Pandemie, Seelsorge und Denkmäler
Setzt die Kirche von England auf die richtigen Prioritäten?
In Großbritannien tobt mitten in der Corona-Zeit ein Kulturkampf um die eigene Geschichte und die Säuberung des nationalen Erbes von Kunstwerken mit „umstrittener“ Herkunft. Auch die englische Staatskirche widmet sich dieser Bereinigung. Unter anderem sollte eine Marmorstatue von Tobias Rustat aus einer Universitätskapelle in Cambridge entfernt werden. Rustat (1608 – 1694) hatte zu Lebzeiten aus seinem teilweise durch Sklavenhandel erworbenen Vermögen der Universität immer wieder große Schenkungen gemacht. Das Vorhaben der Denkmalsentfernung löste vehemente Diskussionen nicht nur unter Denkmalschützern, in der Universität und der Kirche, sondern in der gesamten britischen Öffentlichkeit aus. Der anglikanische Gemeindepfarrer Daniel French bezieht zu den dahinterstehenden Fragen Stellung.
Die Kirche von England hat wieder einmal die Stimmung im Land missverstanden. Diese Woche veröffentlichte sie eine Handreichung, in der sie 12 500 Pfarreien und 42 Kathedralen auffordert, anstößige Artefakte von „umstrittener Herkunft“ zu suchen, zu überprüfen und zu entfernen. Den Rahmen setzt ein Aufruf von Justin Welby, Erzbischof von Canterbury, kirchliche Statuen zu überprüfen. Natürlich muss man Rassismus ernst nehmen, aber ich bezweifle, dass ich der einzige Pfarrer war, der laut aufstöhnte, als er von dieser Entwicklung hörte.
Die Anweisung ist sowohl ein Zugeständnis an die Vertreter einer spalterischen Identitätspolitik als auch eine Ablenkung von weit dringenderen Themen, mit denen die Kirche sich befassen sollte. Covid hat ungeheures Elend und Leid über Britannien gebracht, wobei die Kirche die Chance hatte, im ganzen Land eine führende Rolle bei der Überwindung von Spaltungen und der Ermutigung zur Zuversicht zu spielen. Anstatt diese Chance zu nutzen, hat man wertvolle Zeit, Energie und Ressourcen auf diese irregeleitete Aneignung der „Critical Race Theory“ verschwendet. Becky Clark, die für die Kirchengebäude und die Kathedralen der Church of England zuständig ist, erklärte im Radio, es gehe darum, dass „sich alle in unseren Kirchen willkommen fühlen“. Solche Platitüden sind überflüssig: In 25 Jahren Amtsjahren habe ich noch nie von einem Gemeindeglied gehört, das sich wegen eines Denkmals unwillkommen gefühlt hat.
Es ist besonders ärgerlich, dass die Handreichung offenbar diametral der christlichen Kernbotschaft von der Vergebung widerspricht. Es kann schon sein, dass in meiner Gemeinde Denkmäler für zweifelhafte Herzöge, fiese Adlige und räuberische Freibeuter stehen, die aus Sklaverei und Kolonialexzessen Profit geschlagen haben. Eine oberflächliche Überprüfung würde sie möglicherweise auf die Schwarze Liste setzen. Aber kann man eigentlich wissen, ob sie sich um Wiedergutmachung bemüht, Abbitte geleistet oder auch nur eine „Last-minute“-Beichte abgelegt haben? Wie könnte ich über etwas richten, was vor Jahrhunderten geschah, ganz zu schweigen von dem, was tief im Herzens dieser Menschen vor sich ging? Wer soll hier überhaupt Richter sein? Sie werden posthum und ohne die Chance sich zu rechtfertigen vor Gericht gestellt.
Unter dem Druck, eine Liste abzuarbeiten, wäre es allzu einfach, geschwind ein Denkmal abzuräumen und Personen aus der Geschichte zu tilgen, ohne alle Fakten zu prüfen. Das widerspricht der kirchlichen Lehre, nicht nur zu vergeben, sondern auch das Beste im Menschen zu sehen. Was ist mit dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagten“? Nichts im Leben ist jemals schwarz oder weiß. Und wohin soll uns diese Identitätspolitik bringen? Wer weiß schon, ob sich die Liste der Unerwünschten auf geschichtliche Personen beschränken wird, die in Kolonialismus und Sklaverei involviert waren? Vielleicht wird sie um jene erweitert, die nach unserem Urteil Charakterfehler besaßen oder moralische Verfehlungen begangen haben? Wenn der Wind des Wandels erst einmal weht, ist er schwer aufzuhalten. Es ist zum Beispiel nicht undenkbar, dass sich eine so starke Dynamik entwickelt, dass man in Kirchen jeglichen Bezug auf historische Gestalten auslöscht, die wir heute der Frauenfeindlichkeit oder Homophobie anklagen würden. Bei solcher schleichenden Ausweitung ist kaum abzusehen, wer übrig bliebe. Die Mehrzahl unserer berühmtesten Briten würde durchfallen. Das schlösse 1000 Jahre königlicher Geschichte ein. Im Kapitelsaal von Canterbury Cathedral gibt es ein ziemlich markantes Glasfenster von Heinrich VIII – vielleicht könnte an dieser Stelle eine „Überprüfung“ den Stein ins Rollen bringen.
