Neue religiöse Bewegungen und ihre Beurteilung
Zwischen Parteinahme, Toleranz und Abgrenzung
„Kritisch sein besagt: Kriterien zu haben“2, hat einst der große Neutestamentler Ernst Käsemann gesagt. Wenn wir die religiöse Landschaft der Bundesrepublik und unserer globalisierten Welt betrachten, nehmen wir automatisch Wertungen vor. Nur eine naive Scheinobjektivität könnte denken, dass überhaupt eine Wahrnehmung ohne einen solchen wertenden Referenzrahmen möglich sei. Und wenn wir zudem im theologischen Diskurs die Welt anderer, etwa konkurrierender Religionsgemeinschaften in den Blick nehmen, dann werten wir selbstverständlich auch. Solche Akte der Würdigung und Bewertung sind notwendig und legitim. Nur ein naiver Wissenschaftsbegriff könnte das Konzept einer Kulturwissenschaft formulieren, die nicht an bewertenden Diskursen teilnimmt. Kritisch sein heißt Kriterien haben. Die Frage ist freilich, welche Kriterien wir haben und welche wir haben wollen, welche reflektiert und verantwortet sind oder auch Teil unseres kritischen Traditums, welche sich untergründig in unsere Betrachtung mit einmischen, vielleicht ohne dass wir das wollen oder sehen können, und welche Kriterien zwar in unserem Umfeld stark und virulent sind, aber von uns bei näherem Hinsehen nicht mitgetragen werden. Die Frage ist auch, wie rasch wir bewerten und in welchem Maße unsere Bewertungen einen Schulterschluss mit sozialempirisch erhebbaren Fakten eingehen.
Wir werden jedoch die normative Frage nach den Beurteilungskriterien, die uns gut und richtig erscheinen, an dieser Stelle zurückstellen. Wir versuchen vielmehr, einige analytische Blicke auf die Bewertungsdiskurse zu werfen, die faktisch in unserer Gesellschaft und Tradition bestehen, auch wenn wir persönlich diese vielleicht gar nicht engagiert mittragen. Wir fragen also nach den Bewertungsdiskursen für religiöse Bewegungen, mit einem besonderen Blick auf solche religiösen Phänomene, die sich deutlich außerhalb der evangelischen Kirche befinden.
Veränderung der kulturellen Konstellation
Auf den ersten Blick fällt bereits auf, dass der gesellschaftliche Leitdiskurs zu diesen Themen in den letzten Jahren entspannter und lockerer geworden ist, wodurch sich der Referenzrahmen von Bewertungen verschoben hat.3 Man hat etwa im Urlaub thailändischen Buddhismus kennengelernt oder in den USA eine amerikanische Gemeinde besucht. Esoterikmärkte stehen unter der Schirmherrschaft von Bürgermeistern der großen Parteien. Interreligiöse Veranstaltungen boomen. Damit verändert sich auch die Wahrnehmung von Religion in Deutschland insgesamt, und herkömmliche Bewertungskategorien werden fraglich. Was ist „Kirche“, was „Sekte“, was „Religion“, was „Spiritualität“?4 Welchen Sinn haben solche traditionellen Begriffe aus einer anderen kulturellen Konstellation in der Gegenwart? Wenn es um die „Gefährlichkeit“ von Religion geht, denkt die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr an die traditionellen „Sekten“ wie in den 1970er Jahren, sondern an islamistischen Fundamentalismus und die nur langsam überwundene Vertuschung von Missbrauchsfällen in Großkirchen. Gewiss, das „Sektenthema“ ist nicht passé, immer einmal wieder werden Vorwürfe aktuell.5 Aber auch hier kann sehr viel entspannter – und vor allem differenzierter diskutiert werden, als das noch vor wenigen Jahren der Fall war.
Als der faktische religiöse Pluralismus der Gegenwart in den 1970er und 1980er Jahren allmählich in das allgemeine Bewusstsein rückte, war dieser Vorgang in breiten Teilen der Bevölkerung mit Unterwanderungsängsten und anderen Befürchtungen verbunden. Die eigene religiöse Tradition wurde von nicht wenigen Menschen als tendenziell schwach und anfällig erlebt, sodass jede Form religiöser Werbung, jede Präsenz neuer Religionen als gefährliche Manipulation oder bedrohliches Indiz spiritueller Verwahrlosung erscheinen musste, auch im Schatten der damaligen Antisektenarbeit der Mehrheitskirchen. Das Nebeneinander von werbenden, durch keine staatlichen Privilegien gestützten Gemeinschaften war unvertraut und löste zuerst einmal massive Ängste aus, auch wenn die Erfolge dieser werbenden Gemeinschaften, nüchtern betrachtet, minimal und zudem oft vorübergehender Natur waren.
Einzig die christlichen Kirchen hatten eine detaillierte Tradition der kritischen Bewertung „neuer Religionen“ oder Gemeinschaften, und diese hatten eine schwere Altlast herkömmlicher Sektenklischees zu tragen, die letztlich oft aus der „anti-häretischen“ Literatur des Altertums und des Mittelalters stammten.
