Andrea Huber

Neuapostolische Kirche und DDR

Neue Perspektiven aus kirchlichem Archivgut - Teil 1

Die Autorin hat 2018 in der Zeitschrift „Evangelische Theologie“ eine Untersuchung zur Geschichte der Neuapostolischen Kirche (NAK) in der DDR veröffentlicht. Zu diesem Zeitpunkt stand kein Quellenmaterial seitens der NAK zur Verfügung, sodass sie fast ausschließlich auf staatliche Archive angewiesen war. Das hat sich inzwischen geändert, sodass sie sich erneut mit dem Thema beschäftigt hat und nun neue, spannende Perspektiven bieten kann. Das Ergebnis ihrer zweiten Untersuchung veröffentlichen wir in zwei Teilen: Der erste umfasst einen Zeitraum von ca. zwanzig Jahren, beginnend mit dem Mauerbau, der zweite (MdEZW 3/2020) widmet sich den zehn Jahren vor der Wende.

Dieser Aufsatz versteht sich als Ergänzung des in der EvTh 3 (2018) veröffentlichten Artikels „Zur Geschichte der Neuapostolischen Kirche in der DDR“. Diese erste Untersuchung basierte nahezu ausschließlich auf Materialien aus staatlichen Archiven. Die Ergebnisse resultieren aus einer „asymmetrische[n] Aktenüberlieferung. Denn die untersuchten Dokumente unterlagen den staatlichen Selektions- und Konservierungsinteressen. Sie entstammen in der Hauptsache den Beständen des Ministeriums für Staatssicherheit und weiteren staatlichen Behörden, wie dem Innenministerium oder dem Staatssekretariat für Kirchenfragen. Ob und in welchem Umfang Quellenmaterial auf der Seite der NAK zur Verfügung steht, konnte nicht eruiert werden.“1

Mittlerweile hat die NAK jedoch ihre Richtlinien in Bezug auf die von ihr zur dauerhaften Aufbewahrung bestimmten Unterlagen verändert. Somit ist die Einnahme einer veränderten Perspektive anhand von Schriftgut neuapostolischer Provenienz möglich. Sämtliche in dieser aktuellen Untersuchung verwendeten Dokumente stammen von der Kirchenverwaltung der Neuapostolischen Kirche International (NAKI) in Zürich und liegen der Verfasserin in digitalisierter Form vor. Zitiert werden sie nach dem Titel der Datei, da eine Archivsignatur nicht vorhanden ist.

Zur Überlieferungsgeschichte dieser kirchlichen Akten ist zu bemerken, dass es der NAK bisher an einem eigenen Archiv mit entsprechender Infrastruktur und Fachpersonal mangelt. Die Erforschung ihrer Geschichte gestaltet sich darüber hinaus schwierig, da in der Vergangenheit nie eine Unterscheidung zwischen Registratur und Archiv getroffen wurde. Die Frage nach der Archivwürdigkeit von Dokumenten wurde nicht gestellt. Die Selektion von Dokumenten ist aus den Relevanzbewertungen der damaligen Gegenwart heraus geschehen. Dabei standen besonders zwei Kriterien im Vordergrund: Zum einen wurden (stamm-)apostolische Schreiben als wertvoller bewertet als staatliche Schreiben, zum anderen vernichtete man Dokumente, die im Falle einer Hausdurchsuchung als kompromittierend hätten eingestuft werden können. Überflüssig ist der Hinweis, dass darüber hinaus eine Selbstzensur, sowohl bei der Abfassung von Briefen als auch bei Protokollen, gegriffen haben wird.

Der Erhalt der im Folgenden präsentierten Quellen ist daher als zufällig, fragmentarisch, aber auch als glücklich zu bezeichnen. Die historiografische Darstellung nähert sich dem Verhältnis von NAK und DDR auf der Ebene der Kirchenleitung im Sinne einer Institutionengeschichte an. Diese Untersuchung öffnet die Perspektive auf die Notwendigkeit weiterer Forschungen, beispielsweise hinsichtlich der Regionalgeschichte der vier Gebietskirchen, der Biografie Wilhelm Puschs (1914 – 2000), des Verbindungsmanns zwischen der NAK und den staatlichen Stellen, oder sozial- und kulturgeschichtlich ausgerichteter Forschungsansätze, welche die Kirchenglieder in den Blick nehmen. Der Text folgt einer chronologischen Gliederung, orientiert an den Amtszeiten der Stammapostel als Oberhäuptern der NAK, und konzentriert sich in zwei Teilen zuerst auf die Phase des in der BRD lebenden Stammapostels Walter Schmidt (1960 – 1975). Ein zweiter Teil (in der nächsten Ausgabe des MdEZW) nimmt die Phase der Schweizer Stammapostel Hans Urwyler (1978 – 1987) und Richard Fehr (1988–2005) in den Blick.2

