Ohne Gott leben. Religionspsychologische Aspekte des „Unglaubens“
Sebastian Murken (Hg.), Ohne Gott leben. Religionspsychologische Aspekte des „Unglaubens“, diagonal-Verlag, Marburg 2008, 262 Seiten, 15,00 Euro.
Wie vielfältig christlicher Glaube sich ausformen kann, darüber belehrt spätestens die Konfessions-Statistik. Wie plural sich aber auch der Unglaube äußert – anders als manche seiner selbsternannten Repräsentanten glauben machen wollen –, das ist diesem außerordentlich informativen Buch von Sebastian Murken zu entnehmen.
Ausgangspunkt war eine Initiative der Erzdiözese Köln, nach erfolgreichen Dialogprojekten mit Muslimen und Buddhisten das Gespräch auch mit Menschen zu suchen, die sich als glaubensfern erleben. „Wie fühlt sich ein Leben ohne Gott an? Woraus schöpfen diese Menschen Kraft? Gibt es Gründe, die sie vom Glauben abgebracht haben?“ (10) Um Antworten auf diese Fragen zu finden, eröffnete die Erzdiözese im Internet eine Seite (www.ohne-gott.de), auf der Interessierte ihre Erfahrungen und Argumente mitteilen konnten. Wer eine E-Mail-Adresse hinterließ, erhielt eine Antwort von Mitarbeitern der Erzdiözese; manchmal wurde ein längerer Austausch daraus, wie die Projektleiter Werner Höbsch und Bernhard Riedl berichten. Zugleich blieben die Einträge auf der Website öffentlich sichtbar; 1750 waren es zwischen Juni 2002 und Juni 2007.
Dieses Material nun hat Sebastian Murken mit Studierenden seines religionswissenschaftlichen Seminars ausgewertet und einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen. Das Ergebnis zeigt die Vielfalt atheistischer Positionen ebenso eindrücklich wie die manchmal überraschend große Schnittmenge gläubiger und ungläubiger Positionen. Drei Motivbündel stellt die Analyse für die Begründung des Nicht-Glaubens heraus. Unter der Überschrift „Zweifel und Enttäuschung“ findet sich eine Ablehnung Gottes, die in erster Linie auf persönliche Verletzungen zurückzuführen ist. Der Zweifel oder die vehemente Kritik an einem Gott, „der alles so herrlich regieret“, resultiert vor allem aus der Enttäuschung am Verhalten von Kirche, Gläubigen und Amtsträgern. „Im religiösen Kontext erlebte Kränkungen und Enttäuschungen erschüttern das Selbstgefühl einer Person in einem Ausmaß, das kaum rückgängig gemacht werden kann. Für kirchliche Vertreter oder Mitarbeiter mag es dabei überraschend sein, wie konsequent im Erleben negative Erfahrungen mit einzelnen kirchlichen Vertretern auf die Kirche als Ganzes und sogar auf Gott übertragen werden“ (41).
Ein zweiter Strang beleuchtet das Motivbündel einer auf Gleichgültigkeit und religiöser Indifferenz fußenden Ablehnung Gottes. Sie ist Resultat einer nachhaltig nichtreligiösen Sozialisation, wie sie vor allem in den neuen Bundesländern schon über mehrere Generationen ausgeprägt ist. „Gottesferne“ wird hier nicht als Defizit empfunden, schon gar nicht als schmerzhaftes. Eher herrscht Erstaunen, dass andere Menschen offenbar an so etwas wie Gott glauben. In einem der erfreulich reichhaltig eingestreuten Zitate liest sich das so: „Ich kann nicht an einen Gott glauben, weil es für mich nie einen Grund gab, an ihn zu glauben. Mein Leben hat auch ohne ihn einen Sinn“ (149).
Anders sieht es bei der dritten Gruppe aus, die zwar das christliche Gottesbild ablehnt, oft überhaupt ein personales Gottesbild, aber durchaus über Alternativen nachdenkt. Das sind zumeist apersonale Vorstellungen wie „Gott ist Energie“ oder „Gott ist das All, der Kosmos, die Unendlichkeit ... Und ich sehe auch nicht in Gott die Aufgabe, uns zu helfen; dies tun für mich die jeweils persönlichen spirituellen Begleiter“ (213). Während der Begriff „Gott“ hier eher Abwehr hervorruft, ist „Spiritualität“ durchaus positiv besetzt. Wenn eine konkrete Religion als Alternative in Frage kommt, dann am ehesten der Buddhismus – „eine Religion ohne Verbote, ohne göttliche Strafe, ohne spießige Moral, ohne Buckeln vor Gott“ (195). Aber auch ein betonter Humanismus als eigene, nicht „von oben“ bestimmte Wertsetzung zählt zu den hier genannten Alternativen.
Auch diese drei zusammenfassenden Motivbündel weisen in sich wiederum sehr unterschiedliche Facetten auf. Mit Recht resümiert Murken im Schlusskapitel, „dass die religiös-apologetisch geprägten Kategorien Glauben versus Unglauben nicht wirklich sinnvoll und hilfreich sind. Ausgehend von der Frage, wie Menschen Sinn konstruieren, Kontingenz bewältigen und Kohärenz herstellen, muss es eher darum gehen, diese individuellen Sinnkonstruktionen mit ihren sozial determinierten Metaphern zu erfassen, zu verstehen und zu systematisieren“ (254f). Denn anders als in eher traditionsgesteuerten Gesellschaften ist gerade die Sphäre der Weltanschauung heute ein Bereich eines nahezu grenzenlosen, kaum durch gesetzliche oder gesellschaftliche Sanktionen bedrohten Individualismus. „Die Wahlmöglichkeiten und -notwendigkeiten der Moderne ... bedingen ungleich mehr Varianten und innere Ausgestaltungen religiöser, quasireligiöser, spiritueller oder „weltlicher“ Glaubensformen, als dies durch herkömmliche Kategorien fassbar ist“ (255). Das ist der vielleicht spannendste Befund: Wer Hoffnungen und Ängste, Enttäuschungen und Wünsche der Menschen heute ernsthaft erfassen will, sollte sich den Blick nicht zu rasch von festen Zuordnungen und Kategorien wie „Säkularisierung“ oder „Wiederkehr der Religion“ einengen lassen. Die Wirklichkeit ist weniger übersichtlich, aber umso spannender – sowohl für die sozialwissenschaftliche Forschung als auch für kirchliche Versuche, die Botschaft Jesu in unterschiedlichen Horizonten verstehbar zu verkünden.
Lutz Lemhöfer, Frankfurt a. M.