Divergierende Bewertungsdiskurse
Dabei bewerten wir nicht nur, wir werden auch bewertet. Als ich 2008/2009 über Religionen im Rhein-Main-Gebiet geforscht habe, war eine Leitfrage: Wie nehmen diese Gruppen und Szenen jeweils die evangelische Kirche wahr? Dabei ergab sich eine durchaus überraschende Typologie, die hier aber nicht weiter vorgestellt werden kann. Vor allem wurde deutlich, dass neben „öffentlichen“ immer auch interne, gruppenspezifische Bewertungsdiskurse stehen. In esoterischen Kreisen etwa, die sich nach außen in hohem Maße tolerant und dialogorientiert geben, war zuweilen eine massive, ja militante Christentumskritik zu hören, bis hin zu der Forderung, alle Priester einzusperren und die Kirchen als Volksverhetzer zu verbieten – wohlgemerkt verbunden mit einem massiven Toleranzpathos in der öffentlichen Selbstdarstellung. Dabei sind gerade die kritischen Außenwahrnehmungen der evangelischen Kirche von erheblichem Interesse, wenn wir Bewertungsdiskurse verstehen wollen. Auch im islamischen Bereich ist es ja doch ein offenes Geheimnis, dass sich Bewertungen in öffentlichen Erklärungen und z. B. im familiären Raum zuweilen radikal unterscheiden. Der herrschende, wenn auch vielen Menschen mächtig auf die Nerven gehende Geist politischer Korrektheit hat die öffentlichen kritischen Diskurse relativ zahm gemacht und fördert gelegentlich geradezu eine Art doppelter Moral, wenn es um Bewertungen geht.
Bewertungen geschehen also in divergierenden Diskursen und an sehr unterschiedlichen sozialen Orten, unter Umständen sogar durch ein und denselben Menschen. Sie können kirchlicher und journalistischer Art sein, allgemein staatsbürgerlicher oder pädagogisch-didaktischer, theologischer oder religionswissenschaftlicher Art. Dabei können sie sich auf divergierenden Niveaus bewegen, in sehr verschiedenen Milieus, und sie können sehr unterschiedliche Pragmatiken umsetzen. Am Stammtisch, im kirchlichen Gesprächskreis, im Volkshochschulkurs finden Bewertungsdiskurse ebenso statt wie im akademischen Seminar. Daneben ist die Fluktuation von Bewertungsdiskursen zu beachten. Für Papst Pius X. waren die Protestanten noch „Feinde Christi“ und „falsche Propheten“6: Wie rasch hat die Ökumene hier zu einer radikalen Umwertung geführt! Bewertungen können zudem spontan und wenig reflektiert auftreten oder in hohem Maße professionalisiert und reflektiert. Von Diskursen spreche ich deshalb, weil es nicht etwa nur um Argumentationsmuster oder Meinungsbilder geht. Ein Diskurs – ich gebrauche das Wort in einem weiten Sinn – ist ja nicht einfach eine Ideenwelt, sondern ein inhaltliches System, verbunden mit einem Legitimationsszenario und einer tragenden sozialen Struktur. Mit anderen Worten: Diskurs ist ein soziologischer Begriff, kein rein ideengeschichtlicher. Ein Diskurs verbindet immer ein Repertoire an Ideen und Motiven mit bestimmten Machtstrukturen und Legitimationsszenarien, die ihn stützen. Obwohl der Begriff zuweilen inflationär gebraucht wurde, ist er doch sinnvoll, wenn wir nicht vergessen wollen, dass wir mit Bewertungen innerhalb religiöser Landschaften über Strukturen kultureller Macht und Hegemonie sprechen. Bewertungen durch Mehrheitsreligionen werden anders wahrgenommen als solche durch kleine Minderheitsgruppen. Alles bisher Gesagte liegt auf der Hand und muss nicht vertieft werden. Bewertungsdiskurse in der Theologie sind vielfach Erbstücke unseres kirchlichen Traditums. Lassen wir einige dieser Traditionen Revue passieren!
Bewertungsdiskurse in der Theologie
Aus der alten Kirche und dem Reformationszeitalter besitzen wir einen zweifachen Häresiediskurs. Das griechische Wort hairesis meint ja von Hause aus eine Lehrmeinung, eine Schulrichtung und war einmal durchaus in bonam partem gemeint. Josephus nennt die jüdischen Religionsparteien haireseis, und die Apostelgeschichte weiß, dass die Jesusbewegung aus einer Fremdperspektive ebenfalls eine jüdische hairesis ist (Apg 24,5).7 Rasch gewinnt das Wort aber die Bedeutung der illegitimen und böswilligen Irrlehre gegen besseres Wissen (z. B. bei Irenäus adv. haer. 1, 11, 1) im Unterschied zum harmloseren Schisma. In diesem Sinn entfaltet die Alte Kirche eine immense häresiografische Literatur, deren schiere Aggression, deren Abgrenzungspathos uns oft überrascht (wir denken an Autoren wie Irenäus und Hippolyt, Epiphanius und Tertullian und im Neuen Testament etwa schon an die Pastoralbriefe). Dieses Pathos richtet sich gegen Judenchristen, gegen Juden, gegen gnosisnahe Gruppen und Gnostiker, gegen Philosophenschulen, gegen Manichäer und Täufergruppen und viele andere. Selbst Gruppen wie die Quartadezimaner, die sich nichts anderes haben zuschulden kommen lassen als Ostern an einem anderen (noch dazu traditionsgeschichtlich älteren) Termin zu feiern, werden mit ungeheurer Wucht aus der Kirche hinausgeworfen. Ein Häretiker im Sinne der Alten Kirche ist nicht etwa ein Mensch, der einfach eine andere Theologie vertritt, der etwas anders sieht als der Bischof, sondern er ist ein tief böswilliger Mensch, der gegen besseres Wissen eine offenkundige Wahrheit verdreht. Daher ist er, für uns befremdlich, immer ein moralisch böser und minderwertiger Mensch. Häresie ist insofern eine moralische Kategorie der Alterität: Der Häretiker ist nicht einfach der Andersdenkende. Vielmehr ist er derjenige, der mutwillig, aus eigenem Interesse die Wahrheit nicht wahrhaben will und andere Menschen in den Strudel seiner Lüge (nicht etwa seines Irrtums) hineinzieht.
