Neuheidentum
Die Bezeichnung „Neuheidentum“ (auch Neopaganismus) dient als Sammelbegriff für moderne religiös-weltanschauliche Strömungen, Bewegungen und Gruppen, die unter Rückgriff auf vor- und nichtchristliche Glaubensvorstellungen, Traditionen und Werthaltungen eine naturreligiöse und erfahrungsbezogene Religiosität pflegen wollen. Verschiedene Formen des Neuheidentums sind besonders in der westlichen Welt (Europa und USA) verbreitet. Vorläufertraditionen lassen sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts in okkult-magischen Systemen der westlichen Esoterik und in literarischen Stoffen finden (Pearson, 829). Im Zusammenhang der New-Age-Bewegung im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts erlebten neuheidnische Vorstellungen eine neue Konjunktur.
Verschiedene Versuche, an ein altes germanisches Heidentum anzuknüpfen, gab es bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland, besonders im Zusammenhang der völkisch-religiösen Bewegung. Dabei bildeten sich verschiedene neugermanisch-heidnische Bewegungen heraus, an deren Erbe einzelne Gruppen, wie z. B. die „Germanische Glaubens-Gemeinschaft“ (GGG), heute anknüpfen wollen.
Die Anhänger neuheidnischer Richtungen nennen sich „Heiden“ oder „Naturreligiöse“. Ihre Glaubensform bezeichnen sie als „Alte Sitte“, „Alten Weg“ oder als „Religion der Ahnen“. Oftmals handelt es sich um kreative Neukonstruktionen, wobei indigene religiöse Glaubensinhalte mit ökologischen oder sozial-politischen (auch feministischen) Zielsetzungen verbunden werden können. Anhänger neuheidnischer Richtungen versuchen durch Quellenstudium, Naturbeobachtung, archäologische Forschungen, Mytheninterpretation und durch die Feier von Naturfesten die heidnisch-religiösen Traditionen Europas wiederzubeleben.
Das Neuheidentum begreift sich als „Erfahrungsreligion“ und will daher auf Dogmen im strengen Sinn verzichten. Vielfach geht man davon aus, dass das Göttliche nicht transzendent, sondern dem Menschen oder der Natur inhärent sei. In manchen neuheidnischen Richtungen sind auch polytheistische Vorstellungen verbreitet. Die Verehrung richtet sich auf eine als beseelt gedachte Natur und ihre Elemente. Die neuheidnische Praxis wird durch magische Rituale bestimmt, die sich am Jahreskreislauf orientieren und meist in freier Natur begangen werden. Mithilfe des magischen Rituals wird ein heiliger Raum oder Bezirk geschaffen. In vielen Richtungen des Neuheidentums spielen die Initiation (Einweihung) in die jeweilige Gemeinschaft und zahlreiche lebensbegleitende Rituale eine wichtige Rolle.
Richtungen
Innerhalb des Neuheidentums, das in Deutschland einen Randbereich der gegenwärtigen Religionskultur repräsentiert, gibt es unterschiedliche Richtungen, Gemeinschaftsbildungen, Arbeitskreise und Netzwerke, die teilweise kooperieren, sich mitunter aber scharf voneinander abgrenzen. Das Spektrum reicht vom Neo-Druidentum und initiatorischen Hexenkult (Wicca-Bewegung) neokeltischer Provenienz über verschiedene nordisch-germanische Ásatrú-Richtungen (s. u.) bzw. sich traditionell verstehende neuheidnisch-germanische Gruppen bis hin zu neoschamanistischen Zirkeln, die sich an verschiedenen indigenen heidnischen Traditionen Europas orientieren. Neben dem organisierten Neuheidentum gibt es mitunter auch stark individualisierte Formen, wobei der Einzelne „seine“ neuheidnische Religiosität – oder was er dafür hält – pflegen und kreativ ausgestalten kann. Darüber hinaus existiert im Internet – als „virtuelles Neuheidentum“ – eine unübersehbare Zahl zum Teil aufwendig gestalteter Seiten einzelner neuheidnisch Interessierter, ohne dass sich dahinter eine feste Gemeinschaft oder Vereinigung zu erkennen gibt.
Genaue Zahlen über Verbreitung und Größe des Neuheidentums sind nicht bekannt. Im Regelfall ist die Anhängerzahl der einzelnen organisierten Gruppen recht klein. Eine offizielle Doktrin oder eine verbindliche Autorität gibt es innerhalb des Neuheidentums nicht. Auf internationaler Ebene besteht seit 1998 der „World Congress of Ethnic Religions“ (wcer.org), der alljährlich internationale Kongresse durchführt und eine Geschäftsstelle in Vilnius (Litauen) betreibt.
