„ÖkoDharma“
Engagierter Buddhismus in Zeiten der Klimakrise (Teil I)
Am 2. Juni 2022 fand ab 18 Uhr der dreistündige Online-Workshop „Buddhismus in Aktion – Weisheit, Mitgefühl und Engagement in Zeiten der Klimakrise“ statt. Tragende Organisation war die Deutsche Buddhistische Union (DBU), die sich als traditionsübergreifender Dachverband von Menschen, die dem Buddhismus in Deutschland angehören, versteht.1
Die DBU reagierte mit ihrem Workshop auf die gesellschaftliche Wahrnehmung einer ökologischen Krise, die aktuell eine rege Diskussion in Medien und Öffentlichkeit erfährt und zu Protestmobilisierungen und anderen Formen zivilgesellschaftlichen Engagements auch und insbesondere unter jungen Menschen führt, wie etwa Fridays for Future.2 Vorausgegangen war der Beschluss auf der DBU-Mitgliederversammlung am 29. und 30. Mai 2021, verstärkt in Aktivitäten zu investieren, „bei denen es darum geht, buddhistische Antworten auf die großen Herausforderungen unserer Zeit zu finden“3. In einem Interview in der Zeitschrift „Buddhismus aktuell“ präzisierten Vorstands- und Ratsmitglieder den Beschluss der DBU unter Verweis auf „Fridays for Future und Xtinction Rebellion“: Es gehe darum, „öffentlich Position zu beziehen“, sich zu „vernetzen“ und „starke Allianzen“ mit Gruppen einzugehen, „die sich für soziale, ökologische und kulturelle Alternativen zur gegenwärtig vorherrschenden Lebensweise einsetzen“.4
Workshop-Format war der synchrone Informationsaustausch per Bild- und Tonübertragung mittels Software des US-amerikanischen Unternehmens Zoom Video Communications. Durch die Videokonferenz führte ein DBU-Vorstands- und Ratsmitglied mit Kurzimpulsen, Diskussionsmoderation und einer resümierenden Zusammenschau zur leitenden Fragestellung „Engagierter Buddhismus im Klimawandel: Welche Grundlage bietet der buddhistische Weg zur Transformation der Klimakrise?“. Den zentralen Referenztext bildete dabei das Buch des US-amerikanischen Autors und Zen-Lehrers David R. Loy (geb. 1947) „Ecodharma. Buddhist Teachings for the Ecological Crisis“ (2019), das 2021 unter dem Titel „ÖkoDharma“ auf Deutsch erschienen war.5 Damit knüpfte der Workshop an die Online-Veranstaltung „Ecodharma and the New Bodhisattva Path – ÖkoDharma und der neue Weg des Bodhisattva“ vom 17. Juni 2021 an, die von der Hamburger Initiative Buddha-Talk und der buddhistischen Hilfsorganisation Mitgefühl in Aktion e.V. (MiA) in Zusammenarbeit mit der DBU und der Buddhistischen Akademie Berlin-Brandenburg angeboten worden war.6 Die Veranstaltung war eine Buch-Vernissage mit Loy und seiner Verlegerin Ursula Richard (geb. 1955), von 2013 bis 2019 Chefredakteurin von „Buddhismus aktuell“ und seit 1986 deutsche Übersetzerin der (meisten) Bücher des bekannten Friedensaktivisten Thích Nhất Hạnh (1926 – 2022).
Wie die Buchvorstellung im Jahr zuvor7 bildete der DBU-Workshop einen Beitrag zum jährlich im Juni stattfindenden „Buddhist Action Month“ (BAM), der 2012 in Großbritannien vom 1993 gegründeten Network of Buddhist Organizations UK(NBO) initiiert worden war. Nach Angaben des NBO handelt es sich dabei um eine Initiative zur Selbstreflexion und Verständigung über die Frage, was es bedeutet, in der heutigen Welt dem Buddhismus anzuhängen, und inwiefern – angesichts von Klima- und Umweltkrise, Unterdrückung und Leid – Handlungsbedarf von buddhistischer Seite besteht.8 Der BAM ist als Einladung an Tempel, Zentren, Gruppen und Einzelne gedacht, eine angemessene Antwort auf diese Frage zu finden und entsprechende Maßnahmen zu ergreifen; das Motto für 2022 lautete „Mitgefühl und Verbundenheit in Krisenzeiten“.9 Seit 2014 wird der Aktionsmonat auch von der Europäischen Buddhistischen Union(EBU)gefördert, die 1975 als Dach buddhistischer Institutionen und Organisationen in Europa gegründet wurde. Zu ihren knapp 50 Mitgliedsorganisationen aus 16 Staaten zählt die DBU, die sich im Juni 2022 erstmalig mit ihrem Workshop in die Initiative eingebracht hat.
