Andreas Hahn

Neue Entwicklungen im Streit um die „Rituelle Gewalt“

Seit geraumer Zeit taucht in der Weltanschauungsarbeit regelmäßig das Thema „Rituelle Gewalt“ auf. Immer wieder erzählen Menschen in Beratungsstellen von sexuellem Missbrauch, der ihnen oder Verwandten in Riten satanistischer Prägung widerfahren sei, meist in früher Kindheit. Manche sind davon überzeugt, noch unter der Kontrolle der entsprechenden satanistischen Netzwerken zu stehen. Es bestehen aber seit langem auch Zweifel an der Stichhaltigkeit solcher Erzählungen. Denn die Existenz von derartigen satanistischen Netzwerken mit entsprechenden Praktiken sowie die Möglichkeit gewisser psychischer Mechanismen, die dabei vorausgesetzt werden, wird von den meisten Weltanschauungsfachleuten und von vielen Psychologinnen und Psychologen bestritten. Zudem werden in den Erzählungen oftmals stereotype Vorstellungen verwendet, die in Medien und Internetforen kursieren, sich aber polizeilich nicht verifizieren lassen. Und es sind eine Reihe von Menschen aufgetreten, die angeben, ihnen sei der Glaube, als Kind Opfer satanistisch-ritueller Gewalt geworden zu sein, in einer Psychotherapie von der Therapeutin oder dem Therapeuten nahegelegt worden. Die EZW hat über das umstrittene Thema wiederholt berichtet.1 In dem teils erbittert geführten Streit zwischen Verfechtern und Kritikerinnen der „Rituelle-Gewalt-Theorie“ ist durch neue Medienberichte Bewegung gekommen. Im Folgenden soll nach einführenden Passagen der aktuelle Stand der Kontroverse dargestellt werden.

Begriffsklärungen

Sexualisierte Gewalt ist unbestreitbar und vielfach nachgewiesen. Es gibt sie in organisierter Form und leider auch in religiösen Gemeinschaften und im Raum der Kirchen. Nicht nur in katholischen Bistümern, sondern auch innerhalb der EKD und ihren Gliedkirchen findet mittlerweile ihre Aufarbeitung statt. Als „rituelle Gewalt“ wird nach der aktuellen Definition der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) eine spezifische Form von organisierter sexualisierter Gewalt bezeichnet, nämlich sofern dazu „eine Ideologie als Begründung oder Rechtfertigung“ fungiert. „Eine solche Ideologie kann religiös sein und beispielsweise im Kontext von Sekten und Kulten vorkommen oder sich aus einer politischen Überzeugung, zum Beispiel in rassistischen oder faschistischen Gruppierungen, ableiten.“2

In dieser Definition und in anderen öffentlichen Darstellungen hat sich die Begrifflichkeit gegenüber der älteren Debatte deutlich verschoben. War darin früher der Begriff „Satanismus“ dominant, tritt dieses Element in den letzten Jahren zunehmend zurück. Aus „satanisch-ritueller“3 wird „rituelle“ und schließlich „organisierte sexualisierte und ritualisierte Gewalt“. Diese neue Konjunktion verbindet etwas gut Belegtes – organisierte sexualisierte Gewalt – mit einem sehr unscharfen Tatbestandsmerkmal: Es diene eine religiöse oder weltanschauliche Ideologie zur Rechtfertigung der Verbrechen. Doch müsste dann beispielsweise auch der mit einer bestimmten (ideologiebehafteten) Pädagogik verbundene Missbrauch an der Odenwaldschule unter den Begriff fallen oder eben auch die sexualisierte Gewalt in Kirchen durch Geistliche, die dabei mit „Höllenqualen im Jenseits“ drohen?4