Im Rahmen des organisierten Neuheidentums im deutschsprachigen Raum wird der gegenseitige Austausch über Netzwerke, naturreligiöse Arbeitskreise und Dachverbände gepflegt. Dazu zählen unter anderem: „Der Steinkreis e.V.“ (heidnisch-naturreligiöses Netzwerk, gegr. 1992), „Rabenclan – Verein zur Weiterentwicklung heidnischer Traditionen“ (gegr. 1994, bis 2007 „Arbeitskreis für Heiden in Deutschland“), „Pagan Federation International / Deutschland“, „Pagan Federation D.A.CH.“ (gegr. 2004), „KultURgeister – Dachverband für traditionelle Naturreligion e.V.“ (gegr. 2002), „Yggdrasil-Kreis – Verein zur Förderung der einheimischen europäischen Naturreligion e.V.“ (gegr. ca. 1975).
Im deutschsprachigen Raum sind u. a. die folgenden neuheidnischen Gemeinschaften und Richtungen verbreitet:
• Ásatrúar bzw. Anhänger des germanisch-neuheidnischen Asenglaubens, der „Treue zu den Asen“ bzw. zu den germanischen Göttern: Dazu zählen z. B. „Eldaring e.V.“, der „Verein für Germanisches Heidentum“ („Traditionelle Naturreligion – Alte Sitte in heutiger Zeit“; vormals „Odinic Rite“), „Nornirs Ætt“ (Ásatrú zum selber Denken) und die „Heidnische Gemeinschaft e.V.“ (mit Schwerpunkt in Berlin und Umgebung). Davon zu unterscheiden ist die sich selbst als Ásatrú-Vereinigung verstehende, jedoch als rassistisch-rechtsextremistisch einzustufende „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft wesensgemäßer Lebensgestaltung“.
• Die „Germanische Glaubens-Gemeinschaft“ des „Allsherjargoden“ (Stammespriester) Géza von Neményi mit Sitz in Werbig / Brandenburg sieht sich demgegenüber in der Linie eines traditionellen germanischen Heidentums in Deutschland.
• An der Schnittstelle zwischen Esoterik und Neuheidentum bewegt sich der „Armanen-Orden“ (gegr. 1976), der Verbindungen in die rechtsextreme Szene unterhält. Innerhalb der Neuheiden-Szene wird er wegen seiner rassistischen Ideologie (Ariosophie) heftig kritisiert.
• Neodruidische Richtungen und Bewegungen, die sich auf den keltischen Neopaganismus beziehen wie z. B. der „Orden der Barden, Ovaten und Druiden“ (OBOD) oder „The British Druid Order“.
• Wicca-Bewegung: Der initiatorische Hexenkult wurde in den 1940er Jahren von Gerald Brosseau Gardner (1884-1964) in Großbritannien entwickelt. Seither haben sich innerhalb der Wicca-Bewegung verschiedene Richtungen herausgebildet. In Deutschland bestehen mehrere Wicca-Zirkel, die sich auf unterschiedliche Traditionen berufen.
Dem Austausch und der Kontaktpflege dienen darüber hinaus sog. Hexen- und Heidenstammtische, die sich in verschiedenen Regionen Deutschlands gebildet haben. Im Internet gibt es viele Kontaktbörsen und Austauschforen unter Gleichgesinnten. Doch die Rezeption neuheidnischer Vorstellungen bleibt nicht auf organisierte oder individualisierte Formen beschränkt. Vereinzelt bestehen personelle und thematische Überschneidungen mit der Mittelalter- und „Reenactment-Szene“; bei letzterer werden geschichtliche Ereignisse möglichst detailgetreu inszeniert. Pagan Metal, ein Subgenre des Heavy Metal, bedient sich gezielt der Germanen- und Wikingermythologie sowie ihrer Götter- und Heldensagen. Neuerdings zeichnet sich eine zunehmende publizistische Verbreitung und Vermarktung neuheidnischer Vorstellungen in der Esoterik-Szene ab.
Einschätzung
Die im Kontext neuheidnischer Religiosität vertretenen Glaubensüberzeugungen sind Ausdruck einer kritischen Reaktion auf die ökologische Krise sowie auf die christlich dominierte Gegenwartskultur westlicher Gesellschaften, von der man sich mit undogmatischen naturreligiösen Vorstellungen abzugrenzen sucht. In der Praxis dominiert ein erfahrungsbezogener Religionsvollzug.