Der Häretiker ist Verführer, und besonders gerne macht er sich an Frauen heran (schon 2. Tim 3,6f). Zur Häresie gehört der Trotz. Für die Alte Kirche ist der Häretiker sozusagen derjenige, der sagt: „Ich gehe jetzt erst recht immer bei Rot über die Straße und nicht bei Grün.“ Häresie ist eine Kategorie, die insofern an Verstocktheit angrenzt, wie sie auch den Juden nachgesagt wurde.8 Diese sind ja nach Auffassung der Alten Kirche nicht etwa deshalb keine Christen, weil sie das Christentum nicht überzeugt, sondern aus böswilliger, schuldhafter Verweigerung. Als Delegitimierungsdiskurs verbindet sich Häresie also immer mit Unmoral, Verführung und tritt in gefährliche Nähe zum Dämonischen.
Auch auf katholischer Seite wurde jahrhundertelang dieser altkirchliche Referenzrahmen ungebrochen weitergeführt. Daher wird in der gesamten älteren katholischen Martin-Luther-Literatur seit Johannes Cochläus, dem ersten Verfasser einer katholischen Lutherbiografie, nicht allein dessen Lehre, sondern primär die Persönlichkeit Luthers angegriffen: Um anders zu denken als die Kirche, muss er ein Hurenbock und Kleingeist, ein Nonnenverführer und vielleicht gar ein Teufelskind gewesen sein.9
Häresie in diesem Diskurs ist also ein Denken gegen besseres Wissen, natürlich auch eine Verweigerung der kirchlichen Autorität gegenüber, ein perverses Sich-der-Wahrheit-Entziehen. Dieses Konzept ist uns nun nicht gar so fremd, wie es vielleicht auf den ersten Blick scheinen könnte. Es existiert gelöst von kirchlichen Denksystemen etwa in der gesellschaftlichen Wahrnehmung von Holocaustleugnern und rechtsradikalen Rassisten. Kann ein kluger Mensch guten Willens und Gewissens ein Holocaustleugner sein? Wir würden im Allgemeinen wohl sagen: nein. Es muss eine extreme Verkehrung der Wahrnehmung und Wertung stattgefunden haben. In einer vergleichbaren Weise hat die herrschende Epistemologie des Mittelalters „Häresie“ wahrgenommen: nicht als „anderes Denken“, sondern als eine verdrehte, sich einer auf der Hand liegenden Wahrheit böswillig verweigernde Haltung. Als solche ist sie dämonischen Ursprungs und hat Nähe zu anderen Manifestationen des Bösen. Das Häresiekonzept dient also nicht einfach der Abwehr von Pluralismus oder Alterität, sondern es ist ein moralisches Konzept. Der Häretiker gilt als böswilliger Abweichler. Es ist selbstverständlich, dass ein solches Konzept nicht mehr nachsprechbar ist und auch moderne Wahrnehmungen religiöser Differenzen anders ausfallen werden.
Früh haben sich freilich auch Gegendiskurse gebildet, inszeniert oft als Rehabilitationen der Häretiker. Die Kundigen werden etwa an Gottfried Arnolds „Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie“ (Leipzig und Frankfurt am Main 1699f) denken, ein wichtiges Buch radikalpietistischer Neusichtung der Geschichte. In der Esoterikszene ist „Häretiker“ längst zum Ehrennamen geworden, zum Teil freilich in extremer Verkennung dessen, wofür bestimmte Gruppen der Vergangenheit tatsächlich stehen (z. B. die Katharer und Bogumilen des Mittelalters). Der Häresiediskurs hat also Gegendiskurse erzeugt. Wenn allerdings Peter L. Berger vom „Zwang zur Häresie“ als einem Grundzug der religiösen Gegenwart sprach, meinte er das in einem anderen Sinn: Religion wird, ob wir es wollen oder nicht, zum Gegenstand der individuellen Wahl, auch in konservativen oder „orthodoxen“ Systemen.10
Im Reformationszeitalter treten evangelischerseits zum Häresiediskurs noch der Schwärmereidiskurs und der Papismusdiskurs hinzu. Ersterer verteidigt energisch das entstehende evangelische Amt. Er richtet sich nicht primär gegen bestimmte emotionale Ausdrucksformen von Glauben oder gegen die Mystik, sondern primär gegen Infragestellungen des sich etablierenden evangelisch-kirchlichen Amtes. Luthers Kampf gegen die frühen sogenannten Schwärmer bietet hier nur gewissermaßen eine Folie: Unter Berufung auf diese frühen Ausgrenzungsprozesse (deren Sachgemäßheit zu bestreiten mir durchaus fernliegt) konnten später die verschiedensten Infragestellungen des Amtes und Individualisierungen des Glaubens als „Schwärmerei“ diskreditiert werden. In der Sektenliteratur begegnen wir dem Schwärmereidiskurs bis in die 1970er Jahre, zum Teil bis heute, insbesondere in der Wahrnehmung pfingstlicher und charismatischer Bewegungen. Dass Menschen sich in Gottesdiensten schräg, emotional, aufgewühlt verhalten, ist hier ein Kriterium der Diskreditierung. Eine Steigerung innerhalb dieses Diskurses ist die Dämonisierung des Gegners: Die Berliner Erklärung von 1910 hatte die Pfingstbewegung etwa als nicht vom Heiligen Geist, sondern von den Dämonen inspiriert qualifizieren wollen.11
Der Papismusdiskurs (von der bürgerlichen Kirchenkritik zu unterscheiden), der in den USA deutlicher als in Deutschland existiert, kennt nur zwei Arten von Religion: solche, die am Evangelium, und solche, die an der Gesetzesgerechtigkeit orientiert ist. Für Luther sind daher – für uns sehr befremdlich – Katholizismus, Judentum und sogar Islam im innersten Wesen identisch: Sie stellen den Menschen nämlich auf die Werke des Gesetzes und nicht auf die Gnade. Viele im engeren Sinn theologische Bewertungen von neuen religiösen Bewegungen in der evangelischen Kirche haben sich seit Kurt Hutten im Schatten des Papismusdiskurses entwickelt.12 Der Glaube als Werk, der religiöse Lebensstil als Gott wohlgefällige Leistung, die Kirche als präzise definierter Heilsraum, der mit der Institution einer konkreten Kirche ungebrochen identisch ist, sind hier einige der Erzfeinde, die auszugrenzen der Diskurs antritt.