Nach Beobachtungen von Weltanschauungsexpertinnen und -experten kontrastiert dieser sehr weiten Begriffsbestimmung ein sehr spezifischer Begriffsgebrauch in der internen Kommunikation von Repräsentantinnen und Repräsentanten der Rituellen-Gewalt-These, in der weiterhin mit generationenübergreifenden, weit verzweigten Satanisten-Netzwerken gerechnet wird.5 Dem entspricht der Befund bei weltanschaulichen Beratungsfällen: Obgleich dort inzwischen auch von sexualisierter Gewalt in „Sekten oder Kulten“ sowie in „rassistischen oder faschistischen Gruppierungen“ berichtet wird, ist bei Ratsuchenden der Satanismus nach wie vor mit Abstand der am häufigsten genannte Tatkontext.6 Das Changieren in der Verwendung des Begriffs „rituelle Gewalt“ zwischen enger („rituell“ = im Zusammenhang von satanistischen Riten/Gruppen) und weiter Bedeutung („rituell“ = im Zusammenhang von Ideologien/Kulten) spiegelt sich auf dem „Info-Portal Rituelle Gewalt“, wo eine Vielzahl von Definitionen aufgelistet wird, in denen das Motiv der Satanismus-Netzwerke unterschiedlich prominent vorkommt.7

Die UBSKM und ihre Definitionen dienen in Deutschland durchgängig als Referenzpunkt und Begründung für die Diskussion um „rituelle Gewalt“. Seitdem das Thema im UBSKM-Jahresbericht 2011 ein eigenes Kapitel und später beim Werkstattgespräch der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs (UKASK) 20178 einen zentralen Ort bekam, ist „rituelle Gewalt“ als eine Unterform der sexualisierten Gewalt kontextualisiert. Das hat zur Folge, dass Kritik an der Rituellen-Gewalt-These, wie gut begründet auch immer, leicht unter den Verdacht gerät, die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt insgesamt zu unterminieren.

Grundelemente der Rituellen-Gewalt-These

Die Rituelle-Gewalt-These in ihrer ursprünglichen und nach wie vor wirksamen Grundgestalt geht von großen, generationenübergreifenden Täternetzwerken satanistischer Prägung aus, deren Mitglieder aus gesellschaftlichen Eliten stammen.9 Sie hätten sämtliche Strafverfolgungsbehörden unterwandert, weshalb eine Aufdeckung ihrer Umtriebe so gut wie unmöglich sei. Die Täter verfügten über psychologische „Mind-Control“-Techniken und seien in der Lage, durch frühkindliche „Programmierung“ bei ihren Opfern gezielt eine Spaltung in unterschiedliche Persönlichkeitsanteile herbeizuführen, die nichts voneinander wüssten (DIS: Dissoziative Identitätsstörung). Durch bestimmte „Trigger“-Signale gelinge es den Täterinnen auch noch nach vielen Jahren, diese Anteile jeweils aufzurufen und zu Taten zu veranlassen, von denen die je anderen Anteile anschließend nichts wüssten. Hier wird von schwerer Gewalt bis hin zu Kindstötungen berichtet. Erst eine Traumatherapie könne eine solche DIS diagnostizieren und die verdrängten oder „abgespaltenen“ Erinnerungen wieder wachrufen.

Bislang fehlen kriminologische Nachweise für solche Straftaten, die seit Jahrzehnten behauptet werden. So beruht die Rituelle-Gewalt-These – damit ist hier und im Folgenden immer die These im ursprünglichen, engeren Sinne gemeint – bisher allein auf den Selbstaussagen von Betroffenen und ihren Therapeutinnen und Therapeuten. Dabei wird ein Großteil der Opfer von einer relativ kleinen Anzahl von Traumatherapeuten betreut. Dem Gros der Therapeutinnen ist „rituelle Gewalt“ in ihrer Therapiepraxis hingegen noch nicht begegnet.10

