Paul Schäfer, das Über-Ich der Colonia Dignidad, ist tot
(Letzter Bericht: 5/2010, 180ff) Der Gründer der Gemeinschaft „Colonia Dignidad“ (heute „Villa Baviera“), Paul Schäfer, ist am 24. April 2010 im Alter von 88 Jahren im Gefängniskrankenhaus von Santiago de Chile an einem Herzleiden gestorben. Einen Tag später wurde er im Stadtteil Puente Alto in Santiago beigesetzt. Dabei soll es zu Protesten von Anwohnern des Friedhofs gekommen sein. Laut Presseberichten skandierten sie „Mörder, Mörder“, als der Sarg aus der Kapelle getragen wurde, und bewarfen den Leichenwagen mit Erde. An der Bestattung sollen nur sieben Personen teilgenommen haben, darunter Schäfers Adoptivtochter Rebecca Schäfer sowie einige Getreue, die mit ihm in Argentinien untergetaucht waren. Auf dem Grab soll eine Steinplatte ohne Inschrift liegen.
Die Bewohner Villa Bavieras hatten sich auf den Tod Schäfers eingestellt. Gemeinsam war festgelegt worden, dass Schäfer nicht auf dem Friedhof der Gemeinschaft bestattet wird. Dies war wohl vor allem der Wunsch der jüngeren Generation, so Henning Freund, der im Januar dieses Jahres mit der Gemeinschaft über den möglichen Tod Schäfers gesprochen hatte. Der Pressesprecher von Villa Baviera, Martin Matthusen, der die verbliebenen Bewohner der ehemaligen Gemeinschaft Paul Schäfers vertritt, sagte laut Presseagentur dpa dem Radiosender Coopertiva: „Der Tod eines Menschen ist immer traurig, und was er in seinem Leben getan hat, ist in einem solchen Augenblick unwichtig.“ Es mache die Siedler jedoch traurig, dass Schäfer nie um Entschuldigung gebeten habe. Beim chilenischen Volk bitte die Siedlung erneut um Vergebung für alles Leid, das durch sie verursacht worden sei. Im Jahr 2005 wurde Schäfer in Argentinien gefasst, wo er 1997 mit einigen Getreuen untergetaucht war, um der chilenischen Strafverfolgung zu entgehen. Er wurde nach Chile überstellt und 2006 zu insgesamt 33 Jahren Haft verurteilt – wegen Kindesmissbrauchs in 25 Fällen, Körperverletzung, Verstoßes gegen das Waffengesetz, Mordes an einem Gefolgsmann der Militärdiktatur und wegen des Verschwindens eines linken Oppositionspolitikers.
Der chilenische Präsident Sebastián Piñera erklärte, dass durch den Tod Schäfers den Ermittlungen gegen ihn und die Siedlung „ein Riegel vorgeschoben“ werde, da gegen Tote nicht ermittelt werde. Er verwies auf die höhere Gerechtigkeit Gottes. Der Anwalt der Missbrauchsopfer, Hernan Fernandez, dagegen forderte die chilenische Justiz auf, die Ermittlungen gegen die Helfer Schäfers voranzutreiben. „Hier müssen endlich Urteile gefällt werden“, sagte er. Der Tod Schäfers sollte den „endgültigen Anstoß“ geben, Gerechtigkeit walten zu lassen. In der Tat ist die Situation aus juristischer Sicht unbefriedigend. Prozesse gegen die Gefolgsleute Schäfers stocken, während diese weiterhin in der Kolonie leben.
Paul Schäfer wurde am 4. Dezember 1921 in Troisdorf bei Bonn geboren. Über sein Leben vor der Gründung einer eigenen religiösen Gemeinschaft gibt es nur wenige, zum Teil widersprüchliche Angaben. Der detaillierte Artikel „The Torture Colony“ von Bruce Falconer in der renommierten Zeitschrift „The American Scholar“ aus dem Jahr 2008 (www.theamericanscho lar.org/the-torture-colony) gibt an, dass Schäfer als junger Mann ein Auge verlor, als er versuchte, ein Schuhband mit der Gabel zu lösen. Später behauptete Schäfer, sein Glasauge resultiere aus einer Kriegsverletzung. Er wollte angeblich zur SS, wurde aber wegen seines Glasauges abgelehnt. Laut Falconer war Schäfer im Krieg als Krankenpfleger in einem Feldlazarett in Frankreich eingesetzt.
Nach dem Krieg arbeitete er einige Zeit bei einer Freikirche mit Jugendlichen, wurde aber aufgrund von Missbrauchsvorwürfen entlassen. Er begann, als selbstständiger Prediger durchs Land zu ziehen. Der junge, charismatische Mann mit seiner Gitarre machte auf seine späteren Anhänger Eindruck. Innerhalb von wenigen Jahren hatte er mehrere hundert Menschen um sich geschart und gründete ein Heim für Kriegswitwen und ihre Kinder außerhalb von Troisdorf. Viele von ihnen waren Flüchtlinge aus ehemals ostdeutschen Gebieten. Diejenigen, die sich seiner Gemeinde anschlossen, verpflichteten sich, den zehnten Teil ihres Einkommens der Gemeinde zu geben und täglich ihre Sünden zu bekennen. Als zwei Mütter Schäfer wegen Missbrauchs ihrer Jungen anzeigten, floh er 1961 über den Mittleren Osten nach Chile. Vom Geld seiner Anhänger kaufte er ein etwa 1800 Hektar großes Stück Land. Mit zehn Deutschen begann er, eine Siedlung zu errichten. Ende 1963 kamen etwa 230 Glieder seiner deutschen Gemeinde in die frisch gegründete „Colonia Dignidad“ nach. 1966 und 1973 folgten in zwei Schüben weitere Angehörige der etwa 15 Familien, die den Stamm von Schäfers Anhängern ausmachten.
Schäfer führte die geschlossene Gemeinschaft diktatorisch in willkürlicher Alleinherrschaft. Durch seine enge Kontaktpflege mit ranghohen Politikern im In- und Ausland ist die Gemeinschaft bis heute in politische Zusammenhänge und Interessenlagen verwickelt.
Während der Militärdiktatur unter Pinochet arbeitete er mit dem chilenischen Geheimdienst zusammen, der auf dem Gelände der Kolonie Oppositionelle folterte und tötete.
Schäfers Tod wird es der in Villa Baviera verbliebenen Gemeinschaft und den ehemaligen Siedlern der Kolonie ermöglichen, Abstand von ihrer schrecklichen Geschichte zu gewinnen. Der Psychologe und Ethnologe Henning Freund erwartet, dass nun innerliche Prozesse der Vergangenheitsbewältigung angestoßen werden, die vorher durch den Schatten des „Über-Ichs“ Schäfer blockiert waren. Es bleibt zu hoffen, dass die Verbrechen juristisch aufgeklärt und die Strafen von den noch lebenden Schuldigen verbüßt werden. Für die Mitglieder der Gemeinschaft wird es ein mühsamer Weg bleiben, mit den Verletzungen zu leben.
Claudia Knepper