Der Papismusdiskurs hatte zudem einen Aspekt der Skepsis gegen „äußere Riten“, also eines protestantischen Misstrauens gegen das Rituelle, gegen bunte Gewänder und überhaupt gegen alles, was man sehen und anfassen kann (formuliert z. B. bei Schleiermacher; aber noch bei Niklas Luhmann haben Rituale einen Aspekt der Kommunikationsvermeidung, einer „Ausschaltung reflexiver Kommunikation“13). Diese Skepsis wirkt bis heute nach, vor allem gegen stark rituell orientierte Gruppen in der neopaganen Szene. Wenn eine Gruppe in bunten Gewändern auftritt und ihre Riten zelebriert, ist das in diesem Diskurs ein Argument gegen ihre Seriosität (außer natürlich, es handelt sich um katholische Priester, die gewissermaßen eine Sonderlizenz haben, in bunten Gewändern aufzutreten). Da die Wiederentdeckung des Rituals aber ein Grundzug der religiösen Gegenwartskultur ist, ergeben sich hier allerlei Diskurskonkurrenzen. Der Kommentator religiöser Landschaften kann dann einerseits ein protestantisches Ritualvakuum beklagen, sich aber wenig später über Ritualbekleidungen in allerlei kuriosen Gruppen lustig machen.
Gesellschaftliche Bewertungsdiskurse
Neben diese kirchlichen Diskurse treten bürgerliche und aufklärerische Bewertungen. Sie suchen in der Religion rationale, vor allem ethische Systeme, die sich vor dem Forum der Vernunft zu verantworten haben. Anstößig sind hier vor allem Hierarchisierungen, Autoritätsstrukturen und Verweigerungen gegenüber den Epistemologien der Moderne. Der „andere“ ist in diesem säkularen Diskurs vor allem eines, nämlich „dumm“ oder auch „schräg“, nicht mehr verschlagen und listig wie im Häresiediskurs. Außerdem ist er schwach, denn er braucht und sucht ja „Autorität“. Das Sektenmitglied ist hier der religiöse Softie, der sich – ins Kirchliche übertragen – an der männlich-starken Autarkie des evangelischen Pfarrers nicht messen kann. Während das Sektenmitglied im Häresiediskurs sozusagen zu viel Eigenwillen hat, hat es hier zu wenig. Der Hauptvorwurf heißt daher Unmündigkeit. Die neue religiöse Bewegung wird dabei zu einem voräufklärerischen Anachronismus.
Dieser Sektendiskurs konnte sich auch, vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit dem Aberglaubendiskurs verbinden, der schon aus der antiken Philosophie stammt: „timor inanis deorum“ (de natura deorum 1,117), unsinnige Furcht vor den Göttern ist der Aberglaube bei Cicero. In trivialisierter Form richtet sich das gesellschaftliche Augenmerk dabei vor allem auf Kuriosa: Sekten dienen in diesem Diskurs einer bürgerlichen Unterhaltung. Es macht Spaß, ihnen im Fernsehen zuzuschauen.
Ein Hauptinterpretament eines solchen Diskurses, der sich schon im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt hat, sagt ja: Eine Bewegung ist „eigentlich“ nicht das, was sie zu sein vorgibt, sondern „eigentlich“ etwas ganz anderes. Als Friedrich Schiller sein Romanfragment „Der Geisterseher. Aus den Memoiren des Grafen von O***“ (in mehreren Fortsetzungen zwischen 1787 und 1789 in der Zeitschrift Thalia erschienen) schrieb, konnte er ein Klischee voraussetzen, dass es den katholischen Jesuiten „eigentlich“ nicht um Erziehung und religiöse Bildung geht, sondern um die Etablierung katholischer Herrscherdynasten, die dann die Bevölkerung rekatholisieren sollen. Es soll Schiller zugutegehalten werden, dass er später mit diesem Romanfragment – seinem kommerziell erfolgreichsten Text – nicht sehr zufrieden war und seinen Kolportagecharakter durchschaute.14
Der Generalverdacht innerhalb des bürgerlichen Sektendiskurses heißt: Sie wollen ja gar nicht das Seelenheil, sondern Macht und Geld. Auf Stammtischniveau ist das bis heute der Hauptvorwurf gegen deviante Gemeinschaften, auch wenn deren finanzielles Vermögen in der Realität durchaus bescheiden sein sollte. Das ist auch deshalb interessant, weil genau dieser Vorwurf gegen die frühen Christen gemacht wurde. Im 2. Jahrhundert schreibt Lukian, gebürtiger Syrer und spöttischer Beobachter der römischen Welt, über eine kleine neue Religion aus Palästina und ihre „wunderliche Weisheit“. Ein Wanderphilosoph namens Peregrinus Proteus hatte sich der Bewegung um 120 n. Chr. angeschlossen und den leichtgläubigen Christen (wie Lukian sie sieht) das Geld aus der Tasche gezogen. Einen kurzen Gefängnisaufenthalt übersteht er unbeschadet und macht rasch Karriere bei der neuen Gemeinschaft, ehe er das Interesse verliert. Die Verehrung der neuen Religion für einen toten Zimmermann bleibt Lukian völlig unverständlich, für den die ganze Episode im Leben des Peregrinus nur ein Beispiel manipulativer Gaunerei ist, bei dem der Betrüger Peregrinus nicht besser wegkommt als die neue Religion und ihre aus seiner Sicht kuriosen Anhänger.15 Die Sektendiskurse haben eine jahrhundertelange Vorgeschichte, die mit zu bedenken immer hilfreich ist.
