Orientalische Christen in Deutschland
Zur Befindlichkeit einer Minderheit innerhalb der Minderheit
In Deutschland existieren aufgrund der Migration der Christen aus dem Orient bundesweit Institutionen der orientalischen Christenheit. Die erste große Welle christlicher Migranten nach Deutschland kam im Zuge der sogenannten Gastarbeiterbewegung und hatte alsbald die Gründung eigener Gemeinden und schließlich auch eigener Diözesen aller wichtigen Kirchen des Orients zur Folge. Daneben kamen christlich-orientalische Flüchtlinge katholischer Prägung (Chaldäer, Maroniten, Syrisch-Katholische, auch Syrianer genannt, Armenisch-Katholische, wenige Koptisch-Katholische, auch katholische Äthiopier und Eritreer) und protestantischer Prägung (sie sind vorrangig in den protestantisch-arabischen Gemeinden organisiert). Längst etabliert haben sich Diözesen
- der Syrisch-Orthodoxen Kirche (Sitz am Kloster in Warburg),
- der Armenisch-Orthodoxen Kirche (Sitz des Erzbischofs in Köln),
- der Assyrischen Apostolischen Kirche des Ostens (der Bischof dieser Kirche residiert in Schweden),
- der Koptisch-Orthodoxen Kirche (der Bischof residiert im Kloster in Höxter-Brenkhausen in Nordrhein-Westfalen, ein zweiter Bischof am Kloster Kröffelbach in Hessen),
- der Eritreisch-Orthodoxen Kirche (der Bischof residiert in Frankfurt),
- der Äthiopisch-Orthodoxen Kirche (der leitende Geistliche hat seinen Sitz in Köln),
- der Indisch-Orthodoxen Kirche (erwachsen aus Gemeinden von in Deutschland tätigen Krankenschwestern).
Seit der jüngsten Migrantenwelle verfügt auch die Rum-Orthodoxe Kirche von Antiochia (Verbreitung ursprünglich besonders in Syrien und dem Libanon) über einen Bischof in Deutschland, dessen Sitz in Köln ist.
Herausforderungen in Deutschland
Manche dieser Kirchengemeinschaften haben mit inneren Spaltungen zu kämpfen. Deren Ursachen liegen oft in der Entwicklung der Heimatkirche, nicht selten geht es um intern strittige politische Optionen (z. B sorgt die Entfernung von Patriarchen aus ihrem Amt aufgrund veränderter politischer Lage bei Äthiopiern und Eritreern für Spannungen und auch Spaltungen). In der Syrisch-Orthodoxen Kirche konnten innere Spaltungen innerhalb der deutschen Migrationskirche erst in den letzten Jahren unter Leitung des neuen Bischofs in Warburg überwunden werden. Hinzu kommt, dass auch die Säkularisierung zu schaffen macht. Der Anteil der nicht wirklich kirchlich gebundenen Armenier beispielsweise ist mindestens so hoch wie der der Armenier, die registrierte Mitglieder der armenischen Kirchengemeinden sind.
Alle Kirchen der orientalischen Orthodoxie befinden sich in der einen oder anderen Weise noch im Prozess des Aufbaus ihrer Diözesen in Deutschland, suchen immer noch Kirchengebäude befreundeter Kirchen in Deutschland zu übernehmen, die diese nicht mehr brauchen oder gastweise ihren orientalisch-orthodoxen Geschwisterkirchen zur Verfügung stellen. Es gibt keine theologische Ausbildung für Amtsträger dieser Kirchen an einer deutschen theologischen Fakultät (wie dies seit Kurzem etwa in Österreich an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität in Salzburg für die syrischsprachigen Theologen möglich ist). Nur wenige Partnerschaften zwischen deutschen protestantischen Kirchen und orientalischen orthodoxen Kirchen existieren, die ein Anknüpfungspunkt bei der Integration der orientalisch-orthodoxen Migranten sein könnten (in Baden-Württemberg besteht in Blaubeuren eine Partnerschaftsbeziehung nach Hassake, in Kurhessen-Waldeck eine zum rum-orthodoxen Patriarchat).
