Neohinduistisches Ritual in der Gedenkstätte Buchenwald
Die neohinduistische Gemeinschaft Bhakti Marga hat am 17. März 2018 ein „OM Chanting“ in der Gedenkstätte Buchenwald durchgeführt. Begleitet wurde die Veranstaltung von zahlreichen kritischen Kommentaren und dem Aufruf der sozialistischen Jugendorganisation „Die Falken“ zum öffentlichen Protest. Doch woraus resultiert diese starke Kritik gegen das spirituelle Ritual? Handelt es sich dabei um einen generellen Protest gegen religiöse und spirituelle Zeremonien in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald, oder ist der Protest auf die spezifische Veranstaltung selbst zurückzuführen?
Gegen die erste Annahme spricht die Stellungnahme des Pressesprechers der Gedenkstätte, Rikola-Gunnar Lüttgenau. Dieser führte gegenüber dem Deutschlandfunk aus, dass auf dem Ettersberg häufiger christliche Gottesdienste und buddhistische Mediationen durchgeführt werden.1 So wurde beispielsweise am 18. Juli 2018 der Ermordung des Pfarrers Paul Schneider und des Priesters Otto Neururer durch einen ökumenischen Gottesdienst gedacht.2 Lüttgenau beschreibt eine enge Verbindung zwischen Religionen und der Funktion von Gedenkstätten: Vergegenwärtige man sich die grausamen Verbrechen des größten Konzentrationslagers auf deutschem Boden, werfe einen diese Erkenntnis auf den Glauben zurück. Bislang haben religiöse Zeremonien auch keine vergleichbaren kritischen Reaktionen in der Öffentlichkeit hervorgerufen. Es liegt deshalb nahe, die Ursache für die aktuellen Proteste in dem „OM Chanting“-Ritual selbst zu suchen.
Das „OM Chanting“ ist eine Gruppenpraktik, bei der Meditierende im Kreis sitzen und den „universellen Klang der Schöpfung“, das „OM“, ausrufen.3 Auf diese Weise soll negative in positive Energie transformiert und die lokale Umgebung gereinigt werden. Sabine Lupus, die Vorsitzende des Zentrums „The White Horse“, das sich auf die Lehren des Gründers der Bhakti-Marga-Gemeinschaft, Vishwananda, bezieht, nennt als Motivation für das „OM Chanting“ in ehemaligen Konzentrationslagern die Reinigung des Ortes. Dieses Reinigungsritual wird als notwendig betrachtet, da die physischen Verbrechen, die an dem Ort begangen wurden, auf den ätherischen und astralen Ebenen noch immer gegenwärtig seien. Mit dem „OM Chanting“ könnten auch diese Ebenen gereinigt und der Ort geheilt werden. Das Ritual wird in verschiedenen Konzentrationslagern in Deutschland durchgeführt und auch in anderen Ländern eingesetzt.
Vishwananda wurde 1978 auf Mauritius als Visham Komalram geboren. Über seine Ausbildung und seine spirituelle Erleuchtung gibt es zahlreiche Legenden, er scheint der Expertin für die Bhakti-Marga-Bewegung Heike Beck zufolge jedoch keine klassische „Schülerzeit unter einem lebenden Meister“4 durchlaufen zu haben. Dennoch betrachten ihn seine Anhänger als „erleuchteten Meister“, der in einer „ewigen Einheit mit dem Göttlichen lebt“.5 Seine zentrale Botschaft besteht in liebender Hingabe. Bhakti Marga wird von der Gemeinschaft als „Weg der Hingabe“ beschrieben, als „eine Reise vom Verstand zum Herzen, wo wir wahrer Liebe und unserem göttlichen Selbst begegnen können“.6 Die Liebe und die Gnade des Meisters durchziehen nach der Selbstbeschreibung der Bewegung jeden Aspekt der Lehre von Bhakti Marga sowie ihre Werkzeuge, Aktivitäten und ihre Kommunikationen.
Dabei bezieht sich Bhakti Marga nicht nur auf hinduistische Lehren und Rituale, sondern weist auch synkretistische Merkmale auf. So berichtet Heike Beck in ihrem Beitrag im Materialdienst aus dem Jahr 2013, dass in dem Hauptzentrum der Bhakti Marga in Springen ein Raum nach christlich-orthodoxem Vorbild gestaltet wurde. Darin befindet sich ein auf Füßen erhöhter Sarg mit christlichen Reliquien, unter den sich die Gläubigen legen, um die Kraft der Reliquien in sich aufzunehmen.7
Das „OM Chanting“ ist ein wichtiges Ritual für die Bhakti Marga, durch das Selbstheilungskräfte zur Förderung des physischen, emotionalen und spirituellen Wohlergehens mobilisiert werden sollen. Darüber hinaus wird das Ritual jedoch auch zur Heilung der Vergangenheit von gesellschaftsrelevanten Erinnerungsorten angewendet. Diese Auffassung, man könne die Vergangenheit durch eine energetische Transformation heilen, gibt insbesondere in Bezug auf die Ausübung des „OM Chanting“ in Konzentrationslagern Anlass zur Kritik.
Ein Kritikpunkt ist, dass die Akteure der Bhakti Marga das „OM Chanting“ in gleicher Weise auf vollkommen unterschiedliche Orte mit einschlägiger Historie anwenden. Dadurch aber werden konkrete historische Auseinandersetzungen mit den Geschehnissen der Orte unterlaufen, und eine reflektierte Erinnerungskultur bleibt aus.
Kritisch gesehen wird zudem, dass die Bhakti Marga beansprucht, den Ort des Konzentrationslagers Buchenwald, an dem zwischen 1937 und 1945 über 56000 Menschen gestorben sind, durch das „OM Chanting“-Ritual heilen zu können. Dieser Ansatz kann so verstanden werden, dass er eine Überwindung der Geschichte anstrebt. Damit werde die Erinnerungskultur in Bezug auf den Umgang mit dem Nationalsozialismus in Deutschland infrage gestellt. Denn diese weist gerade durch öffentlich sichtbare Gedenkorte und Mahnmale auf offene Wunden hin und leitet daraus eine fortwährende Verantwortung für die Gestaltung der Zukunft ab. Ein Ritual, das Buchenwald als Ort begreift, der durch eine energetische Transformation geheilt werden könne, rückt von einer so verstandenen Erinnerungskultur ab und deutet stattdessen – wenn auch unbeabsichtigt – einen Schlussstrich unter die Geschichte an, dem widersprochen werden muss.
Hanna Fülling
Anmerkungen
1 Vgl. www.deutschlandfunk.de/kz-gedenkstaette-buchenwald-chanting-wider-die-schuld.886.de.html?dram:article_id=413086 (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 28.3.2018).
2 Vgl. www.buchenwald.de/315/date/2008/07/18/oekumenischer-gottesdienst .
3 https://sadhana.bhaktimarga.org/om-chanting (Übersetzung H. F.).
4 MD 8/2013, 293.
5 www.bhaktimarga.org/bhakti-marga (Übersetzung H. F.).
6 Ebd.
7 Vgl. MD 8/2013, 295.