Die Blickweise des Satirikers auf das entstehende Christentum ähnelt auf überraschende Weise den Verdächtigungen, mit denen in unserer Gegenwart neue und kleine Minderheitsreligionen immer wieder von Mehrheiten wahrgenommen werden. Daher kann die Theologie, wenn sie die Anfänge des Christentums erforscht, viel von dem lernen, was sich heute zwischen etablierten Mehrheitsreligionen und neuen Minderheitsreligionen an Dynamiken bewegt. Wer war es z. B., der die Christen bei den Christenverfolgungen den Behörden angezeigt hat? Manches spricht dafür, dass es offenbar öfter Exchristen waren – die aggressivsten Gegner der neuen Religion, so wie heute meist ehemalige Anhänger einer neuen Religion ihre wichtigsten öffentlichen Kritiker werden.
Für die Erforschung des frühen Christentums ist es lehrreich, es auch aus der Sicht seiner Gegner zu sehen. Solche Außen- und Innenperspektiven miteinander ins Gespräch zu bringen, ist eine der vielen Aufgaben der Religionswissenschaft. Das alles ist hier für uns nur ein Nebengedanke. Vergleiche zwischen antiken und modernen Entwicklungen bergen natürlich spezifische Gefahren: Vergleichen ist ein verführerisches Geschäft, und es kann niemals einen Beweis darstellen. Der Verzicht auf den kulturübergreifenden Vergleich (öfters gefordert) führt aber umgekehrt dazu, dass die tatsächlichen erkenntnisleitenden Referenzgrößen unausgesprochen bleiben: Und das ist für alle historischen Wissenschaften fatal.
Eine weitere Anmerkung mag hier ihren Platz finden, ehe wir unseren Blick auf die Bewertungsdiskurse fortsetzen. Allgemein lässt sich ja eine „Tendenz zur Mitte“ beobachten. Wir erwähnen diese Entwicklung hier, weil sie die gesellschaftlichen Bewertungsdiskurse flankiert. Religionsgemeinschaften nähern sich mehrheitlich einem „Normaltyp“ von Gemeinschaft an. Mitgliedschafts- und Leitungsstrukturen, das Spektrum an Formen von Verbindlichkeit und innerer Zugehörigkeit, an sozialer und diakonischer Verantwortung, an Kinder-, Jugend-, Seniorenarbeit und anderen „Angeboten“, an Teilnahme an kommunalen und interreligiösen Zusammenhängen usw. gleichen sich an. Diese Tendenz zum „Mainstream“ hängt mit einem allgemeinen gesellschaftlichen Erwartungsdruck gegenüber religiösen Gemeinschaften zusammen, spezifische Funktionen zu erfüllen. Ein Kanon lebensbegleitender Rituale etwa bildet sich fast überall parallel heraus.
Ähnlich ist ja auch der „Abstand“, d. h. der phänomenologisch-strukturelle Unterschied zwischen landeskirchlichen und freikirchlichen Gemeinden tendenziell geringer geworden. Gruppen, die früher als Sekten galten, entsprechen immer mehr dem Bild einer Freikirche. Aber auch jüdische Gemeinden und selbst islamische Gruppen spüren den Druck, dem „Normalbild“ einer protestantischen oder katholischen Gemeinde zu entsprechen. Warum ist das so? Solche Fragen flankieren die Erforschung neuer Religionen; wir können sie hier nicht vertiefen.
Wir kehren zum „Sektendiskurs“ zurück. Menschen in „anderen“ Glaubensgemeinschaften mussten nach diesem entweder Opfer oder Verführer sein, oft beides gleichzeitig, und ihre Entscheidung für eine Gemeinschaft abseits der beiden großen Kirchen konnte keinesfalls mit rechten Dingen zugegangen sein. Gutwillige, kluge, informierte Menschen, die aus freier Entscheidung eine christliche Kirche verließen, konnte es in diesem ideologischen Konstrukt grundsätzlich nicht geben. Als die Mormonen Mitte des 19. Jahrhunderts in Großbritannien und den USA erhebliche Missionserfolge hatten, erklärten dies die etablierten Kirchen mit den „hypnotischen“ (mesmerischen, wie man damals sagte) Kräften ihrer Prediger. Wenig früher hatte man von Behexung gesprochen; in den 1970er Jahren bürgerte sich dann dafür der aus der militärischen Propaganda des Koreakrieges überkommene Fantasiebegriff der „Gehirnwäsche“ ein.16
Beurteilungskriterien
Im öffentlichen Diskurs war und ist bis in die Gegenwart der Sektenbegriff symptomatisch. Man meint zu wissen, was typisch sei für eine Sekte, und die Zuordnung einer Gemeinschaft zu diesem Label setzt klar umrissene Vorstellungsbilder und Reaktionen frei. Welche Kriterien der Beurteilung besitzt also der tradierte Sektendiskurs im gesamtgesellschaftlichen (weniger im kirchlichen) Rahmen? Einige Wahrnehmungsgesetze dieses Bewertungssystems sind rasch benannt.