Der vorliegende Beitrag kontextualisiert den BAM-Workshop der DBU, indem er Dynamiken und Netzwerke der Globalisierung des Buddhismus seit dem 19. Jahrhundert in den Blick nimmt, wie sie Martin Baumann 2001 in großen Linien im „Journal of Global Buddhism“ nachgezeichnet hat.10 Baumanns Tour d’Horizon gegenüber ist der Beitragsfokus verengt. Im Blickpunkt stehen ausgewählte europäisch-amerikanisch-asiatische Kontaktsituationen und Austauschbeziehungen von Akteuren und Akteurinnen aus Buddhismus und Wissenschaft, aus denen das hervorging, was Eco Dharma („ÖkoDharma“) genannt wird.
Zen als gesellschaftlich engagiertes Handeln
Der BAM-Workshop der DBU ist eines von ungezählten späten Produkten jener Transformationsprozesse, die der Buddhismus während der europäischen Kolonialherrschaft im 19. und frühen 20. Jahrhundert durchlaufen hat. Damals begannen Persönlichkeiten, die den Buddhismus vertraten, an verschiedenen Orten Asiens, Nordamerikas und Europas mit dem Aufbau eines internationalen Netzwerks und leisteten so geografischen und thematischen Globalisierungsprozessen Vorschub, die sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts stark beschleunigt haben. Heute gehen viele Personen weltweit, die sich zum Buddhismus bekennen, nicht nur ihrer jeweiligen lokalen religiösen Praxis nach oder engagieren sich sozial und karitativ innerhalb ihres regionalen Kontrollbereichs. Sie befassen sich vielmehr auch mit Konflikten am anderen Ende der Welt, Krisen internationalen Ausmaßes und weltumspannenden Problemen – wie Kriegen und Menschenrechtsverletzungen, Formen sozialer, politischer und ökonomischer Ungerechtigkeit, Hungersnöten und ökologischen Problemen.
Diese Spielart des Buddhismus, die den Schwerpunkt auf gesellschaftliches und politisches Engagement legt und in vielen verschiedenen Formen verbreitet ist, wird als „(sozial) engagierter Buddhismus“ bezeichnet. Zu denjenigen, die ihn repräsentieren, gehört David R. Loy, Zen-Lehrer in der Tradition der Sanbō Kyōdan (wörtlich „Religiöse Organisation Drei Schätze“), einer Reformorganisation des japanischen Zen, die der Sōtō-Mönch Haku’un Yasutani (1885 – 1973) 1954 in Kamakura in der japanischen Präfektur Kanagawa ins Leben rief. Mit einem Zen-Stil, der das Erlebnis von kenshō („Wesensschau“11) betont, bildet die für Laienpraktizierende entwickelte Tradition eine Alternative neben den traditionelleren Modellen der Rinzai- und der Sōtō-Schule des Zen-Buddhismus. Ihre Gründung richtete sich insbesondere an Personen, die sich für Übungen interessierten, die in der Rinzai- und der Sōtō-Schule in der Regel dem Klerus vorbehalten waren: zazen („Sitzmeditation“) und kōan-Studium (Beschäftigung mit Kurzanekdoten und Sentenzen, deren Zen-repräsentativer Inhalt zumal auf Laien meist paradox wirkt).12
Loy begann seine Zen-Praxis 1971 in Hawaii unter zwei besonders bekannten Vertretern der Sanbō Kyōdan: Yamada Kōun (1907 – 1989) und Robert Aitken (1917 – 2010), deren Wirken ihn nachhaltig prägten.13 Von Kōun, Yasutanis Nachfolger, erhielt er 1988 in Japan den Dharma-Namen Tetsu’-un („Wolke der Weisheit“) und die Lehrerlaubnis, nachdem er nach seiner Promotion in Singapur Mitte der 1980er Jahre nach Kamakura gezogen war, um sein Zen-Studium mit Kōun fortzusetzen. Zuvor hatte er bei Aitken praktiziert, durch dessen Kontakte mit westlichen und asiatischen Akteuren Hawaii zu einem Knotenpunkt der Entwicklung eines Verständnisses von Zen als Weg zwischenmenschlich und gesellschaftlich engagierten Handelns wurde. Aitken, der damals bereits vielfältige Beziehungen zu Japan pflegte, hatte Yasutani 1957 dort kennengelernt, 1961 länger bei ihm studiert und Kōun, der seit 1970 die Sanbō Kyōdan leitete, nach Hawaii eingeladen; Kōun erteilte ihm 1974 die Lehrbefugnis und autorisierte ihn 1985 als Dharma-Nachfolger.14
