OVG-Urteil: Islamische Verbände sind keine Religionsgemeinschaften
Die beiden islamischen Dachverbände Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) und Islamrat für die Bundesrepublik Deutschland (IRD) sind keine Religionsgemeinschaften im Sinne des Grundgesetzes. Sie haben „keinen Anspruch gegen das Land Nordrhein-Westfalen auf allgemeine Einführung islamischen Religionsunterrichts an öffentlichen Schulen“. So urteilte das Oberverwaltungsgericht (OVG) Münster laut Pressemitteilung am 9.11.2017. Der Richterspruch war mit Spannung erwartet worden, da er einen fast 20 Jahre andauernden Rechtsstreit (vorläufig) beendet. Schon 1998 hatten IRD und ZMD gegen das Land Nordrhein-Westfalen geklagt. 2005 verwies das Bundesverwaltungsgericht den Fall zurück nach Münster.
Die beiden Verbände wollen islamischen Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach einführen. Einen Islamunterricht nach dem Beiratsmodell gibt es in Nordrhein-Westfalen seit 2012. Die Regelungen des Modellversuchs sind bis 2019 befristet. Die Verbände sind zwar in dem vom Staat eingerichteten Beirat auch vertreten und üben so jetzt schon Einfluss auf den Unterricht aus, allerdings neben staatlich eingesetzten Personen, die über die Lehrinhalte mitbestimmen, nicht als alleinige Ansprechpartner des Landes. Das OVG hat keine Revision zugelassen (dagegen kann Beschwerde erhoben werden).
ZMD und IRD erfüllten nicht alle (vier) Kriterien einer Religionsgemeinschaft, wurde der Vorsitzende Richter zitiert. So müsse in der Satzung die notwendige Sachautorität und -kompetenz für identitätsstiftende religiöse Aufgaben verankert sein und die religiöse Autorität des Verbandes in der gesamten Gemeinschaft bis zu den Moscheegemeinden reale Geltung haben. Das Gericht sah diese Voraussetzungen bei beiden Verbänden nicht gegeben.
Die Entscheidung fällt in eine Zeit, in der die islamischen Verbände Gegenstand äußerst kontroverser Debatten sind. Ende 2015 hatten Cem Özdemir und Volker Beck (Grüne) die Verbände als religiöse Vereine bezeichnet, die national, politisch oder sprachlich, nicht aber bekenntnisförmig geprägt seien. Seit dem Putschversuch in der Türkei 2016 und den Folgen ist in vielen Dialogbeziehungen Vertrauen verloren gegangen, der enorme Einfluss ausländischer Akteure macht sich im Umfeld von DITIB besonders negativ bemerkbar. Der Koordinationsrat der Muslime (KRM) gilt als weitgehend gescheitert. So sieht es auch Lamya Kaddor, Mitgründerin des Liberal-Islamischen Bundes, die das OVG-Urteil begrüßte und sich gegen die Anerkennung einzelner islamischer Verbände als Religionsgemeinschaft aussprach. Ein solcher Weg institutionalisiere nur die Zersplitterung des Islam. Es fehle auch an explizit liberalen Einstellungen.
Für die klagenden Verbände ist der Urteilsspruch eine herbe Enttäuschung. Mehrere Gutachten hätten zuvor bestätigt, dass die Verbände Religionsgemeinschaften seien. Es sei der Islam in seiner besonderen Verfasstheit nicht verstanden worden. Das Gericht habe der (antimuslimischen) „Stimmung im Land nachgegeben“, legt die Überschrift des ZMD nahe. Vor allem seien Chancen vertan worden, ein juristisch solides Modell des islamischen Religionsunterrichts zu schaffen „und die Institutionalisierung der islamischen Religionsgemeinschaften zu beschleunigen“ (IRD). „Heute wurde eine Chance verpasst, Muslime zu integrieren“, so Burhan Kesici, Vorsitzender des IRD, im Gespräch mit der Neuen Osnabrücker Zeitung.