Satanismus in Deutschland

Es gibt satanistische Gruppen in Deutschland, jedoch sind sie nach übereinstimmender Einschätzung von Weltanschauungsexperten eher klein. Von erhöhter Gewaltbereitschaft ist nichts bekannt. Daneben gibt es einen „Jugendsatanismus“, der Friedhöfe oder Kirchen beschädigt, aber keine Gewalt gegen Menschen ausübt. In einzelnen psychotischen Fällen diente satanistische Symbolik als Verstärker, nicht aber als Auslöser von Gewalt. In kultisch-satanistischen Gruppen geht es eher um Freiheit, um die Umwertung von Werten, um Sinnenfreuden und Überlegenheitsgefühle. Teilweise handelt es sich auch nur um Einzelpersonen, die für sich selber Hausaltäre haben, dunkle Symbolik lieben und sich mit anderen Interessierten über magische Literatur austauschen. Diese charakteristischen Merkmale decken sich nicht mit dem Bild, das in den Diskussionen um „rituelle Gewalt“ vom Satanismus gezeichnet wird. Dieses Bild hat vielmehr auffallende Ähnlichkeiten mit populären Darstellungen in Literatur und Film.11

Neue Entwicklungen: Der Anstoß in der Schweiz

Schon lange wurde, nicht zuletzt im Rahmen der Weltanschauungsarbeit, kritisch über die Rituelle-Gewalt-These berichtet. Aber die Diskussion schien in verhärteten Fronten erstarrt zu sein. Kritik wurde mit dem Argument zurückgewiesen, der Zweifel an Patientenaussagen untergrabe das Vertrauen zur Therapeutin und erschwere eine Therapie. Wer Aussagen von Patientinnen hinterfrage, so ein weiteres Argument, relativiere den Missbrauch und betreibe Täterschutz. Kritik wurde dementsprechend auch als „Täterpropaganda“ eingestuft. Eine große Sensibilität bei diesem Thema ist auch unbestreitbar geboten. Schließlich wurde Opfern sexualisierter Gewalt allzu lange nicht geglaubt.

Eine neue Dynamik gewann die Debatte infolge einer Reportage des Schweizer Fernsehens (SRF).12 Darin dokumentierte das Journalistenteam Robin Rehmann und Ilona Stämpfli, wie bei drei psychiatrischen Kliniken (Clienia Littenheid, Psychiatriezentrum Münsingen, Privatklinik Meiringen) die Rituelle-Gewalt-These in die Therapie eingeflossen war, wobei auch explizit die Satanismus-Annahme eine Rolle spielte. Außerdem befasste sich die Reportage mit dem pfingstchristlich geprägten Verein „Cara“, der Fortbildungen zum Thema „ritueller Missbrauch“ anbietet – und dessen Mitglieder von der physischen Präsenz des Satans und der Dämonen bei Fällen solchen Missbrauchs überzeugt sind. Trotz kritischer Eingaben beim Sender wurde das Reporterteam, das sich nach dem Film auch kritischen Rückfragen gestellt hatte,13 mit weiteren Recherchen betraut. Nachdem sich bei ihnen Menschen gemeldet hatten, die angaben, ihnen seien in Therapien rituelle Gewalterfahrungen eingeredet worden, zeigte der zweite Film, dass die drei Kliniken keine Einzelfälle waren.14

Auf die journalistischen Beiträge hin rügten die psychiatrischen Berufsverbände die Nichtbeachtung berufsethischer Standards,15 und auch die staatlichen Behörden reagierten relativ schnell. Ein unabhängiger Untersuchungsbericht über die Clienia Littenheid kam zum Ergebnis, die dort angewandten Therapien entbehrten einer wissenschaftlichen Grundlage. Der Oberarzt Dr. Matthias Kollmann verlor daraufhin seinen Posten.16 Gegen den Psychiater Jan Gysi wurde ebenfalls ein „administratives Verfahren“ eingeleitet.17 Er hatte vorgeschlagen, den Opfern „ritueller Gewalt“ elektronische Fußfesseln anzulegen, um sie der „Mind Control“ der Tätergruppen zu entziehen. „Rituelle Gewalt/Mind Control“ wird in den schweizerischen Berichten als Verschwörungserzählung etikettiert.18