In einer Zeit, die zunehmend durch Globalisierung, Internationalisierung und Technisierung geprägt ist, reagieren neuheidnische Strömungen auf das Bedürfnis nach religiöser Heimat, die in der Welt vergangener Epochen der Religions- und Menschheitsgeschichte, in Mythen, Sagen und alternativ-archäologischen Forschungen aufgespürt werden soll. Die idealisierte naturnahe Welt von gestern wird zur Projektionsfläche des urbanen Menschen im 21. Jahrhundert. Das Aufspüren und die kreative Neuinszenierung alten Brauchtums, die (Wieder-)Entdeckung und Pflege vermeintlich uralter, seit Generationen überlieferter Rituale kommt dem Bedürfnis entgegen, sich selbst in der Kette Jahrtausende alter Traditionen und in der Spur der „Ahnen“ zu begreifen und mit der magischen Ritualpraxis alte Pfade eines verloren geglaubten Menschheitswissens zu beschreiten. Darüber kann das heutige Neuheidentum auch als Freizeitbeschäftigung von Menschen dienen, die auf der Suche nach alternativ-religiösen und erlebnisintensiven Glaubens- und Lebensentwürfen sind.
Prägend für neuheidnische Überzeugungen sind naturmagische oder polytheistische Vorstellungen, die mit dem christlichen Glauben nicht kompatibel sind. Kritisch ist dabei besonders die neuheidnische Weltauffassung zu beurteilen, wonach die magische Ritualpraxis den Menschen mit „gottgleichen“ Vollmachten ausstatten oder zum gleichberechtigten Partner des Göttlichen oder der Götter erheben möchte. Damit wird die Unterscheidung zwischen Schöpfer und Geschöpf aufgehoben. Im Einzelfall sind neuheidnische Richtungen im Blick auf ihre Ethik zu prüfen, insbesondere darauf, inwieweit Toleranz gegenüber Andersdenkenden und -glaubenden tatsächlich Raum gegeben wird.
Matthias Pöhlmann
Literatur
Quellen:
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Junker, Daniel / Kliemannel, Holger (Hg.), Heidnisches Jahrbuch, Bd. 1-3, Hamburg 2006ff
Analytisch / kritisch:
Fischer, Kathrin, Das Wiccatum. Volkskundliche Nachforschungen zu heidnischen Hexen im deutschsprachigen Raum (= Grenzüberschreitungen, Bd. 5), Würzburg 2007
Gründer, René, Germanisches (Neu-)Heidentum in Deutschland. Entstehung, Struktur und Symbolsystem eines alternativreligiösen Feldes, Berlin 2008
Gründer, René / Schetsche, Michael / Schmied-Knittel, Ina (Hg.), Der andere Glaube. Europäische Alternativreligionen zwischen heidnischer Spiritualität und christlicher Leitkultur (= Grenzüberschreitungen, Bd. 8), Würzburg 2009
Krech, Hans / Kleiminger, Matthias (Hg.), Handbuch Religiöse Gemeinschaften und Weltanschauungen, Gütersloh 62006, 608-637 (Deutschgläubige und Neugermanisch-heidnische Bewegungen)
Ohanecian, Oliver, Wer Hexe ist, bestimme ich. Zur Konstruktion von Wirklichkeit im Wicca-Kult, Berlin 2005
Pearson, Joanne E., Art. Neopaganism, in: Hanegraaff, Wouter J. (Hg.), Dictionary of Gnosis and Western Esotericism, Bd. 2, Leiden / Boston 2005, 828-834 Pöhlmann, Matthias (Hg.), Neue Hexen. Zwischen Kult, Verzauberung und Kommerz, EZW-Texte 186, Berlin 2003
Pöhlmann, Matthias (Hg.), Odins Erben. Neugermanisches Heidentum. Analysen und Kritik, EZW-Texte 184, Berlin 2003
Pöhlmann, Matthias, Art. Neuheiden, in: Hempelmann, Reinhard u. a. (Hg.), Panorama der neuen Religiosität. Sinnsuche und Heilsversprechen zu Beginn des 21. Jahrhunderts, Gütersloh 22005, 272-280
Puschner, Uwe, Die völkische Bewegung im Wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001
Puschner, Uwe / Großmann, G. Ulrich (Hg.), Völkisch und national. Zur Aktualität alter Denkmuster im 21. Jahrhundert, Darmstadt 2009
Wiedemann, Felix, Rassenmutter und Rebellin. Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus, Würzburg 2007
Internetangebote
Arbeitskreise, Dachverbände, Diskussionsforen:
www.kulturgeister.de
www.rabenclan.de http://asatruar.ning.com (Kommunikationsplattform für Ásatrú-Anhänger)
www.paganforum.de (Forum für Heidentum)
www.forum.paganfederation.org (internationales Forum der Pagan Federation International)
Ásatrú-Vereinigungen:
www.eldaring.de
www.heidnische-gemeinschaft.de
www.vfgh.de (Verein für Germanisches Heidentum)
Traditionelles germanisches Neuheidentum:
www.germanische-glaubens-gemeinschaft.de
Neodruidentum:
www.druidry.de
Wicca-Bewegung:
www.wicca.org