Neue Hexen (Wicca)
Die Selbstbezeichnung „(Neue) Hexen“ (für Männer und Frauen) benennt ein Segment neuheidnischer Religiosität. Zu den Kennzeichen der Bewegung gehören Naturfrömmigkeit, die Berufung auf eine alte Tradition, Magie- und Ritualpraxis, Feminismus sowie Zivilisationskritik, die sich u. a. gegen das Christentum richtet.
Entstehung und Geschichte
1921 veröffentlichte die Ägyptologin Margaret Murray (1863 – 1963) das Werk „The Witch Cult in Western Europe“. Ausgehend von Prozessakten der frühneuzeitlichen Hexenverfolgungen entwickelte sie die Theorie einer magischen Volksreligion, die unter der Oberfläche des christlichen Europa tradiert worden sei. Demnach waren „die Hexen die Mitglieder einer alten Religionsform“, die vom Christentum bekämpft wurde. Die Theorie hatte den Charme einer rationalen Erklärung für die Hexenverfolgungen – im Unterschied zu der Annahme eines Massenwahns mitten im Zeitalter der Aufklärung. Der Ansatz beruhte auf dem damals populären „Survival“-Paradigma der Anthropologie. Dem zufolge leben in jeder Kultur Restelemente ihrer Vorgänger im Verborgenen fort. Die aus Märchen und Sagen bekannten Elfen, Hexen, Feen und Trolle seien demnach volkstümliche Erinnerungen an diese Vorgeschichte.
Murrays Theorie ist eine späte Frucht romantischer Bewegungen des 19. Jahrhunderts, die zur Erforschung von autochthonen europäischen Religionen, Volksglauben und -brauchtum geführt hatten. Historiker widersprachen ihr von Anfang an. Doch gegen die breite Rezeption ihrer Schriften waren rationale Einwände chancenlos. Murrays Annahme einer geheimen Tradition von religiösen Unterströmungen blieb jahrzehntelang bestimmend. Sie gab damit den Anstoß für die Gründung des „Wicca“, der modernen Hexenbewegung.
Schon im 19. Jahrhundert waren Menschen von der Wiederentdeckung zur Wiedererweckung heidnischer Religionen übergegangen. Für die Hexen übernahm diese Rolle der englische Beamte Gerald B. Gardner (1884 – 1964). Er erklärte ab 1945 in Büchern, er sei vor dem Krieg im südenglischen New Forest in einen geheimen Hexenbund („Coven“), dessen Existenz nie verifiziert werden konnte, initiiert worden und wolle diese alte Religion, die er „Wicca“ (altenglisch für „witch“) nannte, bekannt machen. Bald gründete er einen eigenen Coven. Wicca war geboren.
Seit der ehemalige Spiritist Alex Sanders (1924 – 1988) in den 1960er Jahren eine eigene Richtung des Wicca gründete, unterscheidet man Gardnerian und Alexandrian Wicca (zusammen British Traditional Wicca).
Exkurs: Hexenverfolgungen
Die Hexenverfolgungen waren Anlass für Murrays Theorie und sind bis heute für Hexen wichtig. Volkstümlich ist noch immer die Sicht, es habe sich um eine sexualpathologisch und machtpolitisch motivierte Frauenverfolgung gehandelt, die vor allem Heilerinnen und Hebammen galt (Heinsohn/Steiger 1985). Wegen ihres vermuteten Wissens über Empfängnisverhütung werden sie als frühfeministische Vorreiterinnen einer „sexuellen Selbstbestimmung der Frau“ gedeutet. Die gesamte Theorie hält einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand. Opfer konnte jeder werden, einfache Menschen, Außenseiter, Bürgermeister und Priester. Ein Viertel bis ein Drittel der Opfer waren Männer. In den meisten Fällen ging die Initiative zur Verfolgung nicht von staatlichen oder kirchlichen Obrigkeiten aus, sondern von der Bevölkerung. Auch verstanden sich die Opfer gerade nicht als Angehörige einer sozialen oder religiösen Gruppe, sondern als Christen. Sie bestätigten nur unter Folter vorhandene uniforme Fantasien über Teufelsanbetung, Hexensabbat, Schadmagie usw.
Doch bleiben die Verfolgungen als angenommene Vorläufertradition für heutige Hexen zentral. Der eigene Status als Angehörige einer von Staat und Kirche verfolgten Opfergruppe (Frau und Hexe), ist identitätsstiftend. Dazu gehört oft eine Übertreibung der Opferzahlen (z. B. Gardner: 9 Millionen; seriöse Schätzungen: 50000 bis max. 100000).