Die deutsche Situation

In Deutschland zeigte sich zunächst ein anderes Bild. Zwar wurden Fachtagungen abgesagt, etwa vom Traumazentrum München (TZM) und in der Traumaklinik Waldschlösschen.19 Aber die Öffentlichkeit war wohl noch durch andere Bilder geprägt: Die spektakulären Ermittlungserfolge im Themenfeld pädophiler Netzwerke wie auf dem Campingplatz in Lügde, in der Kleingartensiedlung in Münster oder die mehr als 30000 Verdachtsfälle in Bergisch-Gladbach zeigten zwar allesamt keinen rituellen Hintergrund, wurden aber von der Rituellen-Gewalt-Szene in dieser Weise gedeutet.20 In den Medien gab es immer wieder empathische Berichte über „Betroffene“ und „Überlebende ritueller Gewalt“: Beispielsweise erzählt im digitalen Jugendableger der Wochenzeitung „Die Zeit“ („Ze.tt“) 2020 die Protagonistin aus den beiden „Höllenleben“-Filmen noch einmal von den (einst als satanistisch beschriebenen) Ritualen auf der Wewelsburg – nur dass dabei jetzt, anders als früher, das Wort „Satanismus“ nicht mehr fällt.21

In der TAZ wurde 2023 bei einem Artikel zur „rituellen Gewalt“ bewusst auf kritische Recherche verzichtet, um stattdessen die zentralen Narrative der Rituellen-Gewalt-These zu reproduzieren.22 Ähnlich ein FAZ-Artikel der renommierten Journalistin Heike Schmoll von 2020,23 der mit der Andeutung schließt, die kritischen Äußerungen kirchlicher Weltanschauungsbeauftragter dienten wohl dem Schutz von Tätern in den eigenen Reihen. In einem Radiofeature des Bayrischen Rundfunks über „Falsche Erinnerungen“24 im Februar 2023 schließlich stellt der Journalist Michael Weisfeld wissenschaftlich gut belegte Aussagen über falsche Missbrauchserinnerungen („False Memories“) in Frage, da die Annahme solcher falschen Erinnerungen den Tätern in die Hände spielen würde. Dabei präsentiert er die Ergebnisse der Gedächtnisforschung, als handle es sich um bloße Meinungen.

Ein SPIEGEL-Artikel und seine Folgen

Die öffentliche Wahrnehmung scheint sich nun durch einen SPIEGEL-Artikel von Ende Februar etwas zu wandeln. Das Autorenteam Beate Lakotta und Christopher Piltz beschreibt darin detailliert alle Aspekte der Rituellen-Gewalt-These mit ihren Hintergründen, nennt ihre Vertreterinnen und Vertreter und stellt am Beispiel der Therapeutin Jutta Stegenmann von der Beratungsstelle des Bistums Münster und einer ihrer Klientinnen dar, welche verhängnisvollen Folgen eine Therapie haben kann, in der einer Hilfesuchenden eine rituelle Gewalterfahrung induziert wird.

Unmittelbar nach Erscheinen des Artikels schloss das Bistum Münster seine Beratungsstelle zu „ritueller Gewalt“. Wurde 2017 nach einer Tagung dort noch die Notwendigkeit des Wissens „um rituelle Gewalt und Strategien der satanischen Kulte“25 betont, erklärte man nun, es sei „der professionelle Umgang mit dem Thema rituelle Gewalt umstritten“ und „die Fortführung der Beratungsstelle […] vor diesem Hintergrund nicht mehr länger vertretbar“26. Das Monatsmagazin „Psychologie heute“ referiert in seiner April-Ausgabe zustimmend die kritischen Anmerkungen der psychologischen Berufsverbände (siehe unten) und warnt vor einer „pseudowissenschaftlichen Beratung bei Missbrauch“27. Im Mai wird das Magazin, so die Ankündigung, „das Thema False Memory und therapeutisch suggerierte Missbrauchserinnerungen aufgreifen“ (ebd.) Mit dem Verfasser dieses ZRW-Beitrags hat der SPIEGEL Ende März 2023 ein Interview geführt, in dem er die Hilfe für die Opfer falscher Therapien oder entsprechender Narrative hervorhebt.28

