Norse Revival. Transformations of Germanic Neopaganism
Stefanie von Schnurbein: Norse Revival. Transformations of Germanic Neopaganism (Studies in Critical Research on Religion 5), Brill, Leiden / Boston 2016, 420 Seiten, 20,74 Euro.
Das Germanische Heidentum (Ásatrú) ist in seiner Rekonstruktion der germanischen Religion durch die dünne schriftliche Quellenlage zu den kontinentalen Germanen eingeschränkt. Die Anhänger behelfen sich, indem sie Befunde skandinavischer Quellen (v. a. die Eddas) auf Kontinentalgermanen übertragen. Hierher rührt der Titel des Werks, das seinen Bogen aber weit über Skandinavien hinausspannt.
Die Autorin befasst sich seit gut 30 Jahren mit dem Thema, was sich in Detailreichtum und Breite der Perspektiven niederschlägt. Ein Problem der religionswissenschaftlichen Paganismusforschung ist die Tatsache, dass viele Forscher selbst praktizierende Heiden sind, mit naheliegenden methodischen Problemen. In „Norse Revival“ liegt die Sache umgekehrt. Von Schnurbein war 1986 als Naturfrömmigkeit suchende Studentin mit dem Armanenorden, einer offen rassistischen Gruppe, in Berührung gekommen und hatte sich angewidert abgewandt. Bald darauf begann sie in Publikationen vor rechtsextremem Gedankengut in der Bewegung zu warnen.
Gleichzeitig fühlte sie sich weiter vom neuheidnischen Kosmos – Naturreligion, Polytheismus, Individualismus – sowie anderen Ásatrúanhängern angezogen. Motivation ihres Schreibens war „der Wunsch, das zu ‚retten‘, was an der Nordischen Mythologie ‚gut‘ und unbesudelt war“ (354). Dieses Schwanken zwischen fascinans und tremendum gegenüber dem Gegenstand führt dazu, dass die Autorin ihre Rolle als Forscherin in einem kleinen Forschungsfeld – weltweit veranschlagt sie maximal 20 000 Ásatrúar – ausführlich reflektiert: Ihre Person und ihre Publikationen haben ihren Gegenstand beeinflusst und dazu beigetragen, dass germanisch-heidnische Gruppen sich mit rechtsextremen Vorläufern und Elementen ihres Glaubens beschäftigten und seit etwa 20 Jahren aktiv auszuscheiden suchen. Die daher methodologisch notwendige Reflexion über die eigene Rolle geschieht in zwei sehr persönlich gehaltenen introspektiven Kapiteln zu Beginn und zum Abschluss des Werkes, die eine willkommene Abwechslung zu dem ansonsten sprachlich eher trockenen Stil bilden.
Aufgrund ihrer frühen Erfahrung konzentrierte sich von Schnurbein stets auf aktuelle und historische Verbindungen zwischen Ásatrú und Rechtsextremismus. So auch in „Norse Revival“. Diese Assoziation bestimmte seit den 1980er Jahren die öffentliche Wahrnehmung von Ásatrú, zum Leidwesen der meisten Anhänger. Ásatrú hat sich weiterentwickelt, und viele Gruppen und Einzelne haben viel unternommen, um sich von dieser ideologischen Last zu befreien und aktiv gegen rassistische Ideen vorzugehen. Daher sind sie heute „im Vergleich zu anderen Neureligionen sehr viel besser informiert und kritischer gegenüber den Problemen, die einer naiven Übertragung alter Quellen auf gegenwärtige Religiosität innewohnen” (355). „Norse Revival“ untersucht, inwieweit die Selbstreinigung erfolgreich war, ist also mehr als eine akademische Studie einer Bewegung; es verfolgt den politischen Zweck, „die Öffentlichkeit über deren problematische Aspekte aufzuklären“ (4).
Das Buch untersucht Ásatrú in Skandinavien, Britannien, den USA und Deutschland. Das ist praktisch das gesamte Verbreitungsgebiet. Als Skandinavistin kann die Autorin interne Dokumente und Diskussionen in heidnischen Internetforen aus allen diesen Ländern auswerten. Allein diese Breite und der Tiefenblick heben das Werk positiv hervor.
Der reine Darstellungsteil fällt sehr kurz aus (Kap. 1-2). Die Autorin unterteilt Ásatrú in die Kategorien „racial-religious“, „ethnicist (folkisch)“ und „a-racist (universalist)“. Jede Form des Ásatrú wird also unter dem Gesichtspunkt „Rasse“/Ethnizität in den Blick genommen. Demnach kann es aus methodischen Gründen keine „unschuldige“, sozusagen naive Richtung geben, die sich mit dem Thema nicht weiter befasst, weil sie die Kategorie für unwichtig hält.