Soziale Gestalt und Verbreitung
Das traditionelle Wicca war eine kleine Religion mit klaren Zugehörigkeitsstrukturen und einer dreistufigen Hierarchie der Initiationsgrade. In Coven von maximal dreizehn Hexen unter Leitung eines Hohepriesters und einer Hohepriesterin traf man sich zu Ritualen. Mitglied wurde man durch Initiation. Es herrschte weitgehende Arkandisziplin.
In den 1960er und 1970er Jahren verband sich die Hexenbewegung mit den großen sozialen Bewegungen der Zeit. „Zittert, zittert! Wir sind die neuen Hexen“ war zunächst der politische Kampfruf italienischer Feministinnen. Er wurde zum Tor in eine spirituelle Erweiterung des eigenen Ich. Nicht nur im politischen Engagement gegen eine patriarchale Welt konnte man sich wehren, sondern auch, indem man sich der ebenfalls patriarchal strukturierten Großreligion Europas entzog.
Die Hexenbewegung wuchs und entgrenzte sich. Eine intensive Publikationstätigkeit ersetzte die Arkandisziplin. Seitdem kann man sich über Bücher informieren, sich selbst initiieren und ohne Coven als Hexe verstehen („freifliegende Hexen“).
Diese Entwicklung ging mit spielerischen Zugängen und einer inflationären Ausweitung des Hexenbegriffs einher. Gemeinschaft, im Wicca elementar, wird optional. „Manche treffen vielleicht andere Hexen, fühlen sich angesprochen und treten dann einer Gruppe bei. Bei mir war das anders. Ich war und bin eine Solo-Hexe und wurschtel eher so vor mich hin“ (www.hexe.org/wie.htm). Manchmal gibt es lose Ritualgruppen, aber während das traditionelle Wicca klare Rollen kennt, organisieren sich freie Hexen lieber „hierarchiefrei“. Das erweist sich in der Realität oft als Fiktion und führt zu Instabilität.
„Hexe“ begegnet heute außerhalb von Wicca als Chiffre für die Wiedergewinnung weiblicher Macht und Spiritualität oder als Containerbegriff für alles esoterische Interesse an „Weißer Magie“ (die zudem als spirituelle Dienstleistung feilgeboten werden kann). Hinzu kommt das Segment der Junghexen: die kommerzialisierte unorganisierte Szene jener, die sich für Magie, Hexerei und Naturreligiosität interessieren.
Klassische Wicca distanzieren sich von solchen Trivialisierungen und pochen auf eine ernsthafte Glaubenspraxis: „Wer ein Buch von Scott Cunningham oder Starhawk gelesen und verstanden hat, ist deshalb noch kein Wicca.“1
Wicca und freifliegende Hexen sind in der ganzen westlichen Welt verbreitet. Traditionelle Wicca sind öffentlichkeitsscheu.2 Freifliegende Hexen sind eine offene Bewegung voller Zuordnungsfragen. Daher kann man die Zahl der Hexen kaum seriös schätzen. Die Forschungssituation tut ein Übriges. Es ist schwer, Zugang zur Szene zu bekommen. Das schlägt sich z. B. darin nieder, dass viele religionswissenschaftliche Arbeiten ihren Forschungsgegenstand anonymisieren, weil die betreffenden Gruppen sonst keinen Zugang gewähren. Hinzu kommt, daß die Ritualpraxis ihrem Wesen nach keine Beobachter vorsieht. Daher stammen viele Forschungsbeiträge von Religionswissenschaftlern, die selbst den jeweiligen Glaubensvorstellungen anhängen. Sie neigen zu positiv-apologetischen Darstellungen, die wegen der Anonymisierungen auch nicht überprüfbar sind.
Lehre und Rituale
Hexenspiritualität ist von Naturfrömmigkeit, Feminismus und der Suche nach persönlichem Machtgewinn gekennzeichnet. Hexen sehen sich „undogmatisch“ und haben keine allgemein verbindlichen Lehrwerke. Doch einige Texte werden breit rezipiert.
