Olympiade im Mormonen-Zentrum
Der größte Korruptionsskandal in der olympischen Geschichte hat es nicht mehr verhindern können: In Salt Lake City, dem Weltzentrum der größten Mormonen-Kirche namens "Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage" (kurz: HLT), wird vom 9. bis 24. Februar 2002 die erste Winter-Olympiade im neuen Jahrtausend stattfinden. Marc Hodler, der die Bestechung im Dezember 1998 auf der IOC-Exekutivsitzung in Lausanne öffentlich gemacht hatte, unterstrich zugleich: "Es gibt keinen Ort der Welt, der besser für die Olympischen Winterspiele geeignet ist."
Die "Salzsee"-Stadt im weiten Tal zwischen den Südwest-Ausläufern der Rocky Mountains war 1847 von Brigham Young (1801-1877) und den mormonischen Pionieren jener Tage - drei Jahre nach dem Tod des Gründerpropheten Joseph Smith (1805-1844) - gegründet worden. Ihr Auf- und Ausbau verdankte sich nicht zuletzt der internationalen Missionsarbeit, die zu einem anhaltenden Zuzug Neubekehrter vor allem aus England führte. 1896 wurde sie Hauptstadt des neuen US-Bundesstaates "Utah"; die Einwohnerzahl war mittlerweile auf fast 50 000 angewachsen. Heute liegt diese Zahl bei über 180 000; allein seit dem Bekanntwerden des Olympiade-Zuschlags 1995 hat sie um 40 000 zugelegt. Salt Lake City gehört zu den am schnellsten wachsenden Metropolen der USA.
Und das dürfte nicht allein mit der Olympiade zu tun haben, sondern ein Stück weit auch mit der Struktur der konservativen Mormonen-Gesellschaft, die aus religiösen Gründen auf Alkohol, Nikotin, Koffein und Drogen jeder Art sowie auf Prostitution verzichtet. Ihrem strengen Moralkodex, sicher aber auch der vergleichsweise sauberen Luft dort verdanken die HLT "gesündere und leistungsfähigere Menschen als anderswo", meint Gouverneur Mike Leavitt, der dem Staat Utah mit seinen zwei Millionen Einwohnern und einer extrem niedrigen Kriminalitätsrate vorsteht.
Rund drei Viertel der Einwohner sind Mitglieder der HLT. Die rechtwinkligen Straßen der sauber und aufgeräumt wirkenden Metropole führen zum so genannten Tabernakel, dem gigantischen Versammlungssaal der Mormonen, sowie zum riesigen Granit-Tempel mit seinen Zinnen, Türmen und Balustraden. Sollten diese Faktoren die Atmosphäre der Spiele nicht ebenso beeinflussen wie der damit zusammenhängende strenge Umgang mit Alkohol? Muss womöglich mit direkter oder indirekter Missionsabsicht gerechnet werden?
Schon wer sich vorab im Internet informieren möchte, kommt über die offizielle Seite der Olympischen Spiele unschwer zu einem "Interfaith"-Link, das neben den vor Ort befindlichen Katholiken, Baptisten und der Heilsarmee natürlich die HLT mit ihrer einladenden Homepage aufführt. Die aus Anlass der Spiele eigens gegründete Zeitschrift mit dem doppelsinnigen Titel "Peak Experience" ("Höchsterfahrung") preist die "unvorstellbare Weite und Tiefe der Kultur Utahs" an, die es im Zuge der angesagten Festlichkeiten und Zeremonien mit der Welt zu "teilen" gelte.
Missionare der HLT werden ihre Tätigkeit während der Olympiade allerdings auf den zentralen Tempelplatz beschränken. Bruce Olsen, Verwaltungsdirektor der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit der HLT, ist sich durchaus bewusst: "Die Olympischen Winterspiele wurden der Stadt Salt Lake City und dem Staat Utah zugesprochen und nicht der Kirche. Unsere Aufgabe besteht darin, das Gemeinwesen tatkräftig zu unterstützen."
Und das ist natürlich geschehen. So haben die HLT dem Verkehrsministerium von Utah über sechzig Hektar Land für den Bau einer Zugangsstraße zum Wintersportpark überlassen und sich auch sonst vielfältig für die Durchführung der Spiele engagiert:
Sie werden während der ganzen Olympiade die Weihnachtszeitbeleuchtung von Tempel Square anlassen. Sie haben im Joseph-Smith-Gedächtnis-Gebäude ein "News Resource Center" für Medienvertreter eingerichtet, die dort kostenlos "Sets für Reportagen" mit Wissenswertem über die "Kirche Jesu Christi der HLT" erhalten können. Sie werden vier Konzerte ihres berühmten "Mormon Tabernacle Chores" zur Aufführung bringen. Die von ihnen gesponsterte Brigham-Young-Universität, mit 32 000 Student(inn)en die größte Privat-Universität der Welt, wird unter anderem durch ihr Kindertanztheater auf sich aufmerksam machen. Zur Sache wird es insbesondere mit der Premiere und neun weiteren Aufführungen von "Light of the World" ("Licht der Welt") gehen, einer aufwendigen Theaterproduktion: Das mit Musik, Tanz, Licht- und anderen optischen Effekten ausgestattete Stück erzählt vom Mut und der Entschlossenheit der HLT-Pioniere, die einst nach Westen zogen; es soll aufzeigen, welche Macht von ihrem Glauben ausging. Diese zehn Vorstellungen werden im neuen, 21 000 Sitzplätze fassenden Konferenzzentrum, dem größten religiös genutzten Saalbau der Welt, nördlich des Tempelplatzes stattfinden.
Kein Zweifel: Beachtliche Chancen für eine weltweit steigende Wahrnehmung eröffnen sich in diesem Monat für die Utah-Mormonen (über ihre Religion informiert der Vf. im neuesten EZW-Text Nr. 161). Zwar mussten sie erst kürzlich den Rückschlag hinnehmen, dass ihre Taufe von der größten Kirche der Christenheit, der römisch-katholischen, nicht mehr als "christliche" anerkannt wird; ein Jahrzehnt zuvor hatten bereits viele evangelische Kirchen der Welt einen entsprechenden Beschluss gefasst. Aber das kann die einem spirituellen Fortschrittsglauben frönenden 11 Millionen "Heiligen", die ihre Kirchenorganisation exklusivistisch mit dem "Reich Gottes auf Erden" gleichsetzen, unmöglich entmutigen. Glänzt doch in der Olympia-Stadt oben auf dem höchsten Turm des Tempels die goldene Statue des Engels "Moroni", der eine Trompete an seine Lippen hält: Dieses Symbol für die Verkündigung des mormonisch gedeuteten Evangeliums wird sich nicht nur vorübergehend, sondern bleibend in der Erinnerung der unmittelbaren Nähe zum Symbol der olympischen Ringe erfreuen dürfen. Die Weltchristenheit sollte sich darauf einstellen.