1961: Auswirkungen des Mauerbaus

Am 30. Juni 1961 kam Wilhelm Pusch – als Vertrauensmann der NAK zur Regierung der DDR – mit dem Vertreter des Staatssekretärs für Kirchenfragen, Fritz Flint, zu einer Unterredung zusammen. Anlass war ein für den 30. Juli 1961 geplanter Festgottesdienst mit dem Stammapostel. Der Termin lag zwei Wochen vor dem Mauerbau am 13. August 1961. Diese gottesdienstliche Großveranstaltung wurde in dieser Form seit Ende des Zweiten Weltkrieges jährlich in Westberlin durchgeführt. Es wurden gewöhnlich „Amtsträger und Mitglieder aus dem Demokratischen Berlin und der Deutschen Demokratischen Republik“3 zugeladen. Fritz Flint äußerte gemäß dem Protokoll nach einer „längeren Pause“ seine Enttäuschung. „Anscheinend hatte er seitens der Neuapostolischen Kirche aufgrund der seitherigen guten Zusammenarbeit – wie später mehrfach betont – in der augenblicklich angespannten politischen Situation eine derartige Mitteilung [dass zu dem Gottesdienst in Westberlin auch Kirchenmitglieder aus Ostberlin bzw. der DDR anreisen sollten] nicht erwartet.“ Er erklärte, „daß eine Agententätigkeit westlicher Mächte auf Besucher Westberlins aus dem demokratischen Gebiet ausgeübt wird, und stellte fest, daß sich niemand vor einer derartigen Beeinflussung schützen könne“. Da die Regierung der DDR ihre Bürger schützen müsse, sei die Durchführung der geplanten Veranstaltung mit Bürgern aus der DDR verboten. Aufgeschlossen zeigte er sich für die zukünftige Durchführung eines Stammapostelgottesdienstes unter Teilnahme von Mitgliedern aus Westberlin auf dem Gebiet der DDR. Wilhelm Pusch entgegnete, den Gottesdienst dennoch mit den Westberliner Kirchenmitgliedern in Westberlin durchzuführen, was Fritz Flint mit der Feststellung, „daß dies eine westberliner Angelegenheit sei“, kommentierte. Ihren Abschluss fand die Auseinandersetzung in folgendem Ausdruck von Ungehorsam auf neuapostolischer Seite:

„Abschließend zu diesem Gesprächspunkt wurde von uns offen gesagt, daß wir uns nicht hindern lassen würden, die Bezirksleiter und Bezirksvorsteher aus der DDR zu dem Gottesdienst einzuladen. Die Personenzahl wurde mit etwa 45 benannt. Herr Flint sagte dazu, daß er damit gerechnet hätte, daß wir stillschweigend einige ‚Funktionäre‘ trotz der angeführten Bedenken nach Westberlin holen würden, und äußerte seine Befriedigung über unsere Offenheit. Er meinte erst, noch später über diesen Punkt mit uns reden zu müssen, überging ihn aber schließlich.“

Ob die leitenden Amtsträger die Grenzkontrollen an dem besagten Sonntag ohne Probleme passieren konnten, entzieht sich auf Grundlage der vorliegenden Quellen der Kenntnis.

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Anmerkungen

1 Andrea Vanessa Huber: Zur Geschichte der Neuapostolischen Kirche in der DDR, in: EvTh 3 (2018), 193-206, 194.
2 Der Stammapostel Walter Schmidt hat die DDR niemals besucht. Auf der Homepage der NAK Westdeutschland findet sich dafür folgende Begründung: „Aufgrund der politischen Situation in den 60er-Jahren reiste er nicht in die Bezirke in der damaligen DDR, weil er befürchtete, seine Besuche könnten politisch ausgenutzt werden“ (Alfred Krempf: Ein Hüter, Wächter und Mahner [21.12.2006], www.nak-west.de/db/6571114/Berichte/Ein-Hueter-Waechter-und-Mahner, Abruf: 10.12.2019). Indes sandte er regelmäßig Apostel aus der BRD und anderen westlichen europäischen Ländern zur Abhaltung von Gottesdiensten in die DDR. Der erste Besuch eines Stammapostels in der DDR fand 1975 statt. Der aus der Schweiz stammende Ernst Streckeisen besuchte Ostberlin.
3 Aktennotiz über eine Unterredung des Unterzeichnenden in Begleitung des Hirten Knaus im Staatssekretariat für Kirchenfragen mit dem Vertreter des Staatssekretärs, Herrn Flint, und Herrn Hasslinger am 13. Juni 1961, in: NAK BerlBrdbg Staat und Kirche 1, 2. Teil, 189. Folgende Zitate 189f.