Grundsätzlich fällt auf, dass selbst Kirchen, die lange in Deutschland etabliert sind, mit ihren Ansichten etwa zur Migrantenfrage nicht immer einen leichten Stand haben. Einige dieser Kirchen haben eine Migrationswelle hinter sich, die ihre Herkunftsregion praktisch von Christen entleert hat. Die syrisch-orthodoxen Christen aus dem Tur Abdin (im Südosten der Türkei) z. B. gingen fast geschlossen in die Migration. Während in Deutschland und Schweden jeweils ca. 100 000 syrisch-orthodoxe Gläubige leben, leben in ihrer alten Heimat heute noch bestenfalls 2000 bis 3000. In Deutschland siedeln die syrisch-orthodoxen Gemeinden oft noch gemäß den Dorfverbänden aus der Heimat und haben meist ältere Priester aus der eigenen Dorfbevölkerung. Der fast völlige Verlust der Christen in ihrer Herkunftsregion hat auch mit sich gebracht, dass die kleinen Gemeinden, die in der Türkei oder im Libanon verblieben, sich zwar für ankommende christliche Migranten aus ihren Kirchengemeinden in Syrien und im Irak engagierten, aber realisieren mussten, dass diese Arbeit ihre Möglichkeiten weit überschritt. Zahlreiche Familien der vorangehenden Migrantengeneration sorgten, wenn sie sich dazu in der Lage fühlten, für den Nachzug ihrer vom Krieg in Syrien und im Irak bedrohten Verwandten. Die Gemeinden der Assyrischen Apostolischen Kirche des Ostens wuchsen prozentual besonders stark an. Die kirchlichen Strukturen bleiben aber weit hinter den Notwendigkeiten zurück. Was in den einzelnen Kirchen zur Integration der Migranten in die deutsche Gesellschaft geleistet wurde und wird, ist dennoch nicht zu unterschätzen. Wo Migranten am gottesdienstlichen Leben ihrer eigenen Kirchengemeinschaft teilnehmen können, in der eigenen Sprache (Syrisch, Arabisch, Armenisch), da wird schon allein dadurch ein Schritt zur emotionalen Sicherheit der verunsicherten Flüchtlinge geleistet und zugleich ein Weg in die deutsche Gesellschaft an der Seite der etablierten Migrationskirchen gezeigt.
Die Verunsicherung der christlich-orientalischen Migranten hat mehrere Ursachen. Manche von ihnen beunruhigt die Gegenwart und teilweise unübersehbare Rolle des Islam in Deutschland. Immer wieder gibt es Stimmen orientalischer Christen, die meinen, die Deutschen davor warnen zu müssen, dass ihr Land Gefahr laufe, von den Muslimen übernommen zu werden, und sie fragen sich, was es für sie, die oft einer religiös legitimierten Stellung als Staatsbürger zweiter Klasse zu entkommen trachten (das ist meist keine Frage der Verfassung, sondern der Rechtswirklichkeit in den Herkunftsländern und der sozialen Marginalisierung in den Herkunftsgesellschaften), bedeutet, wenn hier in Deutschland Muslime so klar Positionen beziehen, die ihnen aus ihrer oft nur als Unterdrückungsgeschichte zu charakterisierenden Vergangenheit geläufig sind. Dass es sich nicht nur um unbegründete Befürchtungen handelt, ist Insidern schon lange bekannt.
Ein willkommenes Opfer
Die erfolgreiche Journalistin (Die Zeit, Spiegel Online), Fernsehredakteurin (bis 2008 beim ZDF für das Fernsehmagazin Frontal 21) und Schriftstellerin Güner Yasemin Balci etwa legte mit „Arabboy. Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid A.“ (Frankfurt a. M. 2008) ein auch diese Thematik aufgreifendes Buch vor. Die Eltern (Aleviten) der 1975 in Berlin-Neukölln geborenen Balci waren in den 1960er aus einem ostanatolischen Dorf nach Deutschland eingewandert. Die studierte Erziehungs- und Literaturwissenschaftlerin arbeitete mit türkischen und arabischen Jugendlichen im Modellprojekt „Kiezorientierte Gewalt- und Kriminalitätsprävention“ im Rollbergviertel des Berliner Stadtteils Neukölln und im Mädchentreff MaDonna. Balci fühlt sich unbehaglich, wenn sie als „Türkin“ identifiziert wird. Ihre Muttersprache sei Deutsch. Der Vater arbeitete als Taxifahrer, die Mutter als Raumpflegerin. Die Rückkehr in die Türkei schien ausgemacht, doch schließlich blieb die Familie in Deutschland. Der Zuzug arabischer Migranten habe das Leben auch der türkischen Migranten verändert.
„Arabboy“ handelt von der Desorientiertheit eines türkischstämmigen libanesisch-arabischen Jungen (Rashid), der sich u. a. über Gewaltausübung verwirklicht. Nach seiner Verhaftung wird er in die Türkei abgeschoben, wo seine Integration wiederum scheitert.
An prominenter Stelle in dem Roman kommt es zu einer Begegnung zwischen dem Titelhelden und einem syrisch-orthodoxen „Gegenspieler“, der dieselbe Schulklasse besucht. Nachdem der Schauplatz, ein Parkplatz vor einem Supermarkt mit mehreren Fluchtwegen für den Fall einer unliebsamen Überraschung, gewählt ist und den einzelnen Mitgliedern der um Rashid sich sammelnden Gang ihre Aufgaben für die Begegnung zugeteilt sind, wird der Kontrahent über Handy zum Schauplatz des Geschehens gerufen. „Der Gegner kam nach zwanzig Minuten. Es war Jakub, ein syrisch-orthodoxer Junge aus Rashids Schule. Mit ihm hatte Rashid eine Rechnung offen. In der letzten Schulpause hatte Jakub wiederum nicht den Blick gesenkt, wenn er an Rashid vorbeiging, obwohl der es ihm schon so oft befohlen hatte. Jakub bekam Magenschmerzen, wenn es zur Pause klingelte. Er würde am liebsten immer im Schulgebäude bleiben, um vor Rashid sicher zu sein. Aber selbst in den Fluren konnte es passieren, dass Rashid ihm auflauerte, um ihn zu beleidigen, zu treten und ihm ins Gesicht zu spucken. ‚Du bist ein Jude, du Hund! Du hast einen Judennamen‘, beschimpfte Rashid ihn dann. Dass Jakub wieder und wieder beteuerte, er sei kein Jude, änderte nichts. Rashid hörte nicht, er war froh, in Jakub ein Opfer gefunden zu haben, an dem er seinen Hass auslassen konnte“ (Balci, 51f).
