Neu: eine „Experteninitiative Religionspolitik“ (EIR)
Das Verhältnis von Gesellschaft und Staat zu den Religionsgemeinschaften bzw. Kirchen ist eine Angelegenheit rechtlicher und politischer Gestaltung. Dies gilt auch und erst recht unter der Bedingung der religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates, wie sie im Grundgesetz für Deutschland festgeschrieben wurde. Denn jener Neutralitätsgrundsatz soll zwar die allgemeine Religionsfreiheit sicherstellen. Er tut dies aber nicht im Sinne einer scharfen „laizistischen“ Trennung von Religionsgemeinschaften / Kirchen und Staat (wie etwa in Frankreich), sondern erlaubt und fordert Kooperationen. Dahinter steht die Überzeugung, dass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit der religiösen und / oder ethischen Bildung, die sie ihren Mitgliedern gewähren, einen wichtigen Beitrag zum gedeihlichen Zusammenleben von Bürgerinnen und Bürgern und zum Bestehen der demokratischen Grundordnung leisten können.
Aber mit welchen Gemeinschaften soll der Staat auf welche Weise kooperieren? In den alten Tagen des Grundgesetzes, als eine große Mehrzahl der Deutschen Mitglied einer der beiden großen christlichen Kirchen war, gab es wenigstens für die erste Frage eine relativ klare Antwort. (Aus diesen Tagen stammt auch noch der überkommene Name des einschlägigen Rechtsgebietes, der sich immer noch in der Titulatur entsprechender juristischer Lehrstühle findet: das „Staatskirchenrecht“.) Doch die Zeiten haben sich geändert. Der Tag ist nicht fern, an dem die Kirchenmitgliedschaftszahlen in Deutschland die Fünfzigprozentmarke unterschreiten werden. Neben gut 90 000 Mitgliedern jüdischer Gemeinden sind fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung inzwischen Muslime. Immer mehr Menschen gehören keiner organisierten Religionsgemeinschaft mehr an, sind also „konfessionslos“ bzw. „konfessionsfrei“. Sie pflegen teils andere religiöse (aus Hinduismus, Buddhismus u. a.) oder esoterische Praktiken, ohne formelle Gemeinschaftszugehörigkeit. Oder sie begreifen sich dezidiert als areligiös oder antireligiös. Wenige Zehntausend von ihnen sind auch Mitglied in einer „humanistischen“ Vereinigung (Humanistischer Verband, Humanistische Vereinigung, Freidenker-Verband, Giordano-Bruno-Stiftung etc.).
Diese Pluralisierung hat Bewegung in die einstmals relativ statische religiös-weltanschauliche Landschaft gebracht. Sie erfordert daher signifikante Anpassungen im Religionsverfassungsrecht (neu für „Staatskirchenrecht“) und in der Religionspolitik. Damit ist ein äußerst schwieriger Komplex markiert – mit beträchtlich gestiegener Bedeutung. Was dereinst ein Fachgebiet für spezialistische Hüter der bestehenden Ordnung war, ist ein dynamisches Feld ungeahnter politischer Brisanz geworden.
Um für die anstehenden rechtlichen und politischen Veränderungsprozesse religionswissenschaftliche, religionsrechtliche und religionspolitische Expertise zur Verfügung zu stellen, haben sich einschlägig Versierte zu einer „Experteninitiative Religionspolitik“ (EIR) zusammengetan, die sich auf einer neuen Website präsentiert.1 Die Initiative versteht sich im Wesentlichen als Forum zur Vermittlung qualifizierter Kenntnisse und Urteile, aber auch als eine Plattform für Debatten, in denen die anstehenden Probleme aus verschiedenen Perspektiven kompetent diskutiert werden können. Beides soll den Verantwortlichen bei der politischen Willensbildung und Entscheidungsfindung behilflich sein. Das Projekt ist aus religionspolitischen Fachtagungen der Konrad-Adenauer-Stiftung hervorgegangen. Abgesehen von den Initiatoren bei der Stiftung2 sind unter den Gründerinnen und Gründern akademische Kirchenrechtslehrer3 und Kirchenjuristen4, Kirchen- und Religionsvertreter5 sowie Religionsgelehrte6, ferner die Leiterin des Militärrabbinats beim Bundesverteidigungsministerium7, der Leiter der Verfassungsrechtsabteilung im Bundesinnenministerium8 sowie ein Publizist und ehemaliger Politiker9.
Die Website bietet im Moment 14 meist kürzere Texte der Gründer sowie weiterer Autorinnen zu allgemeineren Themen (z. B. Yasemin El-Menouar: „Was eine moderne Religionspolitik ausmacht“; Patricia Ehret: „Das religionspolitische Gesellschaftsmodell hat Reformbedarf“) und zu spezielleren Fragestellungen des Gebietes (z. B. Heinrich de Wall: „Religionsfreiheit und Gottesdienste in Zeiten von 3G“), außerdem ein Debattenstatement (Bekim Agai: „Warum die Islampolitik mehr Religionspolitik braucht“) und Veranstaltungshinweise.
Martin Fritz, 01.01.2022
Anmerkungen
1 www.experteninitiative-religionspolitik.de (Abruf. 25.11.2021).
2 Patricia Ehret, Andreas Jacobs.
3 Hans Michael Heinig, Emanuel V. Towfigh, Heinrich de Wall.
4 Ansgar Hense.
5 Karlies Abmeier, Stephan Schaede.
6 Bekim Agai, Yasemin El-Menouar.
7 Angelika Günzel.
8 Hans Hofmann.
9 Volker Beck.