1978 gründete Aitken – u. a. mit seiner Frau Anne Hopkins Aitken (1911 – 1994), mit der er zwei Zendos auf Oahu und auf Maui eröffnet hatte – die Buddhist Peace Fellowship (BPF), eine Graswurzelbewegung, in der sich Sozial-, Umwelt-, Abrüstungs- und Friedensaktivisten zusammenfanden.15 Anfangs ein loses Bündnis, das von Freundschaft, Briefwechseln und einem Newsletter zusammengehalten wurde, weitete sich die BPF bald aus und wurde zu einem internationalen Netzwerk, von dem eine große Zahl gewaltfreier Initiativen (wie Menschenrechtskampagnen, Gefängnisprojekte, Hospizarbeit, Friedensmärsche und Umweltgruppen) ausgeht. Der BPF seit ihren Anfängen verbunden, ist Loy heute selbst Aktivist und setzt sich für Ziele wie Frieden und Umweltschutz ein. 2016 etwa gab er demonstrativ die Ehrendoktorwürde seiner Alma Mater, des Carleton College in Northfield / Minnesota zurück, weil dieses in fossile Energieunternehmen investierte.16 2017 begründete Loy in der Nähe von Boulder / Colorado das „Rocky Mountain Ecodharma Retreat Center“ für alle diejenigen, „die erkennen, dass Aktivismus zur Verteidigung der Erde ein wesentlicher Teil des spirituellen Weges ist“17.
Eine wichtige Inspirationsquelle für Loys buddhistischen Aktivismus ist neben der BPF Thích Nhất Hạnh, der sich in den 1960er Jahren für Frieden in Vietnam ausgesprochen hatte und 1973 ins französische Exil gehen musste. Durch seine von der BPF mitgesponserten USA-Touren in den 1980er Jahren erfuhr die BPF einen erheblichen Mitgliederzuwachs, Bekanntheit in der weiteren Öffentlichkeit – und wurde unverbrüchlich mit dem Begriff engaged Buddhism verbunden, den Thích Nhất Hạnh in den 1960er Jahren geprägt hatte (s. u.).18
1985 stellte Thích Nhất Hạnh auf seiner Tour Ideen zu sozialem Handeln vor, die er in Südostasien während des Vietnamkrieges bei der Gründung seines Tiếp Hiện-Ordens (Orden des „Interseins“) entwickelt hatte – und die erst in den USA und dann global Verbreitung erfuhren, auch im deutschsprachigen Raum. Sie beruhen u. a. auf Deutungen buddhistischer Sūtras, die beanspruchen, authentisches Buddha-Wort zu bewahren, und dem sog. Bodhisattva-Ideal. Etwa vor 2000 Jahren begann sich in Asien eine Bewegung mit der Selbstbezeichnung Mahāyāna („großes Fahrzeug“) zu formieren, die eigene Sūtras hervorbrachte und ein neues Ideal formulierte: die Buddhaschaft, die Verwirklichung eines Bewusstseinszustands, die für andere Lebewesen von höchstem Nutzen ist. Die ihr Angehörenden gelobten, als Bodhisattva(jmd. auf dem Weg zur Buddhaschaft) in unzähligen Existenzen aus Mitgefühl anderen Lebewesen beizustehen – auf dass am Ende alle Wesen Buddhaschaft erreichen.19 Das Bodhisattva-Ideal hat einen hohen Stellenwert in verschiedenen modernen Formen des Buddhismus, insbesondere des Zen und tibetischer Richtungen. Mit den sog. Bodhisattva-Gelübden, in denen es zum Ausdruck gebracht wird, dient es zur Motivation, regelmäßig Übungen zur Entwicklung von Mitgefühl durchzuführen und dieses im Alltag zum Wohle aller fühlenden Wesen umzusetzen. Menschen, die sich mit dem Bodhisattva-Weg identifizieren, geloben, nicht eher das vollständige „Erwachen“ (Sanskrit, Pali: bodhi, häufig auch mit „Erleuchtung“ übersetzt) zu erlangen, bevor dies nicht allen anderen Lebewesen widerfahren ist.
