Interreligiöser Dialog

Neuer Grundlagentext der EKD - Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt

Der Text „Christlicher Glaube und religiöse Vielfalt in evangelischer Perspektive“ (www.ekd.de/EKD-Texte/christlicher_glaube.html ) wurde von der Kammer für Theologie im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) verfasst und am 12. Juni 2015 der Öffentlichkeit vorgestellt. Er greift Intentionen des 2014 publizierten Grundlagentextes „Rechtfertigung und Freiheit“ auf und legt auf 80 Seiten in fünf Schritten dar, dass aus evangelischer Perspektive religiöse Vielfalt nicht nur als Kontext des christlichen Zeugnisses zu akzeptieren, sondern als begrüßenswerte Folge von Religionsfreiheit anzusehen ist. „Die evangelische Kirche nimmt den Pluralismus der Religionen und Weltanschauungen nicht nur als ein äußerliches Faktum hin, mit dem man in modernen Gesellschaften eben rechnen müsse. Sie bejaht ihn vielmehr aus grundsätzlichen Überlegungen und aus ihrer eigenen Sache heraus“ (19). Ein Plädoyer für Freiheit in Religionsfragen begünstigt weltanschauliche Vielfalt und begründet die Berechtigung und Unhintergehbarkeit religiöser Pluralität.

An zahlreichen Stellen wird nicht nur von Religionen, sondern auch von Weltanschauungen gesprochen. Damit trägt die Studie dem Phänomen Rechnung, dass neben die zunehmende Präsenz anderer Religionen auch die Anwesenheit nichtreligiöser und atheistischer bzw. humanistischer Weltdeutungen und Weltanschauungsgemeinschaften getreten ist. Zur Religionsfreiheit gehört selbstverständlich auch die Entscheidungsoption für religionsdistanzierte, nichtreligiöse, etwa atheistische Weltanschauungen bzw. Weltdeutungen, deren Verbreitung in europäischen Gesellschaften unübersehbar ist, die in den weiteren Ausführungen jedoch nur begrenzt Aufmerksamkeit finden.

Obgleich der Text zuerst und vor allem auf die positive Darstellung evangelischer Perspektiven zur Religionsvielfalt in pluralistischen Gesellschaften abzielt, bringt er auch Distanz zum Ausdruck gegenüber Antworten auf den religiösen Pluralismus, die nur scheinbar geeignet sind, kreativ und konstruktiv mit Herausforderungen umzugehen: Skeptisch wird das Plädoyer für eine abrahamische Ökumene kommentiert, die die Differenzen der religiösen Traditionen vernachlässigt. Problematisiert werden vereinnahmende inklusivistische oder auch abgrenzende exklusivistische Perspektiven. Zur pluralistischen Religionstheologie wird kritisch angemerkt, dass „niemand den Überblick eines unabhängigen Schiedsrichters“ (60) habe. Die Interpretation protestantischer Identität als Zivilreligion des demokratischen Gemeinwesens wird als unzureichend abgewiesen. In allen Passagen wirbt der Text für eine wohlwollende und respektvolle Haltung gegenüber Andersglaubenden. Die evangelische Kirche verbindet die Wahrheitsperspektive ihres eigenen Bekenntnisses mit der Achtung anderer religiös-weltanschaulicher Überzeugungen und tritt für eine überzeugte Toleranz ein, die Unterscheidungsperspektiven mit einschließt.

Besondere Aufmerksamkeit wird der Begegnung mit dem Islam und dem Verhältnis von Christen und Juden gewidmet. Die Muslime in Deutschland dürfen aus der Sicht der EKD nicht nach „Maßgabe der Erscheinungsformen des Islam in außereuropäischen Ländern“ (67) beurteilt werden. Im Blick auf das Verhältnis zum Judentum wird zum Ausdruck gebracht, dass zur christlichen Identität „die bleibende Verbundenheit mit der Geschichte des jüdischen Volkes gehört“ (68). Der Dialog zwischen Christen und Juden hat insofern besondere Themen, Aufgaben und Herausforderungen.

Der vom Rat der EKD publizierte Text bringt Wertschätzung gegenüber dem religionsfreundlichen Modell des Verfassungsrechts in Deutschland zum Ausdruck, durch welches die positive Religionsfreiheit akzentuiert und das öffentliche Wirken der Religionen ermöglicht wird. Er plädiert für ein gastfreundliches Verhältnis in der Begegnung mit Angehörigen anderer Religionen und weist darauf hin, dass ein Beten nebeneinander und nacheinander in bestimmten Situationen sinnvoll sein kann, ohne die Eigenart der eigenen Perspektive wie den Respekt vor der fremden Identität zu verleugnen. In den konkreten Fragen des Zusammenlebens (interreligiöses Handeln, Gast und Gastgeber in der Begegnung, Beten mit anderen, diakonisches Handeln …) werden keine präzisen Handlungsorientierungen ausgesprochen, jedoch Handlungskriterien begründet dargelegt. Zugleich wird darauf verwiesen, dass in der evangelischen Kirche für jeden gilt, „dass er seinem eigenen Gewissen verantwortlich ist“ (53).

Der Grundlagentext plädiert für die Verbindung von Standfestigkeit und Dialogoffenheit. Pointiert tritt er dafür ein, den eigenen Glauben so zu artikulieren, dass andere Glaubensauffassungen nicht herabgesetzt werden. Dies gilt auch im Blick auf die Praxis der Mission unter den Bedingungen religiöser Vielfalt, die im engen Zusammenhang mit dem Wirken der christlichen Kirchen im öffentlichen Raum gesehen wird. Die Bedeutung der Religionen in einer pluralistischen Welt ist „entscheidend davon abhängig, ob sie eine öffentlich verantwortete Theologie entwickeln, die Verständigungsversuche und Übersetzungen zwischen den Konfessionen, Religionen und unterschiedlichen Weltanschauungen ermöglicht“ (76). Die evangelische Kirche ist in ihrem Verhältnis zu anderen Religionen nicht einem bestimmten religionstheologischen Modell verpflichtet, weder einem exklusivistischen noch einem inklusivistischen noch einem pluralistischen, „sondern dem sie gründenden Evangelium“ (76).

Dem EKD-Text ist es gelungen, beides zusammenzuhalten: die Artikulation evangelischer Identität und das Bemühen um Verständigung. Der Text ist eine hilfreiche Grundlage für das Gespräch über religiöse und weltanschauliche Vielfalt – und dies für unterschiedliche theologische und kirchliche Milieus, deren Verständigung angesichts des innerevangelischen Pluralismus eine wichtige Aufgabe darstellt. Kritisch kann angemerkt werden, dass die Christuszentriertheit und trinitarische Ausrichtung evangelischen Glaubens deutlicher hätte artikuliert werden können. Im Blick auf umstrittene Fragen des Zusammenlebens sollte in der evangelischen Kirche mehr Gemeinsamkeit gesucht werden. Der biblische Bezug einer evangelischen Theologie der Religionen wird an wichtigen Stellen des Grundlagentextes deutlich, ihm könnte und sollte weitere Aufmerksamkeit gewidmet werden.


Reinhard Hempelmann