Solchermaßen geordnet wird das Feld auf verborgene völkische Elemente und Traditionen untersucht. Der Begriff (im englischen Text immer als deutsches Lehnwort) ist wegen seiner NS-Assoziation belastet und belastend. Er taucht durchschnittlich einmal pro Seite auf. Wo er als Zuschreibung für eine Bewegung oder Gruppe haftenbleibt, sind Toleranz und Verständnis begrenzt. Hier steht also durchweg die Frage der Legitimität von Ásatrú überhaupt zur Debatte.
Zwei Dutzend Interviews bilden die Grundlage vor allem des dritten Kapitels, welches die Spiritualität von Ásatrúar zwischen Ritual und Lehre betrachtet. Hierbei zeigt sich, dass schon der Begriff „Ásatrú“ (Asen-Treue) einem Religionsverständnis verhaftet ist, das Religion als persönliche Beziehung zu einem oder mehreren Göttern versteht – ein Verständnis, das vermutlich auf christlichen Einfluss zurückzuführen ist. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass auch mittelalterliche Germanen ihre Religion so verstanden und lebten.
Dazu passend legen viele „Bekehrungs“erzählungen von Ásatrúar einen starken Akzent auf die „unwiderstehliche innere Anziehung“ und das „Gefühl der Heimkehr“, was hier als Ausdruck einer defensiven Haltung interpretiert wird. Weil die Öffentlichkeit Ásatrú mit Extremismus assoziiert, beschreiben die Anhänger ihre Religionswahl als unvermeidliche, schicksalhafte und sehr persönliche Anziehung, um von vornherein alle Verdächtigungen von ethnisch-rassischer Motivation abzuwehren.
Im Selbstverständnis sehen sich die meisten Ásatrúar heute als ökologisch engagierte Glieder einer pluralistischen Gesellschaft, deren politisches Herz wie bei den meisten Heiden eher links schlägt. Starkes politisches Interesse ist eher selten. Aber von Schnurbein fragt weiter: Kann eine auf nordischer Mythologie fußende Gruppe je frei von völkischen Elementen sein? Schließlich stammt die Faszination für alles Nordisch-Germanische aus den romantischen und nationalen Erweckungen des 18./19. Jahrhunderts. Damals wurden erstmals Europas Volkstraditionen (Lieder, Märchen, Sprachen) in Literatur, Kunst und Wissenschaft erkundet, und zwar explizit mit dem Ziel der Nationwerdung. Diese Ideologeme der Ursprungszeit durchdringen, so von Schnurbein, alle Ansätze des rekonstruktionistischen Ásatrú in der allgegenwärtigen Verbindung von Landschaft, Natur, Volkstum und Nordischen Göttern.
Abgesehen vom dritten Kapitel beruht das Buch überwiegend auf schriftlichen Quellen. Kapitel vier bis neun behandeln die Themen Rasse/Ethnizität, Polytheismus vs. Monotheismus, Natur, Geschlecht und Sexualität, Wissenschaft und Kunst. Letzteres deswegen, weil viele Anhänger durch Fantasy-Literatur und heidnische Musik (Pagan Folk) zum Ásatrú kommen. Wer sich jemals im Herrn der Ringe oder in den Nebeln von Avalon in eine andere Welt wegträumte, versteht das.
In all diesen Bereichen liefert „Norse Revival“ faszinierend detaillierte und reich belegte Überblicke über Gegenwart und Geschichte, um anschließend nach Quellen und Querverbindungen zwischen Ideen, Personen und Büchern zu suchen. Die diesen Betrachtungen zugrunde liegende, aus Literatur und Feldforschung gewonnene Materialfülle ist eine beeindruckende Fundgrube. Selbst langjährige Ásatrúar und Forscher bekunden in Foren, sie seien bei der Lektüre auf Gruppen gestoßen, von deren Existenz sie noch nie gehört hätten. Freilich hat eine solche Fülle unvermeidliche Nachteile für die Lesbarkeit. Denn bisweilen sieht der Leser den Wald vor lauter Beispielbäumen nicht mehr; die Verfolgung der leitenden Gedankengänge und Argumente ist streckenweise mühsam.
Auffällig ist, dass alle diese Spurensuchen zum selben Ziel zu führen scheinen, denn irgendwie landet man immer bei den romantischen und völkischen Traditionen des 19. Jahrhunderts. Das ist oft erhellend, wirkt aber an einigen Stellen zu weit hergeholt, wie auch die wiederkehrenden Begriffe „implicit“, „tendencies“ und ähnliche Andeutungsformulierungen verraten. Wenn zwei historische Personen im selben Zusammenhang veröffentlichten, einander kannten oder wenn jemand an sich unproblematische Aspekte eines völkischen Autors des frühen 20. Jahrhunderts wie Ludwig Klages oder Fidus zitiert hat, ist das noch kein Beleg dafür, dass ein Autor deren aus heutiger Sicht verwerfliche Ansichten teilte oder auch nur kannte. Auch viele Religionswissenschaftler und Mythenforscher von 1945 bis in die jüngste Vergangenheit geraten ins rechtsextreme Licht (275ff). Manchmal ein Fall von „Wenn man nur einen Hammer hat, sieht jede Unebenheit wie ein Nagel aus“.