Wie Thích Nhất Hạnh und unter Bezug auf ihn erklärt Loy, dass sich seine Lösungsvorschläge für die sozialen und politischen Probleme, die er diagnostiziert, aus der buddhistischen Tradition ableiten lassen.20 Dabei bezieht er sich u. a. auf buddhistische Basistexte des Pāli-Kanon der Theravāda-Schule, d. h. die doktrinäre Grundlage des älteren Buddhismus, und das Bodhisattva-Ideal, das übrigens auch für seinen Lehrer Aitken grundlegend war. Aitken war davon überzeugt, dass die Rolle eines zeitgenössischen Bodhisattva, der das Bodhisattva-Gelübde abgelegt hat, „all creations without restriction“ zu retten, durch soziales Handeln, insbesondere durch radikalen Pazifismus, effektiv erfüllt werde.21 Loy knüpft an dieses Verständnis von Mitgefühl an, auch und insbesondere in seinem Buch von 2019. Darin stellt er unter Gebrauch des Kofferworts „Ökosattva“ ein Bodhisattva-Ideal vor, das seinem Verständnis nach zeitgemäß aktualisiert ist – und mit dem er in seinem Selbstverständnis als sozial engagierter Buddhist zu Aktivismus in Reaktion auf die ökologischen Probleme der Zeit aufruft.22
(Sozial) engagierter Buddhismus: Selbstbezeichnung und Analysekategorie
Der Begriff „engagierter Buddhismus“ hat eine verhältnismäßig kurze, aber wechselvolle Geschichte, die im 20. Jahrhundert beginnt. Die Wurzeln liegen u. a. in den Reformbemühungen des chinesischen Chan-Mönches Taixu (1890 – 1947), der zwar zumeist nicht als „engagierter Buddhist“ bezeichnet wird. Er hatte aber – mit seinem Konzept eines renshen fojiao („Buddhismus für das menschliche Leben“), das sein Schüler Yinshun (1906 – 2005) zum Konzept „Buddhismus der Menschenwelt“ (renjian fojiao) weiterentwickelte – maßgeblichen Einfluss auf vietnamesische, koreanische und taiwanesische Einzelakteure und Gruppen, die dem engagierten Buddhismus zugerechnet werden, besonders auf Thích Nhất Hạnh.23 Der Ausdruck renjian fojiao, ins Vietnamesische gebracht als nhan gian phat giao, avancierte zu einem Schlüsselbegriff, den Thích Nhất Hạnh adaptierte und in der von ihm bevorzugten Übersetzung, der Verbindung aus dem Adjektiv „engagiert“ (frz. engagé, engl. engaged) und dem Substantiv „Buddhismus“, zu einem integralen Teil seines Selbstverständnisses als Mönch und Aktivist machte.24 Damit schuf er das Fundament, von dem aus sich international der Begriff „Engaged Buddhism“ zur Beschreibung eines modernekompatiblen, in der Gesellschaft sozial-politisch aktiven Buddhismus durchsetzte.
