Neue Daten zum Islam in Deutschland
(Letzter Bericht: 9/2003, 348f) Nach Auskunft der "Frühjahrsumfrage" des Soester Zentralinstituts Islam-Archiv-Deutschland (Stand 15.5.2003) ist die Gesamtzahl der Muslime in Deutschland seit dem Vorjahr auf etwas mehr als 3,1 Mio. Menschen zurückgegangen. Hierbei schlägt offenbar die Rückführung von Kriegsflüchtlingen nach Südosteuropa zu Buche. Auch die Zahl der organisierten Muslime hat sich gegenüber der Vorjahreszahl von 343 000 leicht verringert: Den sechs größten Spitzenverbänden gehören derzeit insgesamt ca. 309 000 Menschen (etwa 9,93 %) an (vgl. auch MD 11/2002, 345f). Davon vereinigen auf sich der türkisch-staatliche Verband DITIB 118 000, der Islamrat 136 000, der Verband islamischer Kulturzentren 20 000, die Nurculuk-Vereinigungen 12 000, der Zentralrat der Muslime 12 000 und die Islamische Religionsgemeinschaft Hessen 11 000 Mitglieder. Einige Verbände sind gleichzeitig Mitglieder im Islamrat und im Zentralrat, was die Zahlen noch einmal in ein anderes Licht rückt, aber auch auf eine sich offenbar anbahnende stärkere Zusammenarbeit der Verbände hindeutet, die ohnehin bereits in einem Koordinierungsausschuss Formen angenommen hat. Die türkisch-stämmigen Muslime stellen eine Zahl von ca. 1,9 Mio., von der Gesamtzahl sind ca. 80 % Sunniten und ca. 20 % Schiiten. Ferner sind in diesen Zahlen enthalten u.a. etwas mehr als 400 000 Aleviten und ca. 50 000 Mitglieder der Ahmadiyya-Bewegung. Etwa 732 000 Muslime besitzen die deutsche Staatsangehörigkeit, davon sind 12 400 Deutschstämmige. Während die Öffentlichkeit oft nur die Spitzenverbände und ihre Äußerungen in den Medien wahrnimmt, entfalte sich in den fast 90 Prozent nicht übergeordnet organisierten Moscheevereinen ein moderner Islam, "der sich als Teil der säkular-pluralistischen Gesellschaft versteht, als religiöse Gemeinschaft in einem demokratischen Staatswesen". M.S. Abdullah, der Seniordirektor des Soester Instituts, moniert in seinem Kommentar zu den Umfrageergebnissen auch, dass die pejorative Art der Darstellung des Islam in den Medien den Integrationsprozess der Muslime in Deutschland zusätzlich behindere und erschwere.
In Deutschland gebe es derzeit 141 "klassische" Moscheen, 154 weitere seien im Bau. Daneben würden 2380 Versammlungs- und Bethäuser benutzt. Der Dialog mit Juden und Christen wird von 77 % als sehr wichtig eingestuft, der Dialog zwischen Muslimen und Juden immerhin von 47 %. 95 % wünschen sich dringend die Einführung eines deutschsprachigen islamischen Religionsunterrichts an den öffentlichen Schulen, zugleich sind aber 89 % gegen die gleichzeitige Abschaffung der Korankurse der Moscheen, die von einigen Kultusbehörden vorgeschlagen wird. Die Sympathien von 62 % der Muslime liegen bei der SPD, 17 % bei den Bündnisgrünen, 10 % bei CDU/CSU und 9 % bei der FDP, während die Idee einer eigenen muslimischen Partei der Vergangenheit anzugehören scheint. 63 % sind der Meinung, dass das Grundgesetz und der Koran miteinander vereinbar sind, 16 % sehen dies als Problem und 21 % haben sich darüber keine Gedanken gemacht.
Der Verband DITIB, der bislang in Anlehnung an die offizielle Regierungspolitik der Türkei als laizistisch und auf einen im Grundsatz säkularen Staat hin orientiert und mithin als seriös, wenn auch nicht sehr dialogfreudig galt, könnte in Anbetracht der derzeitigen tendenziell islamistischen türkischen Regierung einem Kurswechsel unterworfen werden, auch wenn dies zur Zeit noch nicht beobachtbar ist. Im Gegenteil: DITIB hat sich auch nach Direktiven aus Ankara sowie aus der Kölner Zentrale stärker dem Gespräch mit den anderen Religionsgemeinschaften geöffnet und auch einen eigenen Dialogbeauftragten ernannt. Die IGMG (Islamische Gemeinschaft Milli Görüs) verliert an Einfluss im Islamrat, dessen stärkstes Mitglied sie ist, und verarbeitet darüber hinaus einen Führungswechsel: Mehmet Sabri Erbakan, Neffe des ehemaligen türkischen Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan, trat vom Vorsitz von Milli-Görüs-Europa zurück. Der neue Generalsekretär der deutschen IGMG, Ogus Ücüncü, betreibt einen dezidiert liberalen und dialogoffenen Kurs. Beides wird den Einfluss der liberalen Kräfte in der IGMG stärken.
Die Wahl eines repräsentativen islamischen Koordinierungsrates in Frankreich (auch in Großbritannien gibt es etwas Vergleichbares) hat die Hoffnungen auf eine ähnliche Entwicklung in Deutschland verstärkt. Hamburg und Niedersachsen sind mit der Schura (= "gemeinsame Beratung"), einer Vereinigung der jeweils meisten dortigen muslimischen Vereine, beispielhaft vorangegangen, in Bremen steht eine ähnliche Entwicklung an.
Ulrich Dehn