1. Alte Religionsgemeinschaften werden mit mehr Respekt behandelt als neue. Das gilt erstaunlicherweise auch unabhängig von unserer Vertrautheit mit diesen Gemeinschaften („neu“ meint also nicht etwa: „neu für uns“). Im Hintergrund ist ein archaisches Motiv zu vermuten, welches „Wert“ und „Alter“ miteinander koppelt. Kulturmorphologisch interessant ist dieses praktisch ungebrochen herrschende Paradigma auch deshalb, weil es dem Fortschrittsdiskurs widerspricht. Niemand sagt: Ich habe einen tollen Computer gekauft, er ist schon 40 Jahre alt! Religion wird damit zur einer „Alternativkultur“ gegenüber der herrschenden Wachstums- und Fortschrittskultur. „Dies ist eine Jahrtausende alte spirituelle Technik“ ist ein Argument füreine religiöse Praxis, während es in fast allen anderen Kulturbereichen ein Argument gegen eine Sache wäre.
2. Große Religionsgemeinschaften werden mit mehr Respekt behandelt als kleine. Dabei müssen die Verhältnisse in Deutschland nicht unbedingt die globalen Realitäten widerspiegeln. Großen Religionsgemeinschaften gegenüber wird daher Kritik mit sehr viel mehr Höflichkeit und Zurückhaltung ausgedrückt als kleinen. Insbesondere wird allein großen Religionsgemeinschaften gegenüber differenziert, also ein Unterschied lokaler Gegebenheiten oder persönlicher Aspekte gegenüber der Gesamtgruppe zugesprochen. Bei kleinen Gemeinschaften tendieren wir eher dazu, problematische Vorkommnisse auf die Gruppe zu projizieren, als Eigenschaft der Gruppe zu werten. Bei kleineren Gruppen erlauben sich Menschen auch viel eher z. B. nach einem einmaligen Besuch das Recht auf eine Meinung. Jeder würde nur lachen, wenn jemand sagte: Ich habe ein klares Bild von der katholischen Kirche und ihren Fehlern, denn ich war ja einmal in einer Messe. Gegenüber kleinen Gruppen sind solche raschen Urteile nach wie vor nicht als unseriös diskreditiert.
3. Äußerlich (d. h. in Kleidung, Lebensstil, Umgang mit Zeit und Geld) angepasste Gemeinschaften werden mit mehr Respekt behandelt als deviante. In diesen Fragen devianten Gemeinschaften wird mit Neugier, aber auch Skepsis und Zurückhaltung begegnet. Viele erinnern sich noch an die Wirkung, die von den asiatischen Flattergewändern erst der Hare-Krishna-Bewegung, später der Sannyasins des Osho ausging. Anders gesagt: Die kulturelle Alterität oder genauer gesagt Devianz einer Gemeinschaft bestimmt nicht unwesentlich ihren Platz in der Wahrnehmungshierarchie.
Gegenläufig wirkt allerdings eine gelegentliche Exotismusfaszination, deren Bezug freilich wechselt. In der Esoterik ist ja längst das vorherrschende Motiv-, Symbol- und Stoffrepertoire nicht mehr „östlich“, sondern „westlich“. Das faszinierend andere ist dann nicht das Asiatische, sondern gerade das „Westliche“. Zur westlichen Esoterik gehören Themen wie Engel, Alchemie, Magie, Geistheilung, Gnosis, Tempelritter, Kraftorte, Geheimgesellschaften, Kelten, Hexenforschung, Schamanen, Matriarchatstheorien, Indianer, Okkultismus, Mysterien etc. Natürlich sind „östliche Themen“ (Meditation, Zen, Buddhaschaft, Dao) weiter präsent: Sie herrschen aber längst nicht mehr vor. Die Esoterik ist – trotz des Erfolges des Dalai Lama – in den letzten 30 Jahren kontinuierlich „westlicher“ geworden. Orte religiöser Sehnsucht sind nicht mehr Kathmandu, Poona oder der Ganges, sondern Stonehenge, Glastonbury, Rennes-le-Château, Mount Shasta, vor allem Stätten, an denen Christliches und Heidnisches zusammenfließt.
4. Gemeinschaften, die in moralischen Fragen den durchschnittlich praktizierten Lebensstil legitimieren, werden als „unproblematischer“ empfunden als solche, die einen stark divergierenden Lebensstil favorisieren, sei dieser strenger oder auch „laxer“ als derjenige der Mehrheit. Allerdings erhalten Gemeinschaften, die für stabile Werte stehen, einen „Vertrauensvorschuss“. Diese verschiedenen, z. T. konkurrierenden Tendenzen und Kriterien können durchaus komplizierte Bewertungsszenarien ergeben. Wichtig hierbei ist, dass angesichts der raschen Veränderungen und der Milieubedingtheit gesellschaftlicher Lebensstile diese Wertungen ebenfalls wechseln können. Libertinismus- und Skandalvorwürfe (selbst wenn diese faktisch nur auf das hinauslaufen, was gesamtgesellschaftlich gängige Praxis ist) dienen der bürgerlichen Welt als wichtige Legitimationen zur Etablierung von Distanz gegenüber Religion, werden also sofort instrumentalisiert und stoßen damit auf reges Medieninteresse. Ähnlich ist es mit der Autorität: Autoritätskritische Gruppen gelten als höherwertiger als Gruppen mit strengen Autoritätsdiskursen, obwohl etwa die Zeiten antiautoritärer Erziehungsideale doch lange vorbei sind.
