Religiöse Landschaft

Neue Studie zeigt, wie die Einführung des Ethikunterrichts die Religiosität verändert hat

Das Wirtschaftsforschungsinstitut ifo hat im Januar die Ergebnisse einer großen Untersuchung veröffentlicht, in der die Auswirkungen der Teilnahme am Ethikunterricht anstelle des Religionsunterrichts untersucht wurden. Dazu wurden Umfragedaten von mehr als 58 000 Erwachsenen ausgewertet, die zwischen 1950 und 2004 in Westdeutschland eingeschult worden waren. Die westdeutschen Bundesländer ersetzten den verpflichtenden Besuch des Religionsunterrichts durch eine Wahlmöglichkeit zwischen Religions- und Ethikunterricht (zu unterschiedlichen Zeitpunkten: von 1972 in Bayern bis 2004 in Nordrhein-Westfalen). Vor der Reform war der verpflichtende Religionsunterricht laut Mitteilung des ifo-Instituts sehr intensiv: Er umfasste während der Schulzeit insgesamt etwa 1000 Unterrichtsstunden, das bedeutete in manchen Bundesländern etwa viermal so viele wie der Physikunterricht.

Die Einführung des Fachs Ethik habe die Religiosität der Schülerinnen und Schüler im Erwachsenenalter verringert, was wenig verwundert. Sie hätten später weniger an Gottesdiensten teilgenommen oder gebetet, manche seien auch aus der Kirche ausgetreten, teilte das ifo-Institut mit. Nach den Befragungsergebnissen hatte die Einführung der Wahlmöglichkeit zwischen Ethik und Religion weder Einfluss auf die Lebenszufriedenheit noch auf das ethische Verhalten (z. B. ehrenamtliches Engagement). Allerdings habe der Rückgang an Religiosität Folgen für das Familienleben und den Arbeitsmarkt gehabt. Traditionelle Einstellungen zur Aufgabenverteilung der Geschlechter und zur Notwendigkeit der Eheschließung hätten abgenommen. Es habe weniger Ehen und Geburten gegeben, dafür seien die Arbeitsmarktbeteiligung, Arbeitszeiten und das Lohnniveau höher. Diese Befunde verdeutlichen, wie konkret sich Werthaltungen auf die Lebenspraxis auswirken.

Bei der Interpretation der Ergebnisse ist zu berücksichtigen, dass nur Personen aus den alten Bundesländern befragt wurden. Die Bevölkerung der westlichen Bundesländer war deutlich christlicher geprägt als der Osten. Die Befragungen des Religionsmonitors (Pickel 2013) haben die großen Religiositätsdifferenzen zwischen Ost- und Westdeutschland recht präzise beschrieben. Die Gruppe der „Hochreligiösen“ – d. h. religiöse Überzeugungen und Praktiken spielen eine zentrale Rolle in der Alltagsgestaltung – umfasste in Ostdeutschland 10 Prozent, während sie im Westen 22 Prozent ausmachte

Ein weiterer Erkenntnisgewinn der Studie liegt in der Schlussfolgerung des ifo-Teams, dass die Einführung des Fachs Ethik einen Modernisierungsschub beim Religionsunterricht bewirkt habe. Während in früheren Lehrplänen nichtchristliche Religionen überhaupt nicht erwähnt worden seien, habe sich das in der Konkurrenzsituation mit dem Ethikunterricht geändert. Nun habe die Beschäftigung mit fremden Glaubensformen im Religionsunterricht einen immer breiteren Raum eingenommen. Früher habe der Religionsunterricht die Schüler eher zum christlichen Glauben hinführen wollen, während neuere Lehrpläne mehr ein auf christlichen Werten begründetes Verhalten betonen und den interreligiösen Dialog fördern, schreiben die Forscherinnen und Forscher.

Seit einigen Jahrzehnten nimmt der Stellenwert christlicher Positionen im gesellschaftlich-politischen Diskurs kontinuierlich ab; sie sind von der Mehrheitsmeinung zu einer Stimme unter vielen geworden. Die Anerkennung dieses Bedeutungswechsels fällt manchen Christinnen und Christen schwer. In einer pluralistischen Gesellschaft ist aber das Gespräch mit Menschen anderer Prägungen und Überzeugungen unverzichtbar. Die Schule ist ein zentraler Ort, um anderen Lebensmodellen als denen der eigenen Familie zu begegnen und die eigene Werteskala mit anderen zu vergleichen. Der Reflexions- und Begegnungsraum Schule hat auch deshalb an Bedeutung gewonnen, weil die religiöse Sozialisation in der Familie rapide abgenommen hat. Je früher dieses Gespräch beginnt, desto natürlicher wird es geführt werden – ob im Religions- oder Ethikunterricht.


Michael Utsch, 01.03.2022

 

Quellen

www.ifo.de/node/67320 (Pressemitteilung des ifo-Instituts)

www.cesifo.org/DocDL/cesifo1_wp9504.pdf (ifo-Studie)

Pickel, Gerd (2013): Religionsmonitor – verstehen was verbindet, Gütersloh 2013.