Neuer französischer Senatsbericht warnt vor der Versektung von Gesundheitsangeboten
Wenn ein Staat eine „Sektenbehörde“ einrichtet, spiegelt sich darin die kulturelle Prägung und Geschichte des Landes wider. Sowohl Belgien als auch Frankreich unterhalten vergleichsweise üppig ausgestattete staatliche Behörden, die neue religiöse Bewegungen unter dem Label „Sekten“ auf ihr Gefahrenpotenzial hin untersuchen.
In Frankreich haben sich bereits drei Enquete-Kommissionen ausgiebig mit Sektenfragen beschäftigt und umfangreiche Berichte vorgelegt. Nachdem Mitte der 1990er Jahre in den französischsprachigen Ländern Kanada, der Schweiz und Frankreich durch drei kollektive Mord- und Selbstmordhandlungen der Sonnentempler insgesamt 74 ihrer Mitglieder starben, wurde mit großer öffentlicher Zustimmung eine Sekten-Enquetekommission eingesetzt. Die staatliche Behörde legte 1996 ihren Bericht „Die Sekten in Frankreich“ vor (Rapport 2468 der 10. Legislaturperiode). Eine Grundlage für ihre Einschätzungen bildeten 20 Anhörungen mit Gesundheitsexperten, Juristen, Pädagogen und Kirchenvertretern. Starke Kritik erntete die Kommission dafür, dass sie auf einer „Schwarzliste“ 172 gefährliche Gruppen mit Namen nannte. Demnach seien ein halbe Millionen Franzosen „gefährliche Personen“ oder Opfer von Manipulationen geworden. 1999 wurde eine zweite Enquete-Kommission eingesetzt, die sich mit den Versektungsgefahren in der Wirtschaft und den Finanzdienstleistungen beschäftigte. Zu diesem Thema wurden 48 teils öffentliche Anhörungen durchgeführt, und es wurde ebenfalls ein Bericht vorgelegt (Rapport 1687 der 11. Legislaturperiode). 2006 wurde zum dritten Mal eine derartige Kommission einberufen, die sich mit dem Einfluss von Sekten auf die körperliche und seelische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen beschäftigte (Rapport 3507 der 12. Legislaturperiode). 40 der durchgeführten 63 Anhörungen waren öffentlich und riefen große mediale Aufmerksamkeit hervor, weil die Schutzbedürftigkeit eines Kindes unmittelbar einleuchtet.
Im Jahr 2002 wurde in Paris eine ständige interministerielle Arbeitsgruppe zur „Wachsamkeit und [zum] Kampf gegen sektiererische Abweichungen“ eingerichtet („Mission interministérielle de vigilance et de lutte contre les dérives sectaires“, MIVILUDES), die direkt dem Ministerpräsidenten unterstellt ist. Dieses staatliche Institut veranstaltet Informationsveranstaltungen, koordiniert politische und wissenschaftliche Aktivitäten und gibt Jahresberichte heraus. Ende April 2013 wurde dem französischen Premierminister der aktuelle, knapp 200 Seiten starke Jahresbericht 2011/2012 überreicht. Darin wird berichtet, dass die Anfragenhäufigkeit sich in den letzten beiden Jahren um 22 bzw. 26 Prozent gegenüber dem Vorjahr erhöht habe. Besondere Versektungstendenzen machte die Behörde außer auf dem Gebiet der Sterbebegleitung im Bereich alternativer Gesundheitsangebote aus. Mit einer breit angelegten Kampagne wurden deshalb im März 2013 in Zusammenarbeit mit dem Familienministerium gezielt Eltern angesprochen: „Ist ihr Kind hyperaktiv? Leidet es unter Konflikten? Ist es krank? Gibt es Schulprobleme? Eltern, achtet auf Sekten! Vorsicht vor wundersamen Lösungen! Informieren Sie sich bei Miviludes!“ Mit dieser Kampagne sollen Eltern vor den Gefahren sektiererischer Vereinnahmung gewarnt werden, die gerade im Gesundheitsbereich gesehen werden. Die Zahl der Kinder, die Opfer von Sekten seien, wird von Miviludes in Frankreich auf 60000 bis 80000 geschätzt. Auch der Europarat hat sich dieses Themas angenommen. Schon im Jahr 2011 wurde vom Europarat die Resolution „Sektiererische Exesse und Verletzung der Menschenrechte“ verabschiedet. Das Projekt „Schutz von Minderjährigen vor dem Einfluss von Sekten“ wurde in Auftrag gegeben, das die Situation in den Mitgliedsstaaten erfassen und Handlungsempfehlungen erarbeiten soll.