Ein Grund, dass von Schnurbein so viel „rechtsextremes“ Gedankengut findet, ist ihre weite Definition des Begriffs. Als rechtsextrem gelten zum Beispiel schon entschiedene Abtreibungskritik und die „Vorordnung der Gemeinschaft über das Individuum“ (60). Enthielten nach dieser Definition nicht die meisten menschlichen Gesellschaften in Geschichte und Gegenwart „rechtsextreme“ Elemente? Die Vorordnung des Individuums über die Gemeinschaft ist ein junger kultureller Sonderweg des Westens. Das Umgekehrte ist nicht verwerflich oder gar „rechts“, sondern der Normalfall. Eher müsste man fragen, ob Ásatrú das wirklich ernst meint – vertreten die Anhänger in der Praxis doch einen ausgeprägten Individualismus.
Ähnlich die Kritik am „Essentialismus“, dessen sich schuldig macht, wer annimmt, es gebe überhaupt so etwas wie beschreib- und abgrenzbare, mit ethnischen Gruppen verbundene Kulturen. Der im Buch wiederholt auftretende Essentialismusvorwurf postuliert, dieses Verständnis von „Kultur“ sei keine Wirklichkeitsbeschreibung, sondern ein (im Kern völkisches) Konstrukt. Wird dabei nicht ein Kulturbegriff als rechtsextrem markiert, der noch bis vor wenigen Jahren als selbstverständlich galt? Das sagt weniger über Ásatrú aus als über gesellschaftliche Verschiebungen. Der hinter dieser Essentialismuskritik stehende fundamentale Sozialkonstruktivismus (ebenfalls eine typisch westliche Brille) verdankt sich eher politischer Parteinahme als wissenschaftlicher Analyse. Heute verkünden sogar Staatsoberhäupter in Europa öffentlich, eine nationale Kultur ihres eigenen Landes gebe es überhaupt nicht.
Im Zusammenhang ihrer Urteile über rechtes Denken anderer Gelehrter und der ausdrücklich erklärten politischen Agenda ihrer eigenen Forschung fällt auf, dass von Schnurbeins einführende methodische Reflexionen zu ihrer Forscherrolle keinen Blick auf die eigenen politischen Vorannahmen warfen. Vielmehr werden die normative Gültigkeit von Feminismus, Multikulturalismus und einem weit verstandenen „Kampf gegen rechts“ als gegeben vorausgesetzt. Natürlich bleibt auch diese Forschung dem Geist ihrer Zeit ebenso verhaftet wie ihre kritisierten Vorläufer. So begrenzt von Schnurbeins Lesart hier ist, zeigt dies doch, dass Ásatrú Fragen aufwirft, welche die Bewegung über den Rang eines abseitigen religionswissenschaftlichen Steckenpferds hinausheben.
Man muss aber nicht allen politischen Annahmen und Schlussfolgerungen zustimmen, um „Norse Revival“ nützlich zu finden. Das Buch stellt die Traditionen und Ideen des Ásatrú, seine Quellen und Analysen so klar und ausführlich dar, dass es dem Leser reichlich viele andere Interpretationsmöglichkeiten, Fragestellungen und Forschungsansätze eröffnet. Allein das 48-seitige Literaturverzeichnis ist ein wertvolles Werkzeug.
Ein einziges formales Manko ist zu erwähnen. Die Orientierung bei der Lektüre wäre durch eine Aufstellung aller erwähnten Gruppen einschließlich einiger Basisinformationen (Alter, Land, Größe) erheblich erleichtert worden. Nicht zuletzt, weil die meisten Gruppen, darunter eine Reihe mit nicht übersetzten skandinavischen Namen, einmal eingeführt, fortan nur noch als Abkürzung auftauchen und diverse Umbenennungen und Spaltungen für zusätzliche Verwirrung sorgen.
Das Buch enthält natürlich auch einige jener kleinen Sachfehler, deren Erwähnung vor allem belegen soll, dass es der Rezensent genau gelesen hat. Sie sind aber in diesem insgesamt sehr empfehlenswerten Werk unbedeutend. Dem Verlag ist zu danken, dass er das Werk online kostenlos zum Download zur Verfügung stellt (https://brill.com/view/title/31763?lang=en).
Kai Funkschmidt