Jakubs Versuche, sich von den Juden religiös abzusetzen und sich womöglich gar aufgrund seines Christseins an die Seite der religiösen Mehrheit in Deutschland zu katapultieren, verfangen nicht. Rashid macht keine Unterschiede hinsichtlich der vermeintlichen Opfer (Juden und Christen) hier und dort. Im Wirkungsfeld der Gewalt führt die Linie zu direkter Gleichsetzung der vom Völkermord heimgesuchten syrisch-orthodoxen Christen zur Schoa der Juden. Balci schildert die psychische Not des Angegangenen und die gruppendynamische Verstärkung der Gewalt. Die deutsche Gesellschaft partizipiert bei ihr am Konflikt lediglich durch Wegschauen.
Die Brisanz des Romans: Nach Aussage der Autorin ist er nicht frei erfunden, sondern der Versuch, ihr reales Erleben als Sozialarbeiterin wiederzugeben. Der Titelheld sei ein Junge aus ihrem Viertel (Balci, 19). Für seine Familie und sein soziales Umfeld sei „alles Deutsche“ lediglich „verachtenswert“ gewesen. Damit erhebt die Autorin den Anspruch, dass es sich nicht um einen Roman handele, sondern sie sieht ihr Werk lediglich in Parallele zu einem solchen: „Ich habe mich entschieden, die Geschichte von Rashid und seinen Freunden wie einen Roman zu schreiben. Alle Namen der hier auftretenden Personen habe ich geändert; manche habe ich mit anderen Attributen ausgestattet; Schauplätze habe ich in andere Straßen von Neukölln verlegt“ (Balci, 20).
Konfliktstrukturen aufbrechen
Fraglos setzen sich auf deutschem Boden Konfliktstrukturen aus den Herkunftsregionen fort. Zum Beispiel erfahren in der deutschen Gesellschaft Armenier (weniger die Aramäer und Assyrer) nicht nur, dass sie als Überlebende des Völkermords bei türkischstämmigen Mitbürgern auf Leugnung des ihnen widerfahrenen Leids stoßen, sondern auch, dass ihnen von dieser Seite ganz grundsätzlich mit massiven Vorbehalten begegnet wird. (Es ist durchaus fraglich, ob solche Konflikte überhaupt primär als religiös zu betrachten sind.) Der Aufenthalt in der deutschen Gesellschaft könnte zur Überwindung solcher Konfliktstrukturen beitragen. Das allerdings setzt deutsche Akteure voraus, die um die Geschichte und die historisch gewachsene Rolle der Christen in den orientalischen Gesellschaften wissen.
Wer auf die Stimmen der christlich-orientalischen Migranten hört, wird einer großen Vielfalt begegnen: Gegnern und Anhängern von Assad, Liberalen und Konservativen, Menschen, die meinen, hier in eine Wertegemeinschaft zu kommen, der auch sie sich zugehörig fühlen, und Menschen, denen die moralische Freizügigkeit hier eine Anfechtung ist. Dass Christen im Orient oft die Nähe der Herrschaft suchen mussten, um eine halbwegs sichere Existenz führen zu können, hat zu Anfragen an ihre Loyalität seitens mancher Muslime geführt, die dabei außer Acht lassen, dass die Christen sich oft zu solchen Verhaltensweisen aufgrund der ihnen gesellschaftlich entgegengebrachten Repression oder Marginalisierung genötigt sahen. Es gab und gibt da auch Christen, die das Leben in Vierteln nur für Christen zu gelungener Koexistenz mit ihren muslimischen Mitbürgern idealisieren und die Ursachen für diese Fragmentierung orientalischer Gesellschaften nicht mehr im Blick haben.
Was aus Flüchtlingslagern zu Konflikten zu hören ist, kann leicht zerredet werden und mag auch zuweilen strittig sein, aber wer die konfliktive Tiefenstruktur historischer Erfahrung der Minderheiten im Orient zur Erschließung ihrer Koexistenz mit Muslimen zulässt, der findet eben auch Herausforderungen zu einem Handeln, das bewusst diesen Faktor ins Kalkül ziehen und auf Dauer etwa für Aufklärung sorgen muss, damit das Wissen um Völkermorde oder um religiöse Dominanz im Orient zum Bildungsgut wird, das Schneisen zu einem entkrampfteren Miteinander wenigstens hier in Deutschland zu bahnen hilft. Von selbst geschieht das nicht.
Martin Tamcke
Im Dezemberheft des MD wird sich ein weiterer Beitrag dem Thema orientalische Gemeinden / christliche Flüchtlinge widmen.