Buddhismus

Neue Untersuchung über Machtmissbrauch in buddhistischen Gruppen

Der angesehene tibetische Lama Dagri Rinpoche (geb. 1958) wurde im Mai wegen Vorwürfen sexueller Belästigungen vorübergehend von seiner Lehrtätigkeit suspendiert. Der international tätige Meditationslehrer aus der Gelugpa-Tradition soll enge Kontakte zum Dalai Lama haben. Eine Gruppe prominenter buddhistischer Nonnen setzt sich dafür ein, dass eine unabhängige Organisation mit einer Untersuchung der Vorfälle beauftragt wird, und hat dafür eine Petition gestartet. Damit gibt es einen weiteren „gestrauchelten Guru“, der die Liste etablierter buddhistischer Gruppen verlängert, denen vorgeworfen wird, dass durch den Machtmissbrauch seitens des Leiters Inhalte und Ziele ihrer Lehre ins Gegenteil verkehrt worden seien.

Eine neue Studie untersucht die psychischen Auswirkungen von Machtmissbrauch in buddhistischen Gruppen (SFU Research Bulletin 7/2019, 32-59, http://journals.sfu.ac.at/index.php/sfufb/article/view/245 ). Die Forscherin Miriam Anders, promovierte Psychologin und Tibetologin mit langjährigen Indienaufenthalten, will spezifische psychotherapeutische Behandlungsansätze entwickeln, um von Machtmissbrauch Betroffenen helfen zu können. Aus ihrer bisherigen Forschung geht hervor, dass Gruppen mit starken Hierarchien durch asymmetrische Beziehungen geprägt sind, die vielfältige Möglichkeiten zur Manipulation bieten. Durch die starke Sehnsucht nach Erleuchtung im Sinne von Befreiung von Leiden werde die bedingungslose Hingabe an den Guru gefördert und Machtmissbrauch begünstigt. Die Gruppendynamik in der Meditationsklausur könne darüber hinaus Grenzüberschreitungen erleichtern, die den Mitgliedern zumeist nicht bewusst würden. Hellhörig sollte man werden, wenn die eigene Organisation als über andere erhaben dargestellt wird, wenn der Lama über allen stehen soll. Wenn eigenständige Prozesse der Verantwortungsübernahme unterbunden werden, können nach Einschätzung der Psychologin keine nachhaltigen Entwicklungsprozesse stattfinden.

Auch wenn sich die Schüler-Lehrer-Verhältnisse in katholischen, evangelischen oder freikirchlichen Gemeinschaften von dem in einer Psychotherapie, einem Coaching oder einer buddhistischen oder neuhinduistischen Meditationsgruppe stark unterscheiden: Machtmissbrauch ist ein universelles Phänomen, das die Schattenseite aller asymmetrischen Beziehungen bildet. Gemeinsame Anstrengungen können helfen, hier wirkungsvolle, religionspsychologisch begründete Abhilfen zu schaffen, von denen für das jeweilige Milieu angepasste Präventionsmaßnahmen abgeleitet werden können.


Michael Utsch