Die heutige Etabliertheit des Begriffs als Selbstbezeichnung und akademische Analysekategorie für ein breites Spektrum an Formen sozial-politischen buddhistischen Engagements ist Produkt zweier ineinandergreifender Faktoren: gesellschaftlicher Aktion und wissenschaftlicher Studien. In den 1980er Jahren nahmen asiatische und westliche engagierte buddhistische Aktivisten und Aktivistinnen den erweiterten Begriff „sozial engagierter Buddhismus“ auf und machten ihn in Forschungen über damit Bezeichnetes fruchtbar.25
Maßgeblich angestoßen wurde die Diskussion Ende der 1980 Jahre durch die Anthologie „The Path of Compassion. Writings on Socially Engaged Buddhism“, eine Kopublikation der Buddhist Peace Fellowship und der Parallex Press, die von Thích Nhất Hạnh und seinem Schüler Arnold Kotler (geb. 1946) gegründet wurde.26 „The Path of Compassion“ band Texte erster Mitglieder der BPF, darunter Joanna Macy (geb. 1929), Gary Snyder (geb. 1930) und Jack Kornfield (geb. 1945), mit Beiträgen von Thích Nhất Hạnh, dem 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso (geb. 1935) und dem prominenten Intellektuellen und Aktivisten Sulak Sivaraksa (geb. 1933) zusammen, die 1989 in Thailand (mit Sivaraksa als Gründer) das International Network of Engaged Buddhists (INEB) ins Leben riefen. Dabei handelt es sich um ein Netzwerk, das Einzelnen, Gruppen und Institutionen aus zahlreichen Ländern weltweit, so auch aus Deutschland, zum Ideenaustausch über Themen und Projekte dient. Die Einführung in die Anthologie verfasste der Japanologe und Zen-Experte Kenneth Kraft (1949 – 2018), der wenig später Professor für Buddhismus-Studien und Japanische Religion an der Lehigh University in Bethlehem / Pennsylvania wurde. Weitere Beiträge stammen von dem srilankischen Mönch Walpola Rahula (1907 – 1997), der seit 1964 Professor für Geschichte und Religionen an der Northwestern University in Evanston / Illinois war, und von Robert Thurman (geb. 1941), der nach einer Professur am Amherst College in Massachusetts 1988 als Professor für Religion und Sanskrit an die Columbia University in der Stadt New York wechselte. Stimmen zur Rolle der Frauen, wie Charlene Spretnak (geb. 1946), die sich damals einen Namen im Bereich von Frauenspiritualität und Ökofeminismus machte, runden den Band ab. Es folgten ähnliche Publikationsprojekte. 1996 etwa veröffentlichte Arnold Kotler den „Engaged Buddhist Reader“, der 1999 unter dem Titel „Mitgefühl leben. Engagierter Buddhismus“ auch auf Deutsch erschien.
Die Diskussion rund um die Inhalte der Sammlung von 1988 löste in den 1990er Jahren eine erste Welle akademischer Forschung zum engagierten Buddhismus aus. Konferenzen fanden statt, Sammelbände erschienen, Zeitschriften wurden lanciert.27 Dabei steckten buddhistische Gelehrte und Praktizierende das neue Forschungsfeld ab, legten Parameter für seine Untersuchung fest und etablierten „Engaged Buddhist Studies“ als Teilgebiet der „Buddhist Studies“, wobei seit den 1980er Jahren auch der erweiterte Begriff „sozial engagierter Buddhismus“ Verwendung durch asiatische wie westliche engagierte buddhistische Aktivistinnen und Aktivisten in Aktionen wie in Publikationen findet. Zu den treibenden akademischen Kräften zählten Christopher S. Queen (geb. 1945), Dozent für Buddhismus an der Harvard University in Cambridge / Massachusetts, und Sallie B. King (geb. 1952), Professorin für Philosophie und Religion an der James Madison University in Harrisonburg / Virginia. Sie übernahmen den Begriff und beschrieben mit ihm nicht nur Thích Nhất Hạnhs Friedensaktivismus, sondern verschiedene soziale buddhistische Aktionen und Bewegungen, wie den Kampf des Sozialreformers B. R. Ambedkar (1891 – 1956) gegen die Kastendiskriminierung in Indien und die Bemühungen des Lehrers A. T. Ariyaratne (geb. 1931), ländliche Armut in Sri Lanka zu lindern und nachhaltigen Frieden zu erwirken.
