Opfer der „Colonia Dignidad“ werden erstmals entschädigt
(Letzter Bericht: 2/2017, 63f) Opfer der früheren deutschen Siedlung „Colonia Dignidad“ in Chile sollen erstmals finanzielle Unterstützung bekommen. Bis zu 10 000 Euro pro Person seien vorgesehen, teilte ein Staatssekretär der Bundesregierung am 17.5.2019 in Berlin mit. Von den Hilfen seien rechtskräftig verurteilte Straftäter sowie Führungspersonen ausgeschlossen. Das Konzept wurde von einer gemeinsamen Kommission aus Bundestag und Bundesregierung ausgearbeitet. Insgesamt gehe man von einem Hilfsvolumen von rund 3,5 Millionen Euro bis 2024 aus.
Die Colonia Dignidad war 1961 rund 350 Kilometer südlich von Santiago de Chile von deutschen Auswanderern aus Siegburg bei Bonn gegründet worden. In der Kolonie kam es unter ihrem Leiter Paul Schäfer (1921 – 2010) jahrzehntelang zu Folter, Zwangsarbeit und Kindesmissbrauch. In den 1980er und 1990er Jahren wurden in Deutschland drei Ermittlungsverfahren gegen Paul Schäfer und weitere Angehörige der Colonia Dignidad eingeleitet. Diese Ermittlungen führten aber weder zu einem Prozess noch zu einem Haftbefehl. Erst 2005 wurde Schäfer in Argentinien festgenommen, nachdem er acht Jahre lang untergetaucht war. 2006 wurde er von einem chilenischen Gericht wegen sexuellen Kindesmissbrauchs in 25 Fällen für schuldig befunden und zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren verurteilt, er starb mit 88 Jahren im Gefängniskrankenhaus.
Paul Schäfer, 1921 in Bonn geboren und in Troisdorf aufgewachsen, arbeitete nach dem Krieg als Jugendpfleger in der evangelischen Kirche. 1950 wurde er als Troisdorfer CVJM-Jugendleiter entlassen, nachdem Vorwürfe wegen Kindesmissbrauchs laut geworden waren, ein Prozess fand aber nicht statt. Nach der Kündigung verließ Schäfer für eine Weile das Rheinland und unterstützte im münsterländischen Gronau den fundamentalistischen Flügel einer Baptistengemeinde. Diese Gemeinde befand sich gerade in einem theologischen Richtungsstreit. Ihr junger Prediger Hugo Baar predigte ein baldiges Endgericht Gottes, er soll auch „Teufelsaustreibungen“ durchgeführt haben, was einige kritisierten. Die charismatische Persönlichkeit Schäfers faszinierte den jungen Baptistenpastor, und die beiden führten gemeinsame Projekte durch. Im Jahr 1957 wurde der Pastor wegen theologischer Lehrstreitigkeiten aus der Baptistengemeinde ausgeschlossen, etwa 100 der rund 300 Mitglieder folgten ihm. Mit seinen Anhängern zog er in die Nähe von Siegburg, wo Schäfer dabei war, ein neues geistliches Zentrum zu errichten, die „Private Sociale Mission“. In Lohmar-Heide bei Siegburg entstand 1958 ein Gemeinschaftshaus und ein sogenanntes „Jugendheim“ von Schäfer.
Hinter den Mauern des angeblichen Waisenhauses begann eine Schreckensherrschaft. Die Sektenmitglieder mussten Schäfer intimste Details beichten, ihre familiären Bindungen aufgeben und wurden auch finanziell ausgebeutet. Das Haus in Heide wurde mit Hunden bewacht, um eine Flucht zu verhindern. 1961 wurde ein Haftbefehl gegen Schäfer wegen Kindesmissbrauchs erlassen, über den er aber informiert wurde. Er und über 200 Mitglieder der Sekte verließen über Nacht Deutschland in Richtung Chile, bevor der Haftbefehl vollstreckt werden konnte. Den Eltern einiger Kinder wurde eine Chorfahrt vorgespielt. Schäfers Startkapital für die „Kolonie der Würde“ kam von der Bundeswehr, die das Haus in Heide für 900 000 D-Mark kaufte und darin den Generalarzt der Luftwaffe unterbrachte. Die „Private Sociale Mission“ konnte bis 1989 in Siegburg über ihre Läden Geld einnehmen und nach Chile transferieren, sie soll auch im Waffenhandel aktiv gewesen sein. Als Verein wurde sie erst im Jahr 1995 abgemeldet.
Nach Angaben der Kommission leben heute noch rund 240 ehemalige Mitglieder der Sekte, davon 80 in Deutschland. Mit den Mitteln des Hilfsfonds sollen nicht nur Opfer finanziell entschädigt, sondern auch Beratungsstellen eingerichtet werden. Mit der organisatorischen Umsetzung soll die Internationale Organisation für Migration (IOM) beauftragt werden, da sie bereits Erfahrung im Umgang mit traumatisierten Menschen hat.
Kürzlich ist bekannt geworden, dass die Ermittlungen in Deutschland gegen Hartmut Hopp eingestellt worden sind. Er war einst Arzt der berüchtigten Sekte. Es habe sich trotz erheblichen Aufwands kein hinreichender Tatverdacht ergeben, teilte die Staatsanwaltschaft Krefeld mit. Eine Opferanwältin hat aber bereits Beschwerde gegen die Einstellung der Ermittlungen angekündigt.