5. Missionarisch zurückhaltende Gemeinschaften werden mit mehr Respekt behandelt als missionarisch offensive. Möglicherweise wird sich dies im Zuge der Rehabilitierung von „Mission“ in den evangelischen Landeskirchen seit etwa den 1990er Jahren ändern. In Ostdeutschland ist die Situation hier auch eine andere als in Westdeutschland. Aber mehrheitlich-gesamtgesellschaftlich, d. h. im öffentlichen Diskurs, dürfte eine mögliche Verschiebung dieses Wahrnehmungsmusters noch längere Zeit beanspruchen. Nach wie vor gilt es gerne als Argument für eine Gruppe, dass sie ja doch „keine Mission betreibe“ (und also so schlimm nicht sein könne). Diese Kuriosität fällt vor allem auf, wenn mit Gesellschaften und Staaten verglichen wird, in denen dieses Wahrnehmungsmuster schlechterdings nicht existiert (wie der amerikanischen) oder in denen die werbende Konkurrenz zwischen Islam und Christentum ein Grundfaktor öffentlicher Religion ist (wie zur Zeit in vielen afrikanischen Staaten). Die langjährige Diffamierung von Mission in der evangelischen Theologie wirkt hier noch nach, auch wenn sie in der Theologie selbst überwunden ist.
6. Gemeinschaften, die dem Staat ihre Loyalität bekunden, werden mit mehr Respekt behandelt als solche, die etwa grundsätzliche Skepsis oder Kritik an westlichen Staaten äußern. Politisches Engagement wird dabei radikal divergierend wahrgenommen. Dieser Sachverhalt ist so auffallend, dass er einer eigenen Analyse bedarf. Von großen, etablierten Gemeinschaften werden im öffentlichen Diskurs politische Positionen und Unterstützung sozialer Anliegen erwartet (wenn auch durchgehend keine „Parteipolitik“). Dem politischen Engagement kleiner Gemeinschaften wird dagegen mit grundsätzlicher Skepsis, Unterwanderungsängsten und Projektionen begegnet. Dies ist praktisch unabhängig davon, was die sozialpolitische oder sonstige Agenda dieser Gemeinschaften tatsächlich ist. Die bloße Tatsache einer politischen oder gesellschaftlichen Agenda führt hier zu Ängsten.
7. Netzwerkorientierte Gemeinschaften werden mit mehr Respekt behandelt als an Leitern und Führungspersönlichkeiten orientierte.
Damit dürften einige wesentliche Kriterien genannt sein, nach denen die Öffentlichkeit und weitgehend auch die kirchliche Öffentlichkeit „fremde“ und „neue“ Religionen faktischbeurteilt. Mit Theologie oder dem christlichen Traditum hat keines dieser Kriterien viel zu tun, obwohl überkommene Vorbehalte in säkularisierter Form nachwirken. Positive Kriterien wie theologische Nähe zur eigenen Tradition, ökumenische und interreligiöse Offenheit, staatsbürgerliche und gesamtgesellschaftliche Übernahme von Mitverantwortung, aber auch negative Kriterien der Wertung wie massive, restriktive Autoritätsstrukturen, Ausgrenzungen von Wirklichkeit im Symbolsystem einer Religion, Rassismus, Sexismus, ungenügende Verurteilung von Gewalt etc. spielen zwar vordergründig eine ausschlaggebende Rolle im Bewertungsgefüge von Religionen, aber untergründig stößt eine religionswissenschaftlich sensibilisierte Beobachtung sofort und fast ausnahmslos zumindest auch auf verborgen wirkende Kriterien wie die oben beschriebenen.
Hierarchie der Religionen
Aus solchen Kriterien ergibt sich eine stillschweigende Hierarchie der Religionen. Die folgende These ist provisorisch und sicher auch partiell angreifbar. Sie beruht auf vielen subjektiven Beobachtungen, aber auch auf einer Befragung evangelischer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Dekanat Kronberg im Jahr 2009 sowie vielen Gesprächen in zahlreichen Gemeinden, die mich zum Thema religiöser Pluralismus, neue religiöse Bewegungen und zu ähnlichen Themen eingeladen haben. Ich meine z. Zt. folgende Bewertungshierarchie in landeskirchlich-evangelischen Kreisen des „Mainstreams“ vorzufinden, zu gewissen Teilen auch in mir selbst (mit nur geringen Abweichungen im Detail):
- Judentum (tendenziell der Kritik enthoben, sozusagen „außer Konkurrenz“)
- evangelische Kirche
- evangelische Schwesterkirchen, ökumenische Partnerkirchen außerhalb Deutschlands (unabhängig davon, wie diese Kirchen innerhalb Deutschlands beurteilt würden)
- katholische Kirche
- ethnische Gemeinden
- evangelische Freikirchen des missionarisch eher zurückhaltenden Typs
- buddhistische Gruppen
- etablierte islamische Gruppen, Bahai und einige andere
- evangelische Freikirchen des missionsaktiven Typs
- neohinduistische missionsaktive Gruppen, esoterische Gemeinschaften etc.
- traditionelle evangelische „Sekten“ (z. B. Zeugen Jehovas), Mormonen, Unification Church etc.
- Scientology
- islamistische Gruppen, Salafisten etc.