Der Aufsatzband „Engaged Buddhism. Buddhist Liberation Movements in Asia“, den Queen und King 1996 in gemeinsamer Pionierarbeit herausgaben, aber auch Folgebände der beiden aus den 2000er Jahren erweisen sich, wie Zitationen belegen, als bis heute in der Forschung einflussreich.28 Dabei findet sich neben lobender Zustimmung in rezenten Arbeiten abgrenzende Kritik, die zeigt, dass sich „Engaged Buddhism“ als Analysekategorie und Teilbereich der Buddhismus-Studien in einem sich ständig aktualisierenden Aushandlungsprozess befindet. Mit einer neuen Generation von Menschen, die dem Buddhismus angehören, mit ihm sympathisieren und über ihn forschen, haben sich nach 2000, insbesondere in den 2010er Jahren die Perspektiven geändert. Neue Studien spiegeln den kulturellen Wandel von der Moderne zur Postmoderne wider und sind durch eine erhöhte Aufmerksamkeit für postkoloniales Denken, Diversität und Intersektionalität gekennzeichnet. Nachdem die erste Forschungswelle abgeflaut ist, baut sich eine neue Welle auf, die von aktuellen Forschungstrends und -paradigmen bestimmt ist.
Dazu gehören, vor allem im angloamerikanischen Raum, die Strukturkategorie Gender / Geschlecht, Fragen der sexuellen Orientierung sowie gesellschaftliche Differenzsetzungen aufgrund von Herkunft, Nationalität, Ethnizität, zugeschriebener Hautfarbe (race) und Behinderungen / Beeinträchtigungen.29 Studien mit einem Asienschwerpunkt fordern zudem die Berücksichtigung von Standpunkten asiatischer Buddhisten und Buddhistinnen, die infolge der Parameter der Pionierstudien nicht als „sozial engagiert“ eingestuft wurden, aber möglicherweise doch so aufgefasst werden können. Diese Arbeiten erweitern den bisherigen Anwendungsbereich der Analysekategorie, hinterfragen ihre heuristische Tauglichkeit und erklären es für notwendig, bisher geltende Kategorienmerkmale, Kriterien wie Gewaltlosigkeit und kritische Distanz zum Nationalstaat, einer Revision zu unterziehen.30
Ein weiteres Monitum betrifft die Metaposition dem Gegenstand gegenüber. Einige Forschungen bringen zum Ausdruck, dass sie in den „Engaged Buddhist Studies“ konsequenter einzunehmen sei, wobei Kritik insbesondere normative Momente der Pionierforschung sowie Essentialisierungen betrifft. Moniert wird z. B., dass die erste Forschungsgeneration der Analysekategorie, mit der sie ihren Gegenstand konstituierte, moralische Bewertungen eingeschrieben und pazifistische Generalisierungen vorgenommen hat.31 Zudem wird das Fehlen von kritisch-historischen Analysen etablierter engagierter buddhistischer Persönlichkeiten und Gemeinschaften beklagt und mit dem Umstand begründet, dass Studien weitgehend von Insidern oder Fürsprecherinnen des engagierten Buddhismus stammen.32 Beide Kritikpunkte zielen auf die Doppelrolle des scholar-practitioner(„gelehrter Praktiker, gelehrte Praktikerin“) in der Scientific Community einerseits und in der Buddhist Community andererseits, die zuerst Charles S. Prebish, selbst scholar-practitioner, thematisiert hat. Rollen und Umgebungen von scholar (in Lehre und Forschung akademischer Einrichtungen) und practitioner (in buddhistischen Zusammenhängen und Institutionen) sind weitgehend segmentiert.33 Im Leben und Wirken einer Person, die sich als scholar undpractitioner versteht, fallen sie zusammen – was kontrovers diskutiert wird. Victor G. Temprano etwa gibt zu bedenken, dass die Verpflichtungen und Identitäten, die jeweils mit den verschiedenen Rollen einhergehen, miteinander konfligieren und Quelle von Bias sein können. Er verweist darauf, dass in den Buddhismus-Studien z. B. Urteile darüber gefällt werden, welche Formen des Buddhismus authentisch und welche lediglich moderne Aneignungen seien, und zieht die Möglichkeit in Erwägung, dass diese Urteile Insider-bedingtem Bias geschuldet sein könnten.34
Es ist hier nicht der Ort, die scholar-practitioner-Diskussion, die innerhalb der Buddhismus-Studien geführt wird, aufzurollen; doch sollte der Hinweis auf sie angesichts der geäußerten Kritik nicht versäumt werden. Festzuhalten ist: Ein bewusster Umgang mit der Analysekategorie „Engaged Buddhism“ bzw. „Socially Engaged Buddhism“ auf Basis von kritischer Reflexion der eigenen Position und deren Überprüfung auf wertende Urteile und Verallgemeinerungen kann nur hilfreich sein. Und: Wer wollte Deutungshoheit in der Frage beanspruchen, ob nicht auch konservative, nationalistische und sogar ethnozentrische moderne Formen des Buddhismus, die nicht-pazifistisch sind, als Formen des engagierten Buddhismus gelten können oder die etablierte Analysekategorie zu ersetzen sei. M. E. steht es an, systematisch-vergleichend zwischen strukturell ähnlichen, aber inhaltlich verschiedenen Agenden sozial und politisch engagierter Buddhistinnen und Buddhisten zu unterscheiden, indem in nicht normativer Weise Übereinstimmungen und Konvergenzen sowie Unterschiede und kategoriale Differenzen herausgearbeitet werden.