Um den alternativen Gesundheitsmarkt geht es auch in dem Führer („Guide“) „Gesundheit und Versektung“ (Santé et dérives sectaires), der im letzten Jahr von Miviludes herausgegeben wurde. Auf diesem Markt werde zunehmend mit Heilsversprechen geworben. Das Thema Gesundheit bzw. Krankheit sei eine perfekte Eingangstür für Sekten und Einzelanbieter, die Profit mit dem Leid oder der Angst der Patienten machten und mit ihren Angeboten Kontrolle über sie ausübten. Sektiererische Versprechen in Bezug auf die Gesundheit mache fast ein Viertel aller eingegangenen Meldungen bei Miviludes aus, und die Zahl wachse jedes Jahr. Im ersten Teil der Veröffentlichung werden allgemeine Sektenmerkmale beschrieben: Wann wird eine therapeutische Technik sektiererisch? Woran erkennt man einen therapeutischen Guru? Zu den gefährlichen Anbietern werden zum Beispiel die „Germanische Neue Medizin“ (Ryke Geerd Hamer) oder das „Rebirthing“ gezählt. Problematisch ist jedoch, dass in einem lexikalischen Anhang sehr undifferenziert etwa 30 pseudotherapeutische Methoden aufgelistet sind. Wenn etwa die Gestalttherapie oder das Enneagramm von einer staatlichen Behörde pauschal als sektiererische Methode klassifiziert wird, greift das weit in das bürgerliche Selbstbestimmungsrecht ein.
Diese Veröffentlichung hat sicher dazu beigetragen, dass im letzten Jahr eine weitere staatliche Enquete-Kommission mit dem Fokus auf dem alternativen Gesundheitsmarkt eingesetzt wurde. „Gesundheit in Gefahr“, so lautet der Tenor der zweibändigen Publikation des staatlichen Sektenberichts im April 2013. Ein halbes Jahr lang hatte eine Senatskommission 72 Anhörungen durchgeführt und in einem fast 700 Seiten starken Berichtsband dokumentiert, wie Ärzte, Juristen, Verbandsvertreter und andere Experten die Sachlage einschätzen. In einem über 300 Seiten umfassenden Kommentarband werden mit kritischem Blick komplementäre und alternativmedizinische Gesundheitsangebote untersucht (Rapport 480, I und II). Zahlreiche Fallbeispiele sind eingestreut, und viele Angebote von Internetseiten dienen als Anschauungsmaterial. Mit 41 Empfehlungen sollen die Bürger aufgeklärt und informiert werden. Die Einschätzungen orientieren sich an den Empfehlungen des Miviludes-Führers. Das hat zur Folge, dass auch hier viele unzutreffende Pauschalurteile gefällt werden, die den komplexen Wirkzusammenhängen zwischen Körper, Seele und Geist nicht gerecht werden. In der Alternativ- und Komplementärmedizin sind in den letzten Jahren Fortschritte auch hinsichtlich der Qualitätssicherung gemacht worden, die in dem groben Beurteilungsraster des Miviludes-Führers keine Berücksichtigung finden.
Ohne Zweifel ist die Heilungssehnsucht, gepaart mit einem heute oft vorhandenen medizinischen Machbarkeitsdenken, eine geeignete und gefährliche Anknüpfungsmöglichkeit für Scharlatane. Staatlicher Handlungsbedarf entsteht, wenn Kinder durch weltanschaulich motivierte Verhaltensweisen der Erwachsenen in ihrem geistigen und seelischen Wohl gefährdet sind. Wenn jedoch eine staatliche Stelle undifferenzierte Pauschalurteile fällt, werden nicht die Aufklärung und damit die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit bzw. die Patientenautonomie gestärkt, sondern diffuse Ängste gefördert, die auch politisch instrumentalisiert werden können.
Michael Utsch