- „braune“ Gruppen
Diese Liste hat entschieden ein „Oben“ und „Unten“; sie ist eine Bewertungshierarchie. Ein kriminelles oder problematisches Verhalten von Menschen etwa wird weiter „unten“ eher der Gruppe als ganzer zugeschrieben, weiter „oben“ eher dem Einzelnen. Politisches Engagement (unabhängig von seinem konkreten Inhalt) werden wir weiter oben begrüßen, weiter unten eher misstrauisch oder ängstlich betrachten usw. Was ergibt sich daraus für unsere selbstkritische Arbeit an unseren (notwendigen) Bewertungen? Wie können und sollen wir bewerten bzw. kontextualisieren? Jede Wertung wird den Schulterschluss mit sozialempirisch erhebbaren Fakten suchen müssen und um ergebnisoffene Forschung zu ringen haben. Max Weber hat bekanntlich als erste Pflicht der akademischen Lehre bezeichnet, „unbequeme Tatsachen anerkennen zu lehren”17 (in seinem berühmten Essay über Wissenschaft als Beruf). Das wird auch in der Analyse religiöser Landschaften zu beachten sein. Klassische Modelle einer Theologie der Religionen (exklusive, inklusive und pluralistische Ansätze) müssen in ihren spezifischen Teilwahrheiten zur Geltung gebracht werden, reichen aber offenbar in ihrer Deutungs- und Trennschärfe noch nicht aus, um die Vielfalt heute gelebter Religion theologisch zu würdigen. Diese weiterführenden Fragen können in diesem kleinen Essay nicht mehr entfaltet werden.
Marco Frenschkowski, Leipzig
Anmerkungen
- Vortrag bei der Jahrestagung der EZW am 15. Mai 2013 (gekürzt). Die Vortragsform wurde partiell beibehalten.
- Ernst Käsemann, Zum gegenwärtigen Streit um die Schriftauslegung (1962), in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 2, Göttingen 31970, 272.
- Ich verwende zum Teil Formulierungen aus meinem Vorwort zu Gerald Willms, Die wunderbare Welt der Sekten. Von Paulus bis Scientology, Göttingen 2012, 11-15.
- Zu den Wahrnehmungskategorien speziell freikirchlicher Gruppen vgl. Erich Geldbach, Glossar der Bezeichnungen für christliche „Außenseiter“ und Organisationen, in: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen, 10. Ergänzungslieferung 2005 (II-2.1.9).
- Besonders interessant ist dabei für den Religionswissenschaftler die Frage, warum sich zu bestimmten Zeiten das öffentliche Interesse gerade auf bestimmte Gruppen richtet. Zum Fall der Scientology Kirche habe ich eine Antwort versucht in: Die Scientology Kirche (Church of Scientology) und ihre kulturgeschichtlichen Hintergründe, in: Michael Klöcker/Udo Tworuschka (Hg.), Handbuch der Religionen, 20. Ergänzungslieferung 2009 (IX-7.1); eine Studie zu den deutschen Gerichtsverfahren, in die Scientology involviert war, ist in Vorbereitung.
- Zu vergleichen sind seine Enzykliken „Editae saepe“ vom 26. Mai 1910 und „Pascendi dominici gregis“ (gegen die „Modernisten“) vom 8. September 1907.
Vgl. zum älteren Häresiebegriff Walter Bauer/Frederick W. Danker, A Greek-English Lexicon of the New Testament and Other Early Greek Literature, Chicago/London 32000, 27f; zum späteren Konzept Hans Dieter Betz/Alfred Schindler/Wolfgang Huber, Art. Häresie, in: TRE 14 (1985), 313-348.
- Zum Konzept der Verstockung und seiner Deutungsgeschichte auch außerhalb der Theologie s. Marco Frenschkowski, Art. Verstockung, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie (HWbPh) 11, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel, Basel 2001, 942-948.
- Vgl. Adolf Herte, Das katholische Lutherbild im Bann der Lutherkommentare des Cochläus, 3 Bde., Münster 1943.
- Peter L. Berger, The Heretical Imperative. Contemporary Possibilities of Religious Affirmation, Garden City 1979.
- Vgl. meine Deutung der Zusammenhänge im Art. Pfingstbewegung/Pfingstkirchen I. Kirchengeschichtlich, in: RGG4, Bd. 6 (2003), 1232-1235; Art. Charismatische Bewegung, in: Friedrich W. Horn/Friederike Nüssel (Hg.), Taschenlexikon Religion und Theologie, 3 Bde. und Registerband, Göttingen 2008, 218-221.
- Vgl. außer Kurt Huttens Klassiker Seher, Grübler, Enthusiasten. Das Buch der traditionellen Sekten und religiösen Sonderbewegungen, Stuttgart 1950, 12. A., ebd. 1982, etwa auch ders., Die Glaubenswelt des Sektierers. Das Sektentum als antireformatorische Konfession – sein Anspruch und seine Tragödie, Hamburg 1957.
Vgl. Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984 (1988), 613.
- Ausführlicher diskutiert in Marco Frenschkowski, Die Geheimbünde. Eine kulturgeschichtliche Analyse, Wiesbaden 2007, 42010, 192-197.
- Vgl. Lukian, Der Tod des Peregrinos. Ein Scharlatan auf dem Scheiterhaufen, hg., übers. und mit Beiträgen versehen von Peter Pilhofer u. a., Darmstadt 2005.
- Zu seiner Geschichte s. J. Gordon Melton/Massimo Introvigne (Hg.), Gehirnwäsche und Sekten. Interdisziplinäre Annäherungen, Marburg 2000.
- Max Weber, Wissenschaft als Beruf 1917/1919, in: ders., Wissenschaft als Beruf 1917/1919. Politik als Beruf 1919. Studienausgabe der Max Weber-Gesamtausgabe I/17, hg. von Wolfgang J. Mommsen u. a., Tübingen 1994, 16.