Es erstaunt, dass die betroffenen Verbände in einem 20 Jahre dauernden Verfahren sich offenbar wenig Klarheit verschafft haben über die Rolle der Gerichte, des Staates und ihre eigene Rolle. Die Institutionalisierung der Muslime ist mitnichten Aufgabe des Gerichts, ebenso wenig ihre Integration. Grundsätzlich wird vonseiten des Gerichts auch gar nicht (bzw. nicht mehr) infrage gestellt, dass auch Dachverbände Religionsgemeinschaften sein können, vielmehr wurden schon 2005 konkrete Bedingungen genannt, die erfüllt werden mussten und durchaus erfüllbar waren. Religionsgemeinschaften organisieren sich allerdings ausschließlich selbst. Es scheint also eher an den Verbänden selbst zu liegen, dass der Fall so ausging. Ob das Scheitern vor dem OVG mit darauf zurückzuführen ist, dass einige Verbände den Anspruch auf Anerkennung als Religionsgemeinschaft faktisch aufgegeben hätten, weil sie offensichtlich vorrangig Politik für die türkische Regierung machten (so Volker Beck), bleibt vorerst Spekulation.
Die Haltung der Verbände kritisiert auch scharf und mit juristischen Erläuterungen Murat Kayman, selbst bis Februar 2017 Syndikusanwalt der DITIB und Koordinator der DITIB-Landesverbände, seither aber aus allen repräsentativen Tätigkeiten entfernt, als hoher Funktionär ein ausgesprochener Kenner der Lage. In einem ausführlichen Blogkommentar (http://murat-kayman.de/2017/11/11/woran-es-gelegen-hat) betont er, das Ergebnis sei angesichts der tatsächlichen und rechtlichen Ausgangslage unausweichlich gewesen, da die Verbände nichts getan hätten, die („ziemlich niedrigen“) rechtlichen Hürden für eine positive zweite Prüfung zu überwinden. Kayman bewertet die Wirkung des Urteils am Ende seines Beitrags so: „In allen Bundesländern sind die bestehenden Gutachten zu den Verbänden faktisch entwertet worden. Alle existierenden Kooperationen mit staatlichen Stellen stehen auf dem Prüfstand. Die Beiräte an Universitäten und zum Islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen werden sich deutlich verändern.“
Unabhängig vom konkreten Fall sorgt der Begriff der „Anerkennung“ immer wieder für Irritationen. Anders als in anderen Ländern (z. B. Österreich) gibt es in Deutschland keine formale Anerkennung von Religionsgemeinschaften durch staatliche Behörden. Religionsgemeinschaften organisieren sich selbst und bedürfen für die private oder öffentliche religiöse Betätigung keiner staatlichen Anerkennung. Will allerdings eine Gemeinschaft die grundgesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten und Rechte einer Religionsgemeinschaft wahrnehmen (Selbstbestimmungsrecht sowie die Möglichkeit, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen oder die Grundsätze des Religionsunterrichts festzulegen), so muss geprüft werden, ob sie die Voraussetzungen hierfür erfüllt, ob also eine Vereinigung als Religionsgemeinschaft zu qualifizieren ist. In dieser Hinsicht kommt es häufig zur Anwendung von Formulierungen, die von einer „Anerkennung“ als Religionsgemeinschaft sprechen.
Vier Merkmale sind aus der Verfassung hergeleitet worden, die erfüllt sein müssen, um eine Vereinigung als Religionsgemeinschaft zu qualifizieren (Heinrich de Wall): 1. Personales Substrat: Die für die Identität einer Religionsgemeinschaft wesentlichen Aufgaben müssen auch auf der Dachverbandsebene wahrgenommen werden (also von Menschen, nicht nur von juristischen Personen). 2. Dauerhaftigkeit und eine organisatorische Struktur, die eine eigenständige Willensbildung der Gemeinschaft gewährleistet und die Gemeinschaft gegenüber anderen (z. B. Staat) zu vertreten berechtigt und in der Lage ist. 3. Die Pflege einer bestimmten Religion (etwa Berufung auf Koran und Sunna) muss gegenüber den (durchaus möglichen anderen) Zwecken etwa der Kultur- und Brauchtumspflege den eigentlichen Schwerpunkt der Tätigkeit bilden. 4. Allseitige Erfüllung der durch das Bekenntnis gestellten Aufgaben: Anders als ein religiöser Verein widmet sich eine Religionsgemeinschaft nicht nur Teilaspekten des religiösen Lebens, sondern diesem umfassend.
Friedmann Eißler
Pressemitteilung des OVG Münster:
www.ovg.nrw.de/behoerde/presse/pressemitteilungen/50_171109/index.php, Aktenzeichen: 19 A 997/02 (I. Instanz: VG Düsseldorf 1 K 10519/98)