Open Letter von Muslimen an die Juden
Als Geste guten Willens haben muslimische Gelehrte des Zentrums für das Studium muslimisch-jüdischer Beziehungen in Cambridge (CMJR) einen Offenen Brief an die Juden in aller Welt gerichtet. Wenn auch nicht ausdrücklich, so nimmt „A Call for Peace, Dialogue and Understanding between Muslims and Jews“ doch in Form und Intention deutlich den Dialogimpuls des Offenen Briefes der 138 islamischen Religionsführer an die Weltchristenheit vom Oktober 2007 auf. Ziel des Schreibens ist es, das gegenseitige Verständnis zu fördern und positiv und konstruktiv auf die muslimisch-jüdischen Beziehungen einzuwirken. Über 40 Unterzeichner, darunter der bosnische Großmufti Mustafa Ceri´c sowie die Professoren Sari Nusseibeh (Jerusalem), Tariq Ramadan (Oxford) und Abdulaziz Sachedina (Virginia/USA), verleihen auch diesem Dokument das Gewicht einer internationalen und in dieser Weise bisher einmaligen Initiative.
Eingeleitet wird der Brief neben der Basmala und dem Friedensgruß auf Hebräisch und Arabisch mit dem Koranvers 2,62: „Wahrlich, diejenigen, die glauben, und die Juden, die Christen und die Sabäer, wer an Allah und den Jüngsten Tag glaubt und Gutes tut – diese haben ihren Lohn bei ihrem Herrn und sie werden weder Angst haben noch werden sie traurig sein.“ Die Autoren beklagen die vielfach anzutreffende Situation intoleranter, häufig gewalttätiger Spannungen, die weniger einem Zusammenprall der Kulturen als einem „Zusammenprall aufgrund fehlgeleiteter Missverständnisse“ entsprängen. Sie berufen sich auf Zeiten fruchtbarer und friedlicher Koexistenz von Muslimen und Juden in der Geschichte (mittelalterliches Spanien) und heben lehr- und glaubensmäßige Gemeinsamkeiten hervor. Ausdrücklich demonstrieren die Verfasser durch den Brief Meinungsvielfalt im Islam und die Bereitschaft von Muslimen zum Gespräch mit Juden, das vom Nahostkonflikt nicht völlig überschattet sein soll.
Sind schon diese Feststellungen mehr als bemerkenswert, so wird im Hauptteil des gut fünfseitigen Schriftstücks eine Fülle von inhaltlichen Übereinstimmungen in wichtigen Grundüberzeugungen entfaltet und teilweise mit Koranstellen belegt, so das Bekenntnis zum einen und einzigen Gott (Shahada und Shema’), der Glaube an die göttliche Autorschaft von Tora und Koran wie auch an die Propheten sowie die Ausrichtung an einer ausdifferenzierten Orthopraxie (Sharia, Halacha) bis hin zu vergleichbaren Speisevorschriften (halal und kosher).
Negative Koranaussagen werden ohne Zitierung nur kurz gestreift und als historisch ins 7. Jahrhundert gehörig relativiert. Dagegen wird ausführlich – und vereinfachend – auf die Charta von Medina Bezug genommen, die Juden und Muslime als eine Gemeinschaft (umma) apostrophiert. Weitere Verbindungen von Juden und Muslimen in der Entfaltung der theologischen und philosophischen Tradition finden Erwähnung, um am Ende zum Dialog und zum Respekt zwischen Menschen aller Glaubensrichtungen aufzurufen – auch über die „abrahamischen“ Religionsgemeinschaften hinaus.
Dies geschieht allerdings nicht, ohne im Blick auf die Minderheitensituation Antisemitismus und Islamophobie auf eine Ebene gehoben und den Juden mangelnde Sensibilität hinsichtlich des Leidens des palästinensischen Volkes vorgehalten zu haben. Das eine ist eine immer häufiger zu beobachtende Strategie muslimischerseits, um gleichsam in Trittbrettfahrermanier von den mühsam etablierten Standards in der Antisemitismusdebatte zu profitieren (die im Grunde jedoch völlig anders gelagert ist); das andere verschafft palästinensischem (letztlich auch terroristischem) Widerstand indirekt eine in diesem Kontext zweifelhafte Legitimität.
Kann dies als Schmälerung der Brückenbaufunktion des Briefes gelesen werden, so ist doch der außergewöhnlich positive Grundton und die explizit zum Ausdruck gebrachte „ausgestreckte Hand“ uneingeschränkt zu begrüßen und zu ergreifen. Es ist deshalb zu wünschen, dass der Brief breiteste Beachtung findet, nicht nur unter Juden, die übrigens in Form einer Mitteilung des International Jewish Committee on Interreligious Consultations (New York) umgehend sehr positiv auf den Dialogaufruf reagiert haben.
Der Text ist im Internet abzurufen unter www.woolfinstitute.cam.ac.uk/cmjr/assets/pdf/letter.pdf, Weiteres siehe unter www.woolfinstitute.cam.ac.uk/cmjr.
Friedmann Eißler