Vertreter und Vertreterinnen der Rituellen-Gewalt-These reagierten auf den Spiegel-Artikel durchweg mit Gegenkritik: In einer gemeinsamen Stellungnahme verwahrten sich die „Emanuelstiftung“ sowie die Vereine „Lichtstrahlen Oldenburg e.V.“ und „Mosaik gegen Gewalt e.V.“ aus Bielefeld gegen eine Bestreitung solcher Straftaten, „wie Überlebende von organisierter Ritueller Gewalt sie berichten“. Fehltherapien werden als kritikwürdige Einzelfälle eingestuft. Ein weltumspannendes Täternetzwerk wird zwar ausgeschlossen, an der Existenz „ritueller Gewalt“ aber ungebrochen festgehalten.29 Die frühere Weltanschauungsbeauftragte des Bistum Münster, die über viele Jahre Tagungen zu „ritueller Gewalt“ organisiert hatte, bezeichnete den Artikel als „daneben und schrecklich“ und die Schließung der Beratungsstelle als eine „Katastrophe“.30 Der „Betroffenenrat“ bei der UBSKM spricht von einer „unwürdigen Diskussion“ und hält der damit gegebenen „Entsolidarisierung mit den Betroffenen“ entgegen, „diese Gewaltformen“ seien für selbige „schrecklicher Alltag“.31

Bewegung scheint es demgegenüber bei den großen psychologischen Berufsverbänden zu geben, die sich nach vielen Jahren des Schweigens in der Debatte nun vergleichsweise schnell zu Wort meldeten: Die Fachgruppe Rechtspsychologie innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs e.V.) kritisierte Methodik und Ergebnisinterpretation eines vom Bundesfamilienministerium über die UKASK geförderten Forschungsprojekts des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf (UKE) zum Thema.32 Dort werde die nicht nachgewiesene „rituelle Gewalt“ nicht deutlich genug von der gut belegten „organisierten Gewalt“ abgegrenzt. Auch würden therapeutisch rekonstruierte Erinnerungen unkritisch als Erinnerungen tatsächlicher Ereignisse genommen. Alternative Deutungen und gut belegte Erkenntnisse der Gedächtnispsychologie würden nicht berücksichtigt. Dies seien „gravierende methodische Schwächen“, die problematische Hilfsangebote und Therapieformen begünstig hätten.33 Ähnlich argumentiert der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), wenn er beim Engagement für Opfer sexueller Gewalt in jüngerer Zeit „Entwicklungen“ erkennt, „die im Konflikt mit der Wissenschaft stehen“. Es sei „wissenschaftlich zu konstatieren, dass es für systematische rituelle sexuelle Gewalt oder Methoden wie ‚Mind Control‘ keine belastbaren Anhaltspunkte gibt: Hinweise basieren auf ungeprüften Selbstaussagen; Ermittlungen blieben, auch international, ohne Ergebnisse.“34

Wohin die neue Diskussionslage weiter führen wird, ist noch nicht abzusehen. Zentrale Bedeutung wird dabei einerseits der UBSKM zukommen, auf deren Definition und Stellungnahmen in der öffentlichen Diskussion immer verwiesen wird. Auf der anderen Seite sind die Fachgesellschaften der Psychotraumatologie gefragt, bei der weiteren Erforschung der Entstehungsbedingungen und Behandlungsmöglichkeiten von Traumatisierungen den Ansatz der Rituelle-Gewalt-Theorie fachlich einzuordnen.35


Andreas Hahn, 02.05.2023

 