Die Geschichte zeigt, dass sogar harmlosere Formen von Bilderstürmerei dunkleren Entwicklungen den Weg bereiten können. Man muss nicht mit den Feinheiten des Culte de la Raison [Kult der Vernunft] in der Französischen Revolution vertraut sein, um zu erkennen, wie banale Bürokratie in Zerstörungsorgien umschlagen kann. Wollen Anglikaner einem zerstörerischen Mob ohne Schranken grünes Licht geben? Wenn das alarmistisch klingt, dann kann ein Blick in viele unserer Universitäten zeigen, in welche Abgründe unser vornehm-gesitteter Anglikanismus geraten könnte. Traurigerweise ist die sich im Niedergang befindliche Episcopal Church in Amerika bereits dort angelangt, und Freunde berichten von einem beklemmenden Klima der Angst um jeden, der es in Erwägung zieht, die roten Linien der neuen Orthodoxien zu überschreiten.
Selbst wenn man die falsche Annahme teilte, dass Kirchen ihre Denkmäler überprüfen sollten: Werden kirchliche Ressourcen wirklich auf die beste Weise genutzt, wenn man sie einsetzt, um Verfehlungen historischer Personen auszugraben? Nach der Trostlosigkeit der Pandemie sollten wir die verwundeten und trauernden Gemeinden unterstützen. Das betrifft insbesondere die Frage der seelischen Gesundheit. Jugendliche und junge Erwachsene haben den größten Schaden davongetragen, und sie brauchen dringend unsere Anleitung, Hilfe und Unterstützung. Die Kirche kann keine Ablenkungsprojekte gebrauchen, schon gar nicht solch irregeleitete wie dieses.
Ein Teil von mir ist so frustriert, dass ich am liebsten ins Auto spränge, nach London führe und den erstbesten in Lambeth Palace [Sitz des Erzbischofs von Canterbury] herumhängenden Prälaten fragte: „Wo soll ich Ihrer Ansicht nach meine Kraft einsetzen? Soll ich das nächste Jahr damit verbringen, mit einem Notizblock durch meine vier Kirchen zu ziehen, um vergessene Grabsteine und Statuen zu beurteilen? Oder soll ich mich mit den unendlich vielen Menschen beschäftigen, die sich online bei mir melden, um nach geistlicher Begleitung zu fragen? Beides geht realistischerweise nicht.“ Die Ironie der Geschichte ist obendrein, dass ein Bericht der Generalsynode kürzlich die Angst vor Burnout aufgrund von Überforderung als eine Hauptsorge des Klerus identifizierte. Wie soll eigentlich die jetzige Handreichung hierbei helfen?
Um die sehr wenigen Beispiele völlig inakzeptabler Denkmäler sollte man sich kümmern, wenn es unbedingt nötig ist, vor Ort und unter Einsatz von gesundem Menschenverstand. Dazu braucht man keine zentralen Vorgaben. Die Öffentlichkeit wird es der Kirche nicht nachsehen, wenn sie sich jetzt auf irgendein linksaußen angesiedeltes ideologisches Projekt einlässt. Wenn wir das tun und dabei in beschämender Weise diejenigen im Stich lassen, die in der gegenwärtigen Krise leiden, werfen wir die Vernunft und ein gesundes Abwägen aus den farbigen Kirchenfenstern. Unsere Gemeinden werden die Geprellten sein.
Daniel French, Salcombe (Devon), 11.11.2021
Anmerkungen
- Erstveröffentlichung: Stone deaf, in: The Spectator, 15.5.2021, 26f. Übersetzung: Kai Funkschmidt, Abdruck mit freundlicher Genehmigung. Der Autor Daniel French schreibt regelmäßig für den „Spectator“.