Teil 2 dieses Beitrags, in dem David Loys „ÖkoDharma“ im Mittelpunkt stehen wird, folgt in der nächsten Ausgabe der ZRW.
Almut-Barbara Renger, 15.07.2022
Anmerkungen
1 Die DBU (vollständiger Name: Deutsche Buddhistische Union e. V. – Buddhistische Religionsgemeinschaft) wurde 1955 als Deutsche Buddhistische Gesellschaft mit seinerzeit 43 Mitgliedern gegründet. Sie besteht derzeit aus 63 Gemeinschaften (Stand: Juli 2022) sowie 4300 Einzelmitgliedern. Die Summe der Mitglieder der Mitgliedsgemeinschaften beträgt ca. 11 500 Personen.
2 Vgl. Haunss / Sommer (Hg.) 2020.
3 Deutsche Buddhistische Union 2021.
4 Billig 2021.
5 Loy 2019; Loy 2021.
6 Buddha-Talk Hamburg 2021. Die Veranstaltung von 19 bis 21 Uhr lief als „Spezial Teil 1“. Am 15. Juli folgte um 20 Uhr der „Spezial Teil 2“, eine Kooperationsveranstaltung von Buddhist Global Relief und MiA mit dem Titel „Bhikkhu Bodhi in Discussion with David Loy: Buddhist responses to a world in crisis“.
7 Vgl. Buddha-Talk 2021
8 Vgl. Network of Buddhist Organisations 2022a.
9 Vgl. Network of Buddhist Organisations 2022b.
10 Baumann 2001; vgl. auch Baumann 2018.
11 Die Übersetzung des Begriffs kenshō wird kontrovers diskutiert. U. a. wird von „(kleiner) Öffnung“ und „erster Erleuchtungserfahrung“ gesprochen.
12 Vgl. Sharf 1995.
13 Vgl. Völker 2020, 30 – 54.
14 Vgl. Tworkov 1989, 23 – 62.
15 Vgl. Simmer-Brown 2000.
16 Vgl. Weyhe 2016.
17 Rocky Mountain Ecodharma Retreat Centre 2017.
18 Vgl. Davis 1993; Prebish 1999, 108 – 114.
19 Vgl. hierzu auch Schmidt-Leukel 2017, 187 – 206.
20 Vgl. Loy 2021, 261 – 269.
21 Tworkov 1989, 52. Zu Aitkens Bodhisattva-Verständnis und insbes. den Bodhisattva-Gelübden s. auch Aitken 1990.
22 Vgl. Loy 2021, 269 – 278. Vgl. auch Buddha-Talk Hamburg 2021.
23 Vgl. DeVido 2009.
24 Vgl. Hạnh 1967. Schon der Titel seines 1964 in Saigon erschienenen Buchs „Đạo Phật đi vào cuộc đời“ (wörtlich „Buddhismus, der ins Leben eintritt“) wurde ins Englische als „Engaged Buddhism“ übersetzt.
25 Vgl. Queen 1996, 25.
26 Vgl. Eppsteiner (Hg.) 1988.
27 Zu Details vgl. Kraft 2000.
28 Queen / King (Hg.) 1996 sowie z. B. Queen (Hg.) 2000; Queen / Prebish / Keown (Hg.) 2003; King 2005; King 2009.
29 Vgl. Gleig 2019.
30 Vgl. Ip 2009; Fuller 2021.
31 Vgl. Main / Lai 2013.
32 Vgl. Gleig 2021.
33 Vgl. Prebish 1999, bes. 183, 189, 206 – 207; vgl. zum Thema auch Prebish 2002.
34 Vgl. Temprano 2014, 268 – 270.
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