Anmerkungen

  1. Vgl. Matthias Neff, „Rituelle Gewalt: Vom Erkennen zum Handeln“. Ein Tagungsbericht, in: MdEZW 7/2010, 255-262; Andreas Hahn, Streitpunkt „Rituelle Gewalt“. Ein Tagungsbericht, in: MdEZW 12/2016, 458-460; ders., Rituelle Gewalt in satanistischen Gruppen – ein populärer Mythos?, in: MdEZW 7/2019, 243-250; Michael Utsch, Rituelle Gewalt aus psychologischer Sicht, in: MdEZW 8/2019, 312-315; Kai Funkschmidt, „Erklärvideo“ des BMFSFJ zur sexualisierten Gewalt gegen Kinder verbreitet Verschwörungstheorie, in: MdEZW 3/2020, 223-225; ders., Erfahrungsbericht einer Patientin von Traumatherapie bei „Ritueller Gewalt“, in: MdEZW 5/2020, 379-382; ders., Rituelle Gewalt in den Niederlanden? Staatliche Untersuchungen finden keine Belege, in: ZRW 4/2021, 279-285; ders., Rituelle-Gewalt-Theorie. Schweizer Dokumentarfilm löst heftige Reaktionen aus, in: ZRW 1/2022, 23-27.
  2. https://beauftragte-missbrauch.de/themen/definition/organisierte-sexualisierte-und-rituelle-gewalt (Abruf der Internetseiten am 05.04.2023).
  3. In den 1990er Jahren wurde aus den USA der Begriff „satanic-ritual abuse“ übernommen. Sonst wurde die „Satanic Panic“ in den USA nicht zur Kenntnis genommen. Als das Thema in Deutschland aufkam, erschien es wie ein völlig neues Phänomen. Einflussreich waren dafür ein (rein fiktiver) Erlebnisbericht eines jugendlichen Satanspriesters mit dem Titel „Lukas - vier Jahre Hölle und zurück“ (Bergisch Gladbach 1995) und Ulla Fröhlings Buch „Vater unser in der Hölle. Ein Tatsachenbericht“ (Seelze-Velber 1996); vgl. http://www.vaterunserinderhölle.de/.
  4. Vgl. z.B. den Film „Das Netzwerk der Täter“ des Bayerischen Rundfunks: https://www.br.de/fernsehen/das-erste/sendungen/report-muenchen/missbrauchsskandal-katholische-kirche-102.html. In 0:40-44min ist dort die Rede von „Täternetzwerken“ und „rituellem Missbrauch“.
  5. Das Bistum Osnabrück verknüpft die „Rituelle Gewalt“ in einem Artikel von 2014 mit „satanistischen Sekten“, https://bistum-osnabrueck.de/rituelle-gewalt/. Brigitte Hahn, die pensionierte Leiterin der Fachstelle für Sekten- und Weltanschauungsfragen im Bistum Münster, bekräftigt in einem WDR-Interview vom 19.03.2023 (nach der Schließung der Einrichtung), dass sie die Berichte von Betroffenen über Missbrauch innerhalb satanistischer Gruppen nach wie vor für glaubhaft hält, https://tinyurl.com/3ay2auwu (ab 4:20min).
