Neuer niederländischer Sektenbericht
Unter dem blumigen Titel „Das heiße Bad und die kalte Dusche“ wurde in den Niederlanden im Oktober 2013 eine neue Studie über das Gefahrenpotenzial neuer religiöser Bewegungen veröffentlicht, die im Auftrag des Ministeriums für Sicherheit und Justiz erstellt wurde. Vor knapp 30 Jahren war der staatliche Sektenbericht 1984 zu dem Schluss gekommen, dass von neuen religiösen Bewegungen in den Niederlanden keine Gefahr ausgehe und deshalb keine Notwendigkeit von Gesetzesänderungen bestehen (vgl. MD 2/2000, 47-61). Deshalb wurde damals – anders als in anderen Ländern wie Belgien oder Frankreich – auch keine staatliche „Sektenliste“ mit angeblich gefährlichen Gruppen herausgegeben.
Eine gesellschaftliche Diskussion um das Thema Sekten kam erneut in Gang, als im Jahr 2011 im niederländischen Fernsehen eine Dokumentation ausgestrahlt wurde, die ein „Undercover“-Reporter über die esoterische Gruppe „Miracle of Love“ produziert hatte. Obwohl darin nicht von Straftaten berichtet wurde, hat diese Dokumentation intensive öffentliche Diskussionen ausgelöst und dazu geführt, staatlicherseits eine neue Studie über das aktuelle Gefährdungspotenzial neuer religiöser Bewegungen in Auftrag zu geben, die nun vorliegt.
In der Studie wurden verschiedene Forschungsmethoden kombiniert: eine Literaturübersicht, Fragebogenuntersuchungen, Interviews, Analyse von polizeilichen und juristischen Dokumenten, Recherche in Internet-Foren und die Einrichtung eines anonymen Beschwerdetelefons. Einschränkend weisen die Forscher aber darauf hin, dass die Studienergebnisse ausschließlich auf den Aussagen von Ex-Mitgliedern beruhen, die sich in der Zeit ihrer Mitgliedschaft ausgenutzt und missbraucht gefühlt haben.
Die Studie identifizierte in den Niederlanden 84 Sekten, in Bezug auf die von Übergriffen und missbräuchlichem Verhalten berichtet wurde. Die Hälfte dieser Gruppen ist dem christlich-fundamentalistischen Milieu zuzuordnen, in dem ein Missbrauch auf religiöser Grundlage stattgefunden habe. Ein Drittel der Gruppen wurde dem therapeutisch-pädagogischen Bereich zugeordnet, hier habe ein Missbrauch auf spiritueller Grundlage stattgefunden. In fast allen Sekten – in 76 der 84 genannten – wurden psychologische Techniken angewandt, um Mitglieder zu binden und auszunutzen. Drei Viertel der Gruppen waren Kleingruppen mit weniger als 100 Mitgliedern.
Tenor der aktuellen niederländischen Studie: Religiöser und spiritueller Missbrauch findet in vereinzelten Kleingruppen statt, jedoch ist der Einfluss solcher Gruppen auf viele Menschen hoch. Zudem bestehe ein hoher Informations- und Beratungsbedarf in diesem Bereich, der bei Weitem nicht gedeckt sei. Vermutlich aus Vorsicht werden in dem niederländischen Bericht die Namen der 84 Gruppen nicht genannt, sondern es werden nur allgemein die weltanschaulichen Milieus beschrieben. Der französische Staat, der in staatlichen Berichten Gruppennamen genannt hatte (vgl. MD 7/2013, 267-269), musste nämlich in den letzten Jahren stattliche Summen an Schadensersatz an Jehovas Zeugen, einen Tempelritter-Ordern, eine evangelikale Freikirche und eine Sikh-Bewegung zahlen. Begründet wurde dies mit der Verletzung des Artikels 9 der europäischen Menschenrechtskonvention (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit). Aber gerade wenn man die Religionsfreiheit als ein hohes demokratisches Gut schützen will, sind kritische Studien und differenzierte Informationen über das lebendige Feld neuer religiöser Bewegungen wichtig, wie es der niederländische Bericht eindrucksvoll belegt. (Englische Zusammenfassung im Anhang der niederländischen Publikation: http://english.wodc.nl/onderzoeksdatabase/sektes-in-nederland.aspx)
Michael Utsch