nicht durch einseitige und verzerrte „Islaminterpretationen“ dazu beitragen, dass Muslime auf radikale und gewaltlegitimierende Lesarten ihrer Religion festgelegt werden. Aber eben: Die Deutungshoheit liegt bei den Muslimen. Selbstverständlich sind die Zeichen und die klaren Worte des Miteinanders und der Solidarität gut und wichtig. Mit großer Zustimmung nehmen wir zur Kenntnis, dass die Absage an jede Gewalt mit dem Koran begründet worden ist. Diese Koranauslegung, die sich von der erdrückenden Mehrheit der Traditionstexte abhebt (und abheben muss), kann allerdings nur dann verständlich und nachhaltig wirksam werden, wenn sie in intensiver Kooperation mit allen wichtigen Akteuren – zu denken ist an die zivilgesellschaftlichen Partner und allen voran die islamtheologischen Zentren an den Universitäten – aktiv diskutiert und in den Moscheegemeinden vor Ort in ihren Konsequenzen zum Thema gemacht wird.


Friedmann Eißler


Anmerkungen

1 Abd ar-Rahman al-Dschasiri, Kitāb al-fiqh alā l-madhāhib al-arba’a, Bd. 5, Beirut 1420/1999, 372ff.
2 Ebd., 377f. Satire ist unter diesen Vorzeichen eine schwierige Angelegenheit, vgl. auch Sure 9,65f.
3 Siehe das Interview in Herder Korrespondenz 69/1 (2015), 15-19, hier: 15.
4 Ebd., 16f; die menschenverachtenden Taten stünden „mit keiner Religion in irgendeinem Kontext“ (www.islam.de/24054.php).
5 So der Titel des Buches von Katajun Amirpur, Den Islam neu denken. Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, München 2013. Vgl. dazu auch z. B. Katajun Amirpur/Ludwig Ammann (Hg.), Der Islam am Wendepunkt. Liberale und konservative Reformer einer Weltreligion, Freiburg i. Br. 2006; Rachid Benzine, Islam und Moderne. Die neuen Denker, Verlag der Weltreligionen, Berlin 2012; sowie die Buchreihe der Georges-Anawati-Stiftung „Religion und Gesellschaft. Modernes Denken in der islamischen Welt“.