  6. Bei einer vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) in Auftrag gegebenen Befragung unter Betroffenen wurden von knapp 50% „satanistische Kulte“ als Tatkontext genannt, „religiöse Sekten“ von knapp 20% und „rassistische bzw. faschistische Gruppierungen“ von jeweils 12% der Befragten; vgl. Susanne Nick/Johanna Schröder/Peer Briken/Hertha Richter-Appelt, Organisierte und rituelle ­Gewalt in Deutschland. Kontexte der Gewalterfahrungen, psychische Folgen und Versorgungssituation, in: Trauma & Gewalt, 12. Jg., Heft 3 (August 2018), 244-261. In einer weiteren von der UBSKM in Auftrag gegebenen Untersuchung von entsprechenden Fachzeitschriften nennen die Fachpersonen sogar 69%.
  7. Vgl. https://www.infoportal-rg.de/meta/definitionen/.
  8. Hier waren neben Peer Bricken und Susanne Nick vom UKE unter anderem auch Adelheid Hermann-Pfandt, Michaela Huber, Claudia Igney, Brigitte Bosse und Claudia Weber zu einem Expertengespräch geladen.
  9. Vgl. dazu z.B. Hahn, Rituelle Gewalt in satanistischen Gruppen (siehe Fußnote 1), und die übrige in Fußnote 1 angegebene Literatur.
  10. Als Beispiel mag die Umfrage aus 2007 von Brigitte Bosses Traumainstitut Mainz dienen: von den 455 Rückmeldungen haben 12% insgesamt 63 Klientinnen oder Klienten als Opfer von „Ritueller Gewalt“ in ihren Praxen. Dabei wurden 24 Tötungsdelikte genannt – mit einer vermuteten viel höheren Dunkelziffer. 88% der Rückmeldungen hatten keine Fälle von „Ritueller Gewalt“ in ihren Therapiekontexten.
  11. Vgl. Kai Funkschmidt, Satanismus, in: MdEZW 7/2018, 270-276; Hahn, Rituelle Gewalt in satanistischen Gruppen (siehe Fußnote 1); Melanie Möller, Satanismus als Religion der Überschreitung. Transgression und stereotype Darstellung in Aussteigerberichten, Marburg 2007.
  12. „Der Teufel mitten unter uns. Eine Verschwörungserzählung kursiert auch in der Schweiz“, https://tinyurl.com/yckmct29.
  13. https://www.srf.ch/play/tv/rec-/video/qa-zur-reportage-der-teufel-mitten-unter-uns?urn=urn:srf:video:d550a7bc-8d48-430d-9227-72041a2d8dcf.
  14. „Jetzt reden die Opfer“, https://www.srf.ch/play/tv/rec-/video/jetzt-reden-die-opfer---satanic-panic-in-der-schweiz?urn=urn:srf:video:6b0b39bc-46fe-4762-92ed-7cb7790f8fb3&aspectRatio=16_9
  15. Der Schweizerische Berufsverband für Angewandte Psychologie (SBAP) „distanzierte sich ausdrücklich vom Narrativ der satanistischen rituellen Gewalt“ mit der „falsch(en) Annahme, dass Tätergruppierungen in der Schweiz und im Ausland gezielt Personen aussuchen würden, welche sie an Rituale mitnähmen, wobei Vergewaltigungen, Bluttrinken und Baby-Tötungen geschehen würden“, https://sbap.ch/wp-content/uploads/2023/02/Stellungnahme-gegen-satanistisches-Verschoerungsnarrativ.pdf

  16. Die Klinik selber distanzierte sich von diesen Praktiken und leitete Maßnahmen zur Verbesserung ihrer therapeutischen Angebote ein, https://www.clienia.ch/wp-content/uploads/Clienia_Medienmitteilung_2022.12.02.pdf.
  17. https://www.beobachter.ch/gesundheit/psychologie/theorien-mind-control-und-rituelle-gewalt-berner-gesundheitsdirektion-fuhrt-administratives-verfahren-gegen-psychiater-jan-gysi-587456
  18. https://www.tg.ch/news.html/485/news/61261.
  19. Interessant ist die Begründung für die Absage der Veranstaltung des TZM: „Leider haben diese Entwicklungen dazu geführt, dass wir uns als Organisationsteam derzeit nicht in der Lage sehen, einen sicheren Raum für einen offenen und fachlich produktiven Austausch zwischen allen Beteiligten zu gewährleisten. Wir haben uns daher entschieden, den 2. Münchner Fachtag zu organisierter sexualisierter und ritueller Gewalt zu verschieben, bis wir einen sicheren und störungsfreien Rahmen für die Veranstaltung und für die Weiterführung des fachlich und politisch differenzierten Trialogs zwischen Betroffenen, Angehörigen und Fachleuten herstellen können.“ https://www.thzm.de/fachtag/
  20. Eine derartige Vermutung äußerte die damalige katholische Weltanschauungsbeauftragte Brigitte Hahn im Blick auf Lügde im Interview bei ihrer Tagung 2019, vgl, Hahn 2019, 245 Anm. 12. Vgl. auch die Reportage „Wir sind die Nicki(s)“ (siehe Fußnote 21), Teil 2, wo die Geschehnisse von Lügde und Bergisch-Gladbach unmittelbar mit der „Rituelle-Gewalt-These“ kurzgeschlossen werden (ab 7:33).
  21. „Wir sind die Nicki(s)“ Teil 1, https://www.youtube.com/watch?v=SNv6VejUAds; Teil 2 https://www.youtube.com/watch?v=caros7UXxh4.
  22. Sean-Elias Ansa/Ruth Lang Fuentes, Rituelle Gewalt. Eine ausgeblendete Realität, in: TAZ v. 11.2.2023; nach den Reaktionen in der Schweiz wurde dieser Artikel noch einmal überarbeitet, „um noch deutlicher zu machen, welche Fakten aus der Erzählung der Protagonistin wir prüfen konnten, und welche sich allein auf ihre Darstellung beziehen.“ https://taz.de/Rituelle-Gewalt/!5912309/.
  23. Heike Schmoll, Das Ergebnis war immer Verlassenheit, in: FAZ v. 24.8. 2020.
  24. Michael Weisfeld, Falsche Erinnerung? - Doku über False Memory und sexuelle Gewalt, https://www.ardaudiothek.de/episode/ard-radiofeature/falsche-erinnerung-doku-ueber-false-memory-und-sexuelle-gewalt/ard/12333553/.
  25. https://www.bistum-muenster.de/startseite_aktuelles/newsuebersicht/news_detail/tagung_mit_200_fachleuten_nimmt_rituelle_gewalt_in_den_blick.
  26. https://www.bistum-muenster.de/startseite_aktuelles/newsuebersicht/news_detail./bistum_muenster_schliesst_beratungsstelle_organisierte_sexuelle_und_rituelle_gewalt.
  27. https://www.psychologie-heute.de/gesellschaft/artikel-detailansicht/42532-pseudowissenschaftliche-beratung-bei-missbrauch.html.
  28. Der Spiegel, Nr. 14 vom 1.4.2023, 34f (Interview von Julian Aé).
  29. http://www.emanuelstiftung.info/Alles_Verschwoerung/.
  30. So im Interview in der WDR-Radiosendung „Diesseits von Eden“ am 19.3.2023 (siehe Fußnote 5).
  31. https://beauftragte-missbrauch.de/presse/artikel?tx_news_pi1%5Baction%5D=detail&tx_news_pi1%5Bcontroller%5D=News&tx_news_pi1%5Bnews%5D=720&cHash=eab5cfb5abf924f4748ffc72f4d7442f.
  32. Die Kritik bezieht sich auf die in Fußnote 6 bereits erwähnte Studie: Professionelle Begleitung von Menschen, die sexuelle Gewalt und Ausbeutung, im Besonderen organisierte rituelle Gewalt, erlebt haben: Die Perspektive der Betroffenen und der Fachkolleginnen und Fachkollegen, https://www.aufarbeitungskommission.de/kommission/forschung-studien-kindesmissbrauch/professionelle-begleitung-betroffener-organisierter-ritueller-gewalt/.
  33. https://www.dgps.de/fileadmin/user_upload/PDF/Stellungnahmen/Stellungnahme_DGPs_FachgruppeRechtspsychologie.pdf.
  34. https://www.bdp-verband.de/fileadmin/user_upload/BDP/website/media/Anlage_1_Stellungnahme_BDP_Sektion_Rechtspsychologie.pdf. Die Stellungnahme des BDP verweist auf den EZW-Artikel von Hahn, Rituelle Gewalt in satanistischen Gruppen (siehe Fußnote 1).
  35. Das schweizerische Psychiatriezentrum Münsingen bot dazu eine themenbezogene Fortbildung an: „Fallstricke der Psychotrauma-Therapie. Wie umgehen mit Berichten über rituelle Gewalt“, https://www.pzmag.ch/fileadmin/user_upload/documents/Dateien_extern/Behandlung/Klinik_fuer_Psychose_und_Abhaengigkeit/Tagung/Einladung_Tagung_Fallstricke_der_Psychotrauma-Therapie_2023.pdf.