Neue Diskussionen um den Körperschaftsstatus
(Letzter Bericht: 5/2020, 378f) Zur Erinnerung: Nach einem 15-jährigen Rechtsstreit verlieh der Berliner Senat im Jahr 2006 der Religionsgemeinschaft „Jehovas Zeugen“ den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR). Dem folgten nach zahlreichen intensiven regionalen Anhörungen und Gerichtsverfahren mittlerweile alle Bundesländer, zuletzt 2017 Nordrhein-Westfalen (vgl. MdEZW 3/2017, 104f). Ein Urteil des Züricher Bezirksgerichts, das seit einem Jahr rechtskräftig ist, hat nun neue Diskussionen über die Rechtmäßigkeit dieser Einschätzung in Deutschland entfacht. In dem Schweizer Urteil war entschieden worden, es dürfe behauptet werden, dass die Religionsgemeinschaft gegen elementare Rechte der Mitglieder verstoße.
Ein Kommentar des „Instituts für Weltanschauungsrecht“ der kirchenkritischen Giordano-Bruno-Stiftung plädierte kürzlich mit differenzierten juristischen Argumenten dafür, den KdöR-Status der Religionsgemeinschaft rückgängig zu machen.1 Dies sei nötig, weil die Voraussetzungen zur Verleihung der damit verbundenen Rechte und Vorteile („Privilegienbündel“) nicht vorlägen und nie vorgelegen hätten. Die Entscheide der deutschen Verwaltungsgerichte widersprächen in mehreren zentralen Punkten den präzisen Tatsachenwürdigungen des Züricher Bezirksgerichts. Auf Grundlage der klaren Argumentation müsse man zu dem Ergebnis kommen, „dass sich auch die Zeugen Jehovas Deutschland systematisch grundrechtswidrig verhalten. Die religiösen Bestimmungen insb. hinsichtlich der Ächtung auch innerhalb der Kernfamilie, der Begünstigung des sexuellen Missbrauchs sowie des faktischen Zwangs zur Ablehnung lebenserhaltender Maßnahmen verletzen die Grundrechte der Gläubigen und ihrer Angehören“, so der Kommentar.2 Dieser Vorstoß ist bemerkenswert, weil Jehovas Zeugen schon oft aus theologischen Gründen von den beiden großen Kirchen kritisiert, nicht aber so massiv und grundsätzlich von einer atheistischen Position aus infrage gestellt wurden.
Mit ähnlichen Argumenten haben vor dem belgischen Strafgericht in Gent 16 ehemalige Mitglieder von Jehovas Zeugen die örtliche Gemeinschaft wegen Anstachelung zu Hass und des Verstoßes gegen das Diskriminierungsgesetz verklagt; das Urteil wird im April erwartet. Viele Betroffenenberichte, erschütternde Biografien und empirische Studien belegen das pathologische Potenzial einer Mitgliedschaft bei Jehovas Zeugen.3 Auch Blogs und Videos liefern aufrüttelnde Geschichten.4
Allerdings ist kaum zu erwarten, dass die nüchtern-sachlich vorgetragenen juristischen Gründe Anlass sind, den Körperschaftsstatus noch einmal zu prüfen. Denn eine Schweizer Urteilsbegründung ist für die deutsche Rechtsprechung nur bedingt relevant. Zudem hatten 2019 sieben Abgeordnete den Landtag von Baden-Württemberg angefragt, ob und wie eine Rücknahme der verliehenen Rechtsstellung von Jehovas Zeugen möglich sei. Die Stellungnahme des Landtages macht wenig Hoffnung auf eine veränderte Einschätzung der Rechtslage.5 In der Antwort des Ministeriums für Kultus, Jugend und Sport wird argumentiert, dass eine spätere Überprüfung der Verleihungsvoraussetzungen nach einem langen und gründlichen Prüfprozess grundsätzlich nicht vorgesehen sei. Diesbezügliche kritische Argumente seien schon Gegenstand ausführlicher Erörterungen in allen Bundesländern gewesen. Derzeit lägen keine „ausreichend robusten Erkenntnisse“ für den Entzug der Körperschaftsrechte vor. Erstaunlicherweise wurde der württembergische Landtag in der Anfrage der Abgeordneten nicht um eine Stellungnahme zur unsäglichen „Zwei-Zeugen-Regel“6 gebeten. Das brisante und aktuelle Thema sexualisierter Gewalt in Religionsgemeinschaften kam deshalb auch in der Antwort des Ministeriums nicht zur Sprache. In vergangenen Gerichtsverfahren hat das Festhalten der Leitenden Körperschaft an der missbrauchsvertuschenden Zwei-Zeugen-Regel dazu geführt, die Macht der Leiter bei Jehovas Zeugen zu kritisieren und einen besseren Grundrechteschutz der Mitglieder zu fordern. Schade, dass hier diese Möglichkeit vertan wurde.
Michael Utsch, 03.03.2021
Anmerkungen
1 Nach Schweizer Gerichtsurteil: Muss den Zeugen Jehovas der KdöR-Status in Deutschland entzogen werden?, 31.1.2021, https://weltanschauungsrecht.de/meldung/schweizer-urteil-zeugen-jehovas-konsequenzen-deutschland (Abruf der in diesem Beitrag angegebenen Internetseiten: 3.3.2021).
2 Ebd.
3 Z. B. Will Cook / Rainer Ref (Hg.): Aus erster Hand – ehemalige Zeugen Jehovas und Mitbetroffene berichten, Mossel Bay 2014; Hege Kristin Ringnes u. a.: End Time and Emotions: Emotion Regulation Functions of Eschatological Expectations among Jehovah’s Witnesses in Norway, in: Journal of Empirical Theology 32/2019, 105 – 137.
4 Z. B. https://anchor.fm/dina-hellwig7 oder www.youtube.com/watch?v=fO-AvKq4BSE.
5 Landtag von Baden-Württemberg: Drucksache 16/7429, 12.12.2019, www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/7000/16_7429_D.pdf.
6 Zur Zwei-Zeugen-Regel s. auch im nächsten Beitrag S. 126.