Der „Wiccan Rede“ (von mittelenglisch „rede“ = Rat) ist eine gereimte, um 1970 in altertümlichem Englisch verfasste Zusammenfassung wiccanischer Praxis und Ethik. Häufig wird nur der Schluss zitiert: „An it harm none do what ye will“ (Wenn es niemandem schadet, tue, was du willst). Im „Book of Shadows“ (um 1950) schrieb Gerald Gardner Wicca-Rituale nieder. Sie stammten angeblich aus dem von ihm entdeckten New Forest Coven, enthielten aber zahlreiche Passagen des Satanisten Aleister Crowley, aus anderen okkulten Quellen und aus der Freimaurerei. Er habe fehlende Teile ergänzen müssen, erklärte Gardner dazu. Freifliegende Hexen empfehlen oft, ein eigenes „Buch der Schatten“ anzulegen, um magische Rituale zu sammeln, die wirksam waren. Es gibt unzählige Variationen von Ritualabläufen. In der ursprünglichen Tradition wurden sie „himmelsgewandet“, also nackt durchgeführt.
Wicca verehren einen gehörnten Gott und eine (Mond)göttin. „Wir glauben, dass die schöpferische Kraft des Universums sich durch Polarität – durch das Männliche und das Weibliche – ausdrückt, in allen Menschen innewohnt und durch Interaktionen zwischen dem Männlichen und Weiblichen wirkt.“3 Die Gottesvorstellung kann dabei zwischen Pantheismus, einem personalen Gegenüber und der Symbolisierung immanenter menschlicher Kräfte variieren.
In der Praxis dominiert die weibliche Gottheit, die dreifache Mond-Göttin. Die Mondphasen entsprechen den Lebenszyklen der Frau (zunehmender Mond, Vollmond, abnehmender Mond – Jungfrau, Mutter, Greisin). Gerade Frauen sollen zur Heilung der Welt beitragen können, weil sie Zugang zu heiliger Lebensenergie haben und mit der Gebärmutter über Schöpferkraft verfügen. Zahlreich sind Bezugnahmen auf „uralte weibliche Weisheit“.
Die stark ritualisierte spirituelle Praxis ist an Mondphasen orientiert. Hexentreffen finden dreizehnmal im Jahr bei Vollmond statt. Außerdem gibt es jährlich acht Hexensabbate: Imbolg (2.2.), Frühjahrs- und Herbstäquinoktium (21.3./21.9.), Beltane (1.5.), Mittsommer (22.6.), Lughnasadh (31.7.), Samhain (31.10.), Jul (22.12.).
Für ein ausgeglichenes geglücktes Leben (nachtodliche Jenseitsvorstellungen spielen kaum eine Rolle) ist das Ziel, sich in Einklang mit den Mondzyklen zu bringen. Wicca kombinieren moderne Anliegen (Ökologie, Feminismus, Individualismus, Naturheilkunde) und projizieren sie in die Vergangenheit der alten Hexenreligion. Abgelehnt werden „Materialismus und Konsumterror, Umweltzerstörung, soziale Ungerechtigkeit und das Patriarchat. Zur Überwindung dieser alten Strukturen [… werden] alternative Lebensformen entwickelt und etabliert. Spirituelle und politische Ansprüche sind hier unmittelbar miteinander verbunden“ (Maske). Allerdings münden diese Anliegen wegen der Skepsis gegenüber „rationalistischen“ Weltsichten nicht in analytisches Denken und politisches Engagement, sondern in die magische Ritualpraxis. Denn die Weltheilung kann nur über die Selbstheilung erreicht werden.
Einschätzung
Zwei einander widersprechende Entwicklungen kennzeichnen das Hexentum: Individualisierung und Universalisierung. Einerseits wird Religion immer partikularer (jeder sein eigener Priester), andererseits wird eine synthetisierte universale Wahrheit hinter allen vorfindlichen Religionen behauptet, über die deren jeweilige Anhänger nicht im Bilde sind. Man nimmt also einen quasi-göttlichen Standpunkt über allen ein und beansprucht eine absolute Einsicht, die den anderen fehle. Das Hauptziel ist die Steigerung eigener Macht sowie die Sakralisierung des Selbst: Selbstheilung, Selbstbewusstsein und Selbstverwirklichung. Dagegen spielen Selbstverpflichtung oder Selbsthingabe keine Rolle. Mit seiner Konzentration auf das autonome, an keine weltliche, menschliche oder göttliche Macht gebundene Ich erscheint das Projekt „Neue Hexen“ als das Gegenteil seines eigenen Anspruchs. Statt einer echten Rückbesinnung auf alte Werte und naturbezogene menschliche Lebensformen ist es eher eine Lebensäußerung der Moderne par excellence. Es führt zur Apotheose genau desjenigen Menschenbildes, dessen Auswirkungen auf die soziale und natürliche Welt es bekämpfen will. Es ist kein Zufall, dass Hexen v. a. in der Großstadt leben und nicht in real existierenden Dörfern mit ihren stabilisierenden und einengenden sozialen Bezügen und menschlichen Bindungen.
Hexen sind für Christen ein Hinweis auf unerfüllte Sehnsüchte nach Transzendenzerfahrungen, nach dem „Numinosen“ und entsprechenden Ritualen – Sehnsüchte, die wortzentrierte Gottesdienste nicht für alle erfüllen. Die Orientierung an Naturzyklen erinnert z. B. daran, dass auch das liturgische Kirchenjahr einen Gotteserfahrung erschließenden Ritualablauf darstellt, der in der Gottesdienstpraxis meist wenig inszeniert wird. Bedenken wird man als Christ angesichts des allzu leicht übersprungenen Abstands zwischen Gott und Welt und der exzessiven Ich-Zentrierung anmelden. Für Hexen bleibt der Mensch letztlich immer auf sich selbst verwiesen. Erfahrungen des Scheiterns trotz machtvermittelnder Ritualmagie werden in der Hexenliteratur kaum thematisiert. Die Wicca-Ethik ist minimalistisch, selbstbezüglich und weit von der christlichen entfernt, wie z. B. ein Vergleich des Wiccan Rede „Wenn es niemandem schadet, tue, was du willst“ mit Augustins „Dilige et quod vis fac“ (Liebe, und dann tue, was du willst) zeigt. Wo es dem Wicca genügt, den Anderen in Frieden zu lassen, um ansonsten frei zu sein, verlangt das Christentum eine aktive Zuwendung zum Nächsten und zu Gott, um hierin die gemeinschaftsstiftende Freiheit zu verwirklichen.
Kai Funkschmidt
Anmerkungen
1 Teil einer ausführlichen „Abgrenzung“ des südwestdeutschen Coven „Circle of Magic Dragonfly“ (http://wicca.de, Abruf: 23.8.2015).
2 In Deutschland mehr als in Amerika. Die Wiccan Church of Canada lädt sogar zu öffentlichen Ritualen ein.
3 Hexe Ishtar: „13 Prinzipien des Wicca“, www.sternenkreis.de/index.php/wicca/36-die-13-prinzipien-des-wiccas (Abruf: 31.8.2015).
Literatur
Crowley, Vivianne: Wicca. Die alte Religion im Neuen Zeitalter, Bad Ischl 1998
Cunningham, Scott: Wicca. A Guide for the Solitary Practitioner, Woodbury 1988
Decker, Rainer: Hexen. Magie, Mythen und die Wahrheit, Darmstadt 2004
Ferrar, Janet und Stewart: A Witches’ Bible, London 1996
Frenschkowski, Marco: Die Hexen. Eine kulturgeschichtliche Analyse, Wiesbaden 2012
Gardner, Gerald B.: Witchcraft Today, London 1954
Griffin, Wendy (Hg.): Daughters of the Goddess, Walnut Creek 2002
Heinsohn, Gustav / Steiger, Otto: Die Vernichtung der weisen Frauen, München 1985
Hutton, Ronald: The Triumph of the Moon. The History of Modern Pagan Witchcraft, Oxford 1990
Maske, Verena Ninon: Alternative Religiosität in der Spätmoderne am Beispiel der freien Ritualgruppe der „Weisen Frauen“, in: Klöcker, Michael / Tworuschka, Udo (Hg.): Handbuch der Religionen 14, IX/19, München 2006
Murray, Margaret: The Witch-Cult in Western Europe. A Study in Anthropology, Oxford 1921
Ohanecian, Oliver: Wer Hexe ist, bestimme ich, Berlin 2005
Pahnke, Donate (Hg.): Göttinnen und Priesterinnen. Facetten feministischer Spiritualität, Gütersloh 1995
Pöhlmann, Matthias (Hg.), Hexenverfolgung, EZW-Texte 237, Berlin 2015
Pöhlmann, Matthias (Hg.): Neue Hexen, EZW-Texte 186, Berlin 2006
Starhawk: Der Hexenkult als Ur-Religion der Großen Göttin, München 1992
Internetseiten
www.paganfederation.org (internationaler heidnischer Dachverband, nationale Untergruppen)
www.hexenzirkel.info (Forum)
www.rabenclan.de (dt. heidnische Dachorganisation)
www.witchcamp.org
www.sternenkreis.de
www.